Das Parlament der Körper: Black Athena Reloaded 2: A Trial of the Code Noir (Der Code Noir vor Gericht)
mit Colin Dayan, Pélagie Gbaguidi, Tavia Nyong’o, David Scott und Françoise Vergès

JUN
17
18–22 Uhr
Fridericianum, Friedrichsplatz 18, Kassel
Als Livestream verfügbar
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Bücher sind die materiellen Oberflächen von Einschreibungen, durch die politische Fiktionen kollektive Realität werden können. Der Code Noir war ein wirtschaftliches und gesetzliches Dekret, das König Ludwig XIV. im Jahr 1685 erließ, um den Verkehr zwischen den Kolonien und den Austausch mit dem französischen Weltreich zu regeln. Der Code Noir galt bis 1848 und schuf die Voraussetzungen für die Umsetzung des Machtanspruchs der Weißen und die gewaltsame, nach rassistischen Kriterien durchgesetzte Trennung des sozialen und politischen Zugangs zu behördlichen und Regierungseinrichtungen. Mitnichten nur ein rein ökonomisches Regelwerk, stellt das Dekret vielmehr einen der zentralen nekropolitischen Texte der Moderne dar. Es regelte Leben und Tod, Sexualität und Freiheit und verlieh weißen (nicht-jüdischen, nicht-muslimischen) Kolonialherren das uneingeschränkte Recht, auf der Basis der „Hautfarbe“ eines Menschen dessen Körper zu verbringen, zu versklaven, zu besitzen, zu vergewaltigen und zu töten. Wie Der Wohlstand der Nationen von Adam Smith klar das Fundament des modernen Wirtschaftsliberalismus ist, indem es persönliches Eigentum und den Markt als politische Bedingungen liberaler Gesellschaften definiert, so kann man den Code Noir als deren unsichtbares zweites Fundament ansehen, da er die Bedingungen für die Versklavung und die totale Enteignung des größten Anteils der Menschheit formulierte.

In aktiver Auseinandersetzung mit der Ausstellung hat das Parlament der Körper den Code Noir nun ins Zentrum der aktuellen Diskussion gerückt. In der Neuen Galerie wird das Dokument gezeigt: ein kleines, vier Zentimeter messendes Büchlein, das dennoch einmal über genug Macht verfügte, rassistische Praktiken von Tod und Enteignung zu legitimieren.

Obwohl die vom Code Noir konstituierten Normen und Regelungen abgeschafft wurden, scheint es noch immer so, als wirke seine auf Rassismus gegründete Trennung von Macht in den politischen, wirtschaftlichen und institutionellen Diskursen weiter fort.

Wir laden Sie ein, den Code Noir gemeinsam zu lesen, um die Kontinuitäten zwischen seinen Regelungen und aktuellen neoliberalen Politiken zu hinterfragen und zugleich die Strategien des Widerstands, die sich seit der frühen Moderne im Kampf gegen die Sklaverei herausgebildet haben, zu reflektieren. Mit dieser Diskussion wird auch versucht, über den performativen Charakter gesetzlicher und normativer Texte von heute nachzudenken und Künstler_innen und Schriftsteller_innen dazu einzuladen, sich kritisch für deren Transformierung zu engagieren.


Programm

  • 18 Uhr, Pélagie Gbaguidi, Le Code Noir: Ein vergessenes Stück Geschichte

    “Mein Beitrag zu dieser Debatte besteht aus der Lesung von Gedichten und Texten, die meine unterschiedlichen Erfahrungen mit diesem historischen Archivale widerspiegeln. Die Gedanken, die dabei freigesetzt werden, unterstreichen die Dringlichkeit, das Schweigen zu brechen, das herrscht, wenn es um Macht und das Heilige geht. Diese Überlegungen werden auch dazu benutzt, dem Code Noir aus einer rassenideologischen Perspektive entgegenzutreten und einen kontextuellen Ansatz zum Code Noir in der heutigen Gesellschaft herauszustellen.

    Meine Vision besteht darin, meine Erfahrung mit der Öffentlichkeit zu teilen und Le Code Noir zu dekonstruieren, um die Defekte der Menschheit zu reparieren und vorwärtszugehen in eine Welt, in der jeder wachsen, gedeihen und in Frieden leben kann. Ich habe mich durch verschiedene Archive gearbeitet, aus denen ich eine Seite der Geschichte extrahiert habe, die man nur selten zu Gesicht bekommt. Ich beabsichtige, die historischen Archive zu öffnen und die darin enthaltenen Informationen mit dem Publikum zu teilen. Die Öffentlichkeit zu einer Art von Selbsterkenntnis zu bringen, ist entscheidend, denn die Themen, denen ich mich widme, gehen uns alle an.”

