Als Reaktion auf die Anzahl von Beschwerden und Anschuldigungen, die wir während der letzten Woche erhalten haben, haben wir uns entschieden, die geplante Performance von Franco „Bifo“ Berardi abzusagen. Wir respektieren diejenigen, die sich vom Titel von Franco „Bifo“ Berardis Gedicht angegriffen fühlen. Wir wollen ihrer Trauer keinen Schmerz hinzufügen.
Wir wollen die Vorwürfe weder einfach akzeptieren noch Diskussion und kritisches Denken aufgeben. Im Gegenteil, wir müssen das Dispositiv des Parlaments der Körper aktivieren, allen Stimmen Raum geben und einen Dialog anregen.
Der neue Titel der Veranstaltung bezieht sich auf viele der Zuschriften, die mit dem Satz „Schämen Sie sich“ endeten, aber auch auf Franco „Bifo“ Berardis Forderung, der zufolge wir uns viel mehr für die Gewalt und nekropolitischen Techniken der europäischen Regierungen im Umgang mit dem Strom der Geflüchteten und Migrant_innen schämen sollten. Was sind wir kollektiv bereit, mit dieser Scham zu tun?
Anstatt die Veranstaltung komplett abzusagen, werden wir am Donnerstag, den 24.8., um 20:30 Uhr, das Parlament der Körper für eine Veranstaltung mit Franco „Bifo“ Berardi öffnen, und dort eine vielstimmige Unterhaltung befördern, gefolgt von der Lesung seines Gedichts und einer partizipativen Diskussion über die neuen Gesichter des Faschismus und der aktuellen Politiken der Migration in Europa.
Das Parlament der Körper ist eine Forderung nach einer kritischen Utopie zu einer Zeit, in der die Möglichkeiten der Kritik und der Utopie im Verschwinden zu sein scheinen. Als ein Experiment radikaler Demokratie – das sich im geschützten Rahmen einer Kunstausstellung entfaltet – strebt das Parlament der Körper an, einen Raum des kritischen Widerstands und des poetischen Ungehorsams zu erschaffen, der sich jedoch nicht von konkreten historischen und gesellschaftlichen Praktiken distanziert. Entgegen formaler parlamentarischer Repräsentationsformen arbeitet die vielstimmige Aufführung des Parlaments der Körper mit radikal heterogen verkörperten Sprachen und ihrer komplexen Historizität, die singulären und kollektiven Traumata ebenso eine Stimme gibt wie auch den Forderungen nach Verantwortung und Reparation. Dennoch kann das Parlament der Körper kein Raum sein, in dem die performative Macht der Sprache als Gewalt genutzt wird. Indem hegemoniale Grammatiken sowie bereits vereinfachte ideologische Sprachen in Frage gestellt werden, fordert das Parlament der Körper die Teilnehmer_innen auf, über starre Identitätspolitiken und naturalisierte Positionen hinauszugehen und lädt sie dazu ein, sich auf einen Akt des tiefer gehenden Zuhörens und der kritischen De-Identifikation einzulassen. Das Parlament der Körper sucht nicht nach einer einheitlichen Metasprache. Stattdessen zielt es darauf ab, Netzwerke der Solidarität zwischen verschiedenen Diskursen und Praktiken der Arbeiter_innenbewegung, antirassistischen, antikolonialen, antifaschistischen, transfeministischen, queer- und behindertenpolitischen sowie ökologischen Kämpfen zu schaffen. Während diese Allianzen nur aufgebaut werden können, indem sie auf die spezifische Art der Unterdrückung aufmerksam machen, erscheint es dringend notwendig, eine gemeinsame Kritik an den zugrundeliegenden dominanten kapitalistischen und kolonialen Epistemologien von Rassismus und Sexualität zu schaffen, die die gegenwärtigen Bedingungen von Leben und Tod bestimmen. Sie sind eingeladen, an diesem Treffen teilzunehmen und Akteur_in in diesem kollektiven Kampf zu werden.
—Paul B. Preciado, Kurator der Öffentlichen Programme der documenta 14
Erwiderung auf die Kritik an der geplanten Veranstaltung mit Franco „Bifo“ Berardi:
Es ist keineswegs die Absicht der geplanten Diskussion mit dem italienischen Autor und Theoretiker Franco Berardi sowie der Lesung seines Gedichts im Rahmen des Programms „Parlament der Körper“ der documenta 14 den Holocaust zu relativieren. Der Holocaust ist in seinem Umfang und seiner systemischen Struktur die in der menschlichen Geschichte singuläre Manifestation staatlich organisierten und durchgeführten Völkermords. Das Ziel Berardis besteht vielmehr darin, den Holocaust verantwortungsvoll und ernsthaft als den ultimativen Grenz- und Referenzbegriff für das extreme, gewaltsame und systemische Unrecht auszumachen, das von nationalen und transnationalen Körperschaften in Europa an den realen Körpern von Geflüchteten verübt wird, die auf der Flucht nach Europa zu Wasser und zu Land sterben oder in Lager verschlagen werden, die für gewöhnlich außerhalb Europas bzw. in den Grenzländern im Süden von Europa liegen. Diese Lager sind streng bewacht, intransparent und gewiss nicht daraufhin angelegt, ihren Insassen eine konkrete Zukunft zu eröffnen, sondern dienen dem Zweck, das „Flüchtlingsproblem“ effektiv aus dem Blickfeld der Europäer zu entfernen. Der administrative Apparat, die technischen und organisatorischen Mittel, die dazu eingesetzt werden das „Problem“ zu lösen, indem die Geflüchteten auf Abstand und unter Kontrolle gehalten werden, sind hoch entwickelt und auf dem allerneuesten Stand. Dennoch bleibt die etablierte Politik, die den Einsatz der fraglichen Technik ermöglicht, hoffnungslos rückständig und unfähig, das Thema direkt anzugehen, während zur gleichen Zeit weiter Menschen buchstäblich unmittelbar vor unserer Tür sterben.
Wir wissen sehr wohl, was das Resultat solch selbstauferlegter Blindheit gegenüber der Not der verfolgten und vergessenen Anderen sein kann. Der Holocaust wurde vom Nationalsozialistischen Staat und seinen Funktionären und Kollaborateuren in der relativ kurzen Periode in Deutschland und den besetzten europäischen Ländern geplant und durchgeführt, während die „zivilisierte“ Welt sich dafür entschied – durch die Beschlüsse gewählter Politiker, die die wenigen Berichte über das Schicksal der Juden in den besetzten Ländern ignorierten ebenso wie durch die passive Haltung der Mehrheit der Bürger Europas – nicht hinzusehen, nicht wissen und nicht handeln zu wollen. Das mutige und menschliche Handeln zahlreicher bekannter wie unbekannter Einzelpersonen änderte nichts daran: Die nahezu vollständige Vernichtung der Juden in Europa fand statt.
Die geplante Diskussion und Lesung von Berardis Gedicht im Parlament der Körper ist eine Warnung vor historischer Amnesie, ein Weckruf des Gewissens, ein Aufruf zu kollektivem Handeln – und nicht etwa ein Versuch den Holocaust zu relativieren. Es geht nicht vorrangig um die Politik der Erinnerung, mit der sich Deutschland seit Langem auseinandersetzt, sondern darum, was hier und jetzt stattfindet, innerhalb und vor den Toren Europas.
—Adam Szymczyk, Künstlerischer Leiter der documenta 14
Franco Berardi ist Autor und Medienaktivist. Sein letztes Buch Futurability (2017) ist im Verlag Verso erschienen. In den 1970er Jahren gehörte er zu den Betreibern von Radio Alice und schrieb Beiträge für das Magazin A/traverso.
Die Platzkapazitäten in der Rotunde des Fridericianums sind begrenzt. Wir bitten Sie frühzeitig vor Ort zu sein. Der Einlass beginnt um 20:15 Uhr. Die Veranstaltung beginnt um 20:30 Uhr. Die Presse wird gebeten, sich vorab unter presse [at] documenta.de anzumelden.