Ich frage mich oft, was die Menschen meinen, wenn sie sagen, Kassel habe sich in den letzten beiden Jahren – während der sogenannten Flüchtlingskrise – verändert. Hat die Stadt an Vielfalt gewonnen? Sind soziale und kulturelle Grenzen in Bewegung geraten? Wie jene Grenze, symbolisiert durch die Kurt-Schumacher-Straße, die den Stadtteil Mitte von der Nordstadt trennt, wo zahlreiche türkische, äthiopische, bulgarische und andere Migrantengemeinschaften leben, die sich in den 1960er und 70er Jahren in Kassel niedergelassen haben. Oder liegt die Veränderung in der Angst, in den Appellen an populistische Fantasien, die rund um die Ankunft neuer Gemeinschaften große Ängste erzeugen, verkörpert durch Bewegungen wie die Alternative für Deutschland (AfD) mit ihrer extrem rechten Gesinnung?
Die libanesisch-niederländische Künstlerin Mounira Al Solh, 1978 in Beirut geboren, präsentiert auf der documenta 14 unter dem Titel „I Strongly Believe in Our Right to be Frivolous“ eine Serie von Porträts, die in der Begegnung mit Migrant_innen aus dem Nahen Osten und Nordafrika in Kassel und Athen (und anderen Städten) entstanden ist. Menschen, die gerade den Wandel vom Flüchtling zum Staatsbürger durchleben oder diesen Prozess bereits hinter sich haben.
Das Projekt, das Texte, Zeichnungen, Stickereien sowie eine Klanginstallation umfasst, startete 2012 in der Form von „Zeitdokumenten“ der Revolutionen und nachfolgenden Krisen in Syrien und im übrigen Nahen Osten. „I Strongly Believe …“ nähert sich dem Thema (erzwungener) Migration mittels der Oral History, die sich als zweischneidige Geschichtsschreibungskategorie formalen Prozessen der Archivierung entzieht und dennoch ein unbestreitbar nachhaltiges Instrument darstellt, vermittelt sie doch Wissen durch die Menschen selbst. Projekt und Produktion der Porträts folgen der Künstlerin und umgekehrt, wenn diese in den von ihr besuchten Städten Kontakt zu lokalen Gemeinschaften sucht.
Die mündlichen Schilderungen von Vertriebenen, deren Zeugin Al Solh ist, haben neben persönlichen auch rechtliche Aspekte. Viele der Porträts entstanden auf gelbem Papier, das mancherorts für juristische Zwecke verwendet wird und das in seiner Materialität die akribischen rechtlichen und bürokratischen Prozesse symbolisiert, denen sich Immigrant_innen unterziehen müssen, wollen sie die Staatsbürgerschaft erlangen. Al Solhs Bilder kartieren Geografien des Ankommens durch Erzählungen, aber auch durch Erfahrungen mit jener Immigrationspolitik, die sich so nachhaltig auf die politische Landschaft Europas auswirkt.
Die Klangkomponenten der Installation beruhen auf Übersetzungen der arabischen Texte in den Porträts. Es lässt sich kaum ausmachen, welche Stimme zu welchem Text oder gar zu welcher Person gehört. Die mündlichen Erzählungen, in einem unablässigen Prozess der Ausdehnung begriffen, verorten die Geschichten von Migrant_innen in informellen sozialen Ökonomien, in denen Trauma, Hilfe, Angst und Sorge ebenso ihren Platz haben wie Freude und Gastfreundschaft.
— Hendrik Folkerts