Máret Ánne Sara

Máret Ánne Sara, Pile o’ Sápmi—Shouts from the shit flood (2016), 150 Rentierköpfe, Klebeband, Plastiktorso, 220 × 150 × 150 cm

Máret Ánne Sara, Pile o’ Sápmi, 2017, verschiedene Materialien, Installationsansicht, Neue Neue Galerie (Neue Hauptpost), Kassel, documenta 14, Foto: Mathias Völzke

Als die Bewohner_innen der Stadt Tana in Sápmi (Nordnorwegen) am 1. Februar 2016 erwachten, fanden sie vor dem Bezirksgericht der Finnmark eine Pyramide aus 200 Rentierköpfen vor. An diesem Tag reichte Jovsset Ánte Sara Klage gegen den norwegischen Staat ein, um gegen die vom norwegischen Rentierhaltungsgesetz 2007 zwingend vorgeschriebene Tötung von Renen anzukämpfen. Die Begründung des jungen Rentierzüchters: Die standardisierte Reduktion der Herden käme einem Zwangskonkurs gleich.

Die Gemeinschaft der Sámi kämpft – nach Jahrhunderten der „Norwegisierung“ – um die Bewahrung ihrer Identität, die ihren Ausdruck in Sprache, Lebensgrundlage und Kultur findet. Die erzwungene Keulung trifft die jüngsten und kleinsten Rentierhalter_innen am stärksten. Sie stellen ein fragiles Bindeglied zu den Traditionen dar, deren Bewahrung den Sámi laut Gesetz gestattet ist. Pile o’ Sápmi wurde von Máret Ánne Sara als Kunstwerk konzipiert sowie als „erweiterte Kunstbewegung, die den Prozess meines Bruders begleitet – um auf den stattfindenden Kampf aufmerksam zu machen“. Sara, 1983 in Kvaløya in eine Familie von Rentierzüchter_inn en geboren, ist Gründerin des Künstlerkollektivs Kautokeino und gehört einer neuen Generation von Sámi-Künstler_innen an, die für die Rechte ihrer Gemeinschaft eintreten.

Pile o’ Sápmi verhandelt spirituelle, ökologische und politische Fragen. Es nimmt Bezug auf „Pile of Bones“ (Knochenberg), eine indigene Bezeichnung für den Ort, an dem das Volk der Cree Büffelknochen aufstapelte, um den Geist der Tiere an das Land zu binden. Damit sollte ihr Fortbestand im heutigen Westkanada sichergestellt werden. Gleichzeitig verweist die Künstlerin auf die brutale Kolonialgeschichte Nordamerikas, wo Knochenberge wie Trophäen von der blutigen Vernichtung der Büffel zeugten, mit der die indigenen Völker von ihrem Land vertrieben und in Reservate gepfercht wurden. Zudem wurden diese Knochen für die Produktion von feinem Porzellan verwendet – eine Tatsache, mit der sich Sara in ihrer jüngsten Arbeit auseinandersetzt.

Anpassungsfähigkeit und Rezyklierbarkeit als Grundprinzipien samischer Lebensweise zeigen sich auch im Umgang mit natürlichen Prozessen, die in Pile o’ Sápmi unterschiedliche Narrative entfalten. Während frisch geschlachtete Rentierköpfe unsere Nasen und Augen unsanft an Verwesungsprozesse erinnern, erzählen die Einschusslöcher in der Mitte der Schädel vom fehlenden Respekt des kolonialen Tötungsregimes für die Vorgehensweise indigener Gemeinschaften, die alle Teile der toten Tiere erhalten und verwertet hätten.

Máret Ánne Saras Bruder hat den Prozess übrigens gewonnen. Im Urteil wurde festgehalten, dass die Tötung der Tiere eine Verletzung seiner Eigentumsrechte gemäß Europäischer Menschenrechtskonvention darstellt. Die norwegische Regierung hat dagegen Berufung eingelegt.

— Katya García-Antón

Gepostet in Öffentliche Ausstellung
Auszug aus dem documenta 14: Daybook
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