Viele Menschen haben wahrscheinlich ein starkes Bild von Kettly Noël, ohne sie wirklich einordnen zu können. 2014 spielte die Künstlerin die Rolle der verrückten Zabou in Abderrahmane Sissakos Film Timbuktu. Zabou, die Voodoo-Poetin. Zabou, mit Make-up, aber ohne Kopftuch, beharrlich durch die verlassene Stadt wandernd, die in die Hände von Dschihadisten gefallen ist. Finden wir Kettly Noël in Zabou wieder? Prächtige Kleider, aus drei zerlumpten Stoffstücken geformt. Die Augen nach oben verdreht, zu einer rätselhaften Innerlichkeit. Ein stechender Blick, der das Anderssein in den Fokus nimmt. Zierlicher Körper, schwebend, hieratisch, fähig, ganz nebenbei eine Pick-up-Ladung bewaffneter Männer abzuwehren. Zabou: Aberwitz einer verrückten Künstlerin, mächtiger als jeder männliche Irrsinn.
Trotz ihrer schauspielerischen Leistung vor Sissakos Kamera ist Kettly Noël besser als Choreografin und Vertreterin des zeitgenössischen Tanzes bekannt. Bereits in ihrer frühen Jugendzeit in Port-au-Prince, Haiti, wo sie 1968 geboren wurde, fühlte sie sich zum Tanz hingezogen. Neben nicht-folkloristischen Figuren, die für aktuelle und reale Formen der globalisierten Gewalt verantwortlich sind, werden Besucher_innen der documenta 14 in Kettly Noëls Bewegungen auch die Zombies der Voodoo-Kultur erkennen.
Nachdem sich Noël an der amerikanischen und französischen Moderne abgearbeitet hatte (die Künstlerin lebte mehrere Jahre in Paris), fiel ihre Wahl auf Afrika. Mitte der 1990er Jahre suchte und fand sie ihre Tanzpartner_innen erst in Benin, dann in Bamako. Musste sie ausbilden. Jung. So nah an der Straße wie möglich. Kettly Noël hatte das Bedürfnis, eine zeitgenössische Perspektive in ihre Kunst einzubringen. Sie tiefer und tiefer zu erkunden. Jenseits von Worten, ohne einen bestimmten Stil, eine bestimmte Form anzustreben.
Ihre Werke entstehen im Kontakt mit der bitteren Realität. Tichelbé (2002), ein Tanz für zwei, ließ sie aus der choreografischen Erneuerungsbewegung, die damals in Afrika zu beobachten war, herausragen. Die Spannung einer unerbittlichen Brutalität zwischen Mann und Frau. Ein inneres Brennen verzehrte den Körper der Künstlerin. Errance (2004) und Je m’appelle Fanta Kaba (2010) setzten sich gegen Verbote weiblicher und politischer Darstellungen von Begehren, Sexualität und Prostitution zur Wehr.
Kettly Noëls aktuelle Arbeit trägt den Titel Je ne suis plus une femme noire (Ich bin keine Schwarze mehr, 2015). Ein Paradoxon. Überzeugt, dass Afrika dem, was es der Welt zu sagen hat, Aufmerksamkeit schenken muss, und voller Leidenschaft für die Idee, dass dem Tanz eine tief greifende Kraft innewohnt, zeichnet die Künstlerin hier dennoch eine Zukunft, die alle Beschränkungen der ethnischen Identität hinter sich lässt. Für das Publikum bedeutet dies die Verantwortung, in seiner Auseinandersetzung mit Tanz in Aktion und mit der Rolle Afrikas in der Welt Klischees zu überwinden.
— Gérard Mayen