  • 18:45 Uhr, Françoise Vergès, Der Code Noir, rot wie Blut, weiß wie Zucker

    Der Code Noir, ein Gesetzestext, der in den französischen Kolonien über Jahrhunderte (1685–1848) in Kraft war, wurde verfasst und angewandt, um das Privateigentum, die weiße Vorherrschaft sowie eine Politik des Blutes und der Hautfarbe zu sichern und die Biopolitik des merkantilistischen Kapitalismus zu festigen. Er regulierte Geburt und Tod, Sexualität und „Rasse“, Arbeit, Freizeit und Bewegung, Freiheit und Gefangenschaft.

    Françoise Vergès untersucht den Nachhall dieses Gesetzeswerks in der heutigen Politik der Enteignung und der neuen globalen Organisation einer prekären, nach Ethnie und Gender definierten, mobilen Erwerbsbevölkerung, aber auch in der materiellen Zerstörung des Lebens und der Erde. Sie fragt danach, wie der unbeugsame Kampf der Sklaven uns inspirieren könnte.

  • 19:30 Uhr, David Scott: Irreparable Evil

    „In diesem Text vertrete ich die These, dass wir uns die Sklaverei in der Neuen Welt als moralisch böse denken sollten, als eine spezifische Art von moralischem Übel, die den gesellschaftlichen Tod des versklavten Lebens systematisch herbeiführte.“


  • 20:15–20:30 Uhr, Pause

  • 20:30 Uhr, Colin Dayan, Legal Sorcery – Performativer Vortrag

    Im Jahr 1685 definierte der sogenannte Code Noir rechtswirksam den Status und die Pflichten – nicht allerdings die Rechte – ganzer Klassen der Menschheit auf der Basis ihrer Hautfarbe. Die Artikel des Dekrets hatten normativen Anspruch. Ihre Auswirkungen durchdrangen in den Gesellschaften der Neuen Welt, ganz besonders im amerikanischen Süden, das Denken und prägten Gesetze, die gesellschaftliche Ordnung und den sozialen Umgang.

    Den Herrscher, der es erließ, gibt es nicht mehr, sein Regime und dessen Regierungsform sind abgeschafft, das Imperium längst aufgelöst. Die Theorien und Implikationen des Dokuments gelten als überholt und wurden in unseren Köpfen und unserer Selbsteinschätzung durch so wertvolle Schriften wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ersetzt.

    Und trotzdem gemahnen uns die Wiederkehr von Praktiken wie der Verhaftung von Gangs oder dem Verbannen von Büchern aus Gefängnisbibliotheken, Folterberichte sowie die „lebenden Toten“ in Einzelhaft Jahr für Jahr und Fall für entsetzlichen Fall daran, dass zumindest in den Vereinigten Staaten die Vergangenheit weiterlebt – wie es auch die fantastische Rede von Mitch Landrieu, dem Bürgermeister von New Orléans, vor ein paar Wochen eindrücklich deutlich gemacht hat. In diesem performativen Monolog stelle ich einen rituellen Bezug zu einem Dokument her, das noch nicht tot ist. So wie auch William Faulkner geschrieben hat: „Die Vergangenheit ist nicht tot. Sie ist nicht einmal vergangen.“

  • 9:15 Uhr, Tavia Nyong’o, Zu Tode gearbeitet: Die Figur des „Negers“ und die Zukunft des Schwarzen Marxismus

    Ein Schreckgespenst sucht die eurozentristische Kritische Theorie heim: das Schreckgespenst des Schwarzen (blackness). Ausgelöst durch die Neuauswertung der Hegel’schen Dialektik von Herr und Knecht im Werk von Paul Gilroy und erweitert durch die ideenreiche Neubetrachtung der welthistorischen Bedeutung der Revolution in Haiti durch Susan Buck-Morss, hat das Schreckgespenst des Schwarzen eine Reihe von kritischen Kommentaren verschiedener europäischer Theoretiker_innen von Peter Hallward und François Laruelle bis Alain Badiou evoziert. Die Abhandlung Die Undercommons von Fred Moten und Stefano Harney über Black Study ist bereits ein Klassiker: Das Buch erweitert die anregende Idee einer Schwarzheit, die alles meidet, was ihre Bedeutung und Anwendung einzugrenzen und zu kontrollieren suchte. Und der bei Frank Wilderson wiederauflebende Afropessimismus hat eine ganze Generation junger militanter Schwarzer dazu inspiriert, aus dem Amerikanischen Traum zu erwachen und eine revolutionäre Tradition wiederzuentdecken, die ständig aufs Neue davon bedroht ist, vom neoliberalen Konsens absorbiert zu werden. Wie sind wir von der Figur des „Negers“ – eines rechtslosen Wesens, dessen einzige Funktion es war, sich zu Tode zu schuften – zu diesem aufrührerischen, metaphorischen Schreckgespenst des Schwarzen gekommen? Und wie hat die Performance es geschafft, einerseits den Sklaven und den früheren Sklaven im modernen Denken einen gesellschaftlichen Tod sterben zu lassen und gleichzeitig andererseits das politische und ästhetische Terrain abzumessen für eine großflächige und revolutionäre Transformation der Bereiche von Arbeit und Leben?


Pélagie Gbaguidi, from the series „Code Noir II“, 2007

Pélagie Gbaguidi lebt und arbeitet in Brüssel. Gbaguidis Werk besteht aus einer Sammlung von Zeichen und Spuren über das Trauma. Dies ist eines ihrer immer wiederkehrenden Motive, was auch der Ankauf ihrer Serie von 100 Zeichnungen des Code Noir (1685) durch das Mémorial ACTe in Guadeloupe verdeutlicht. Gbaguidi beschäftigt sich mit kolonialen und postkolonialen Archiven, mit der Demaskierung des Vergessens in der Geschichte. Diese Neuausrichtung des Imaginären drängt die Künstlerin dazu, dem auch Gestalt zu verleihen, im Sinne eines Schreibens über befreiende Bilder und einen Korpus, aus dem zeitgenössische Formen gewonnen werden können.

​Françoise Vergès ist Inhaberin des Lehrstuhls für „Global South(s)“ am Collège d’études mondiales, FMSH, Paris. In ihren Veröffentlichungen hat sie sich ausführlich mit den Erinnerungen der Sklaverei als gegenhegemonischem Narrativ beschäftigt sowie mit Frantz Fanon, der Psychoanalyse, Aimé Césaire, dem Kolonialismus der Macht und dem Feminismus. Darüber hinaus hat sie Drehbücher verfasst und mit Künstlern zusammengearbeitet, war Projektberaterin für die documenta 11 und hat für die Paris-Triennale 2012 das Programm Der Sklave im Louvre. Eine unsichtbare Humanität organisiert.

David Scott ist Professor für Anthropologie und Fellow am Institute for Research in African-American Studies der Columbia University, New York. Er ist Autor zahlreicher Artikel sowie dreier Monografien: Formations of Ritual: Colonial and Anthropological Discourses on the Sinhala Yaktovil (University of Minnesota Press, 1994); Refashioning Futures: Criticism after Postcoloniality (Princeton University Press, 1999) und Conscripts of Modernity: The Tragedy of Colonial Enlightenment (Duke University Press, 2004). Außerdem hat er zusammen mit Charles Hirschkind den Band Powers of the Secular Modern: Talal Asad and his Interlocutors (Stanford University Press, 2006) herausgegeben. Er ist ebenfalls der Herausgeber der Zeitschrift Small Axe.

​Colin Dayan ist Robert Penn Warren Professor in den Geisteswissenschaften an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee. Zu ihren Buchveröffentlichungen zählen: Haiti, History, and the Gods; The Law is a White Dog: How Legal Rituals Make and Unmake Persons und With Dogs at the Edge of Life. Demnächst erscheinen ihre Erinnerungen unter dem Titel Blue Book.

​Tavia Nyong’o ist Professor für Afroamerikanistik, Amerikanistik und Theaterwissenschaften an der Yale University und Mitherausgeber der Zeitschrift Social Text. Er ist Autor von The Amalgamation Waltz: Race, Performance and the Ruses of Memory (2009) und schließt gerade eine Studie über die Fiktionen von Geschichte in der zeitgenössischen Schwarzen Kunst, Performance und Theorie ab.

Gepostet in ­­­Öffentliche Programme
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