Gesellschaft als Verbrechen
U’mista und Nuyumbalees: Kwak’wala-Wörter. Namen für zwei neue Kulturzentren in Alert Bay, British Columbia, Kanada, die gegründet wurden, um die nach dem Ende des Potlatch-Verbots in Kanada (1885–1951) heimgeführten Hausmasken und Tanzinsignien unterzubringen. Nuyumbalees bedeutet „Erzählungen vom Anfang der Welt“. U’mista ist ein Begriff für etwas, das zum Ort seiner Herkunft zurückkehrt. In früheren Zeiten sagte man von Leuten, die nach einer Gefangenschaft infolge eines Raubzugs heimkehrten, sie hätten u’mista. Obwohl der Ausdruck ursprünglich so nicht verwendet wurde, haben die nach Cape Mudge und Alert Bay zurückgekehrten Masken und Insignien nun ebenso u’mista, und die Objekte im Nuyumbalees Cultural Centre können seither wieder ihre Geschichten erzählen.
1889 beschrieb der deutsch-amerikanische Ethnologe Franz Boas die Siedlung Alert Bay und die Kwakwaka’wakw („Kwakiutl“) als Menschen, die am äußersten Rand von Europa lebten.1 Für ihn stellten sie die begriffliche und geografische Grenze der europäischen Kultur dar. Er musste weit fahren, um diese Grenze zu finden. Denn in den größeren Städten an der kanadischen Westküste galten die Ureinwohner, insbesondere die europäisch gekleideten, schon als „vollkommen anders und doch gleich.“2 Also reiste Boas auf seiner zum Scheitern verurteilten Suche nach der absoluten Differenz weiter die Insel hinauf – wo er diese Differenz mindestens so sehr eigenmächtig erfinden wie entdecken musste, um seine Auffassung zu verteidigen, dass die Kwakwaka’wakw nicht einfach nur am äußerstem Rand der europäischen Kolonisation lebten, sondern recht eigentlich die Grenze des europäischen Wissens markierten.
Die Grenze trat verschiedentlich zutage, oft auch in Form von Missverständnissen, die sich am Potlatch entzündeten. In frühen europäischen Texten wurden diese Zeremonien – die traditionell ihre jeweils eigenen Namen, Besonderheiten und gesellschaftlichen Funktionen aufwiesen – als „Medizin-Festmahle“ bezeichnet. Die europäischen Autoren verstanden, dass das Heilen für die Ureinwohner ein nicht wegzudenkender Teil des gemeinsamen Essens und Teilens anderer Güter war. Die anfängliche Schreibweise „Patlatch“ erschien zunächst in Anführungszeichen, als seien sich die Namensgeber ihrer Bezeichnung selbst nicht sicher, als rängen sie um das richtige Wort für das, was sie sahen. Ob das Teilen des Reichtums bei den Zusammenkünften einfach nur ein Geschenk (ohne Erwartung einer Rückzahlung) oder ein auf Gegenseitigkeit beruhendes Handeln war, blieb ebenfalls umstritten. Wurde es erwidert, so rückte dies die Praktiken der „Unzivilisierten“ in peinliche Nähe zu jenen der zivilisierten Gesellschaft, woraus sich für deren Machthaber die Notwendigkeit ergab, eifrig eine größere Distanz zwischen diesen Gebräuchen und den europäischen Traditionen herzustellen. Ein weiterer Grund, den Potlatch zu verbieten, war die Tatsache, dass die Menschen in den Monaten unmittelbar vor einer Zeremonie so sehr mit der wichtigen Aufgabe des Ansammelns von Dingen zum Verschenken sowie mit der Herstellung neuer Insignien beschäftigt waren, dass sie für andere „Arbeit“ nicht zur Verfügung standen. Die Potlatch-Zeremonie schuf Arbeit, die eindeutig nicht denselben Stellenwert wie Arbeit