In ihrer nordamerikanischen Wahlheimat – die Künstlerin lebt seit den 1980er Jahren in New York – ist Cecilia Vicuña in erster Linie für ihr dichterisches Werk bekannt. Dennoch ist sie der Berufung ihrer Jugendzeit treu geblieben und arbeitet seit mehr als vierzig Jahren als bildende Künstlerin in unterschiedlichsten Genres. Ihre ortsspezifischen Projekte sind Ausdruck ihrer Gabe, räumliche Gedichte zu komponieren, empfindsame, gefühlsbetonte Lyrik in drei Dimensionen. Vicuña bezeichnet diese speziellen Arbeiten als „quipoems“ – eine Verschmelzung von „poem“ (englisch für „Gedicht“) und „Quipu“. Letzteres wird in einem Online-Wörterbuch wie folgt definiert: „Aus einer Schnur bestehende Vorrichtung, an der mit Knoten versehene Fäden unterschiedlicher Farbe befestigt sind; diente im alten Peru zum Aufzeichnen von Ereignissen, zur Buchführung etc.“ Eine präkolumbische Art des Schreibens also, Frucht einer literarischen Tradition, der die Welt Dichtergrößen wie Gabriela Mistral, Pablo Neruda und Nicanor Parra verdankt. Vicuña, 1948 in Santiago de Chile geboren, ist sich der Bedeutung indigener Geschichte als Fundament für die lateinamerikanische Kultur des 20. Jahrhunderts in höchstem Maße bewusst.
Ihr aktuelles „quipoem“ in Athen in Form einer immersiven „weichen Skulptur“ in Übergröße besteht aus riesigen Fäden ungesponnener Wolle. Letztere wurde von einem lokalen Lieferanten bezogen und auffallend purpurrot gefärbt – zu Ehren einer synkretistischen religiösen Tradition, die durch die Nabelschnur menstrueller Symbolik die Muttergottheiten der Andenregion mit den maritimen Mythologien des alten Griechenland verknüpft.
Vicuñas frühe figurative Gemälde, entstanden zu Beginn der 70er Jahre, stellen die Porträts von Dichterinnen (unter anderen Mistral) einer Phalanx aus männlichen Politikheroen (unter anderen Karl Marx, Lenin, Fidel Castro und Chiles Salvador Allende) gegenüber. Deren unbeugsame Männlichkeit wird durch den für die Künstlerin typischen Pop-Stil auf amüsante Weise unterlaufen. Beispiele sind die heiligenscheinähnliche Blumengirlande rund um Marx’ Kopf oder die merkwürdige, an Genitalien gemahnende Symbolik in der surrealen Landschaft hinter Lenin. Diese Porträts, 1972 gemalt, wirken heute wie wehmütige Erinnerungen an einen vorzeitig beendeten utopischen Augenblick: Im Jahr darauf setzte ein von der CIA unterstützter und von Pinochet angeführter Militärputsch einen blutigen Schlussstrich unter Allendes sozialistisches Experiment. Diese Ereignisse zwangen auch Cecilia Vicuña in ein Exil – erst nach London und Kolumbien, dann nach New York –, aus dem die Künstlerin nie mehr wirklich heimgekehrt ist.
— Dieter Roelstraete