in Konservenfabriken oder anderen Industrieunternehmen hatte. Der Potlatch aktivierte außerdem ein separates System der Politik und Gesellschaftsordnung, das die Kolonisatoren nicht hinnehmen konnten. Bei dieser Zeremonie erlangte und verlieh das Oberhaupt einer Ureinwohnergemeinschaft Rang und Namen durch die Zurschaustellung von Reichtum. Es schuf damit komplizierte Gesellschaftsverträge zwischen Gastgebern und Gästen, Überschüssen und Schulden. Doch an der Zivilisationsgrenze des Kolonialismus gab es keinen Spielraum für zwei Herrschaftsweisen. „Das Ding namens Patlatch ist der Punkt, an dem die Logik des Kolonialismus in die Krise gerät.“3
Nachdem man sich auf einen Namen geeinigt hatte, begannen ernsthafte Versuche, den Brauch abzuschaffen. „Einen Namen geben, das heißt, wie bei jedem Geburtsakt, immer, eine Singularität zu sublimieren und sie anzuzeigen, der Polizei auszuliefern.“4 Nicht anders war es beim Potlatch. 1884 wurde der kanadische Indian Act um ein formelles Verbot der Zeremonie ergänzt. Von da an konnte jeder vor Gericht gebracht werden, der daran teilnahm oder mitwirkte. Die Gesetzesänderungen festigten zugleich die Macht, anzuklagen, zu urteilen und mit Geschworenengerichten der Willkür eines einzelnen „Indianeragenten“ in die Hände zu spielen. „Jede indianische oder andere Person“, so der Wortlaut des Verbots,
die sich am Feiern des als „Potlatch“ bekannten indianischen Festes beteiligt oder dabei mitwirkt oder die an dem als „Tamanawas“ bekannten indianischen Tanz teilnimmt, begeht eine Ordnungswidrigkeit und ist mit Gefängnishaft von nicht mehr als sechs und nicht weniger als zwei Monaten zu bestrafen […]; und jeder Indianer oder jede andere Person, die einen Indianer zum Veranstalten eines solchen Festes ermutigt, […] soll derselben Strafe anheimfallen.5
Politik zielt auf die Armen und Enteigneten. Wenn sich die Politik ändert, ist das eine Reaktion auf das Scheitern der Kontrolle. Der Potlatch – und dies trotz wiederholter Diktate zu seiner Abschaffung und der Annahme, dass er aussterben würde, auch trotz vieler Ureinwohner, die ihm unter Zwang abschworen – nahm andere Formen an und ging weiter.
Das Verbot erging in einer Zeit noch anderer, wirtschaftlich begründeter Ängste. 1884 begann in British Columbia eine Rezession. Vor diesem Hintergrund wirkte der zur Schau gestellte Reichtum ebenso provozierend verschwenderisch wie der Wettkampf des Beschenkens, bei dem vom Gast eines Potlatchs ein noch üppigeres Prahlen mit Reichtümern während der nächsten Zeremonie erwartet wurde, was die Häuptlinge und gastgebenden Gemeinden regelmäßig in den Ruin trieb. Allerdings garantierte der Gesellschaftsvertrag, das heißt die reziproke Verpflichtung durch die Zeremonie, dass eine Schuld später mit Zinsen zurückgezahlt wurde. Anfang des 20. Jahrhunderts veränderte sich der Potlatch auch durch den Zustrom von Geld. Die Ureinwohner erhielten beispielsweise in der fischverarbeitenden Industrie Löhne und nutzten den so erworbenen Geldbesitz, um noch mehr Dinge zum Verschenken zu kaufen, etwa Decken, Möbel, Boote und andere moderne Annehmlichkeiten. Die westliche Wirtschaft begünstigte die Wirtschaft der Ureinwohner und trieb diese in Größenordnungen, die aus Sicht der Indianeragenten nicht mehr hinnehmbar waren.
Im Jahr 1921 veranstalteten Dan und Emma Cranmer um die Weihnachtszeit eine fünftägige Zeremonie in Village Island, British Columbia. Emmas Familie sollte so Gelegenheit erhalten, einen Besitz zurückzuzahlen, den Emmas Mann aus Anlass der Hochzeit verschenkt hatte. Bei der größten Massenverhaftung in der gesamten Zeit des Potlatch-Verbots wurden 46 Personen festgenommen. 21 kamen ins Gefängnis. Um eine Haftstrafe abzuwenden, erzielten die Verteidiger eine Verständigung, im Zuge derer sie die Übergabe von Masken, Kupferplatten, Insignien und Kopfschmuck an die britische Krone anboten. Außerdem mussten die Betroffenen öffentlich dem Potlatch abschwören. Die Übergabe der Materialien und die Verzichtserklärungen beschränkten sich auch nicht auf die anfangs verhafteten Personen, sondern galten für alle 300 Beteiligten. In benachbarten Gemeinden kam es zu ähnlichen Regelungen. Gerichtsurteile waren tief durchdrungen von christlicher Ideologie. Man ging davon aus, dass „die Indianer auf das Schenken verzichteten und diese Entsagung sie auf die ‚zivilisierte‘ Seite der Grenze zwischen Kultur und Barbarentum holte.“6
Nach dem Ende des Verbots forderte Chief James Sewid als Erster eine Rückgabe der – von manchen als lebendige Wesen betrachteten – Insignien und Objekte. Er bot 1967 zunächst an, sie für den denselben Preis zurückzukaufen, den die Museen ursprünglich dafür bezahlt hatten. Doch wie Michael Ames bemerkt, ist ein Gegenstand in dem Moment, da er ins Museum eingeht, an museologische Protokolle gebunden, und diese haften ihm auch noch an, wenn er später an den Ort seiner Herkunft zurückgebracht wird.7 So forderte das Royal Ontario Museum beispielsweise, dass Sewid nicht nur den Kaufpreis der Objekte zurückerstatten, sondern auch für die an ihnen vorgenommene „Pflege“ und Restaurierung in der Obhut des Museums aufkommen sollte. Diese Gegenstände waren nicht mehr dieselben. Sie schleppten den Kontext des Museums mit sich, als sie nach Cape Mudge und Alert Bay zurückgebracht wurden. Und dieser Kontext bestimmte weiterhin maßgeblich ihre Ausstellung, Nutzung und Pflege.
Im U’mista Cultural Centre von Alert Bay werden die Objekte im Freien auf Ständern entlang der Wände gezeigt, nicht hinter Glas. Ihre Anordnung entspricht ungefähr ihrer Bedeutung in einem Potlatch. Im Zentrum des Museums gibt es einen offenen Bereich für Tänze und Zeremonien. Die Objekte überblicken das Geschehen wie Wächter. Ganz anders im Nuyumbalees Cultural Centre, wo eher Besitz zur Schau gestellt wird. Der Schwerpunkt liegt hier auf den Informationen über das Familienerbe der zurückgegebenen Masken und Insignien, außerdem auf der Bedeutung weiterer hochrangiger Personen beim Potlatch von 1921. Die rückübertragenen Gegenstände veranschaulichen eine Art Heimweh – in ihrem Exil ist ein anhaltender, verzehrender Wunsch nach Wiederaneignung begriffen.
Von allen Fotografien der beschlagnahmten Gegenstände aus den Potlatch-Zeremonien in Alert Bay ist diese am weitesten verbreitet. Bei einem Potlatch haben die einzelnen Masken verschiedene Funktionen. Einige der hier abgebildeten sind Kopfschmuck für Oberhäupter, andere werden nicht getragen, sondern zum richtigen Zeitpunkt als Zeichen eines hohen Ranges vorgeführt. Mit den übrigen wird getanzt. In der Bildmitte sieht man die mit einem raffinierten Zugmechanismus ausgestatteten Verwandlungsmasken. Ihre Träger wechseln mitten in ihrer Darbietung von dem einen Wesen zum anderen und verkörpern so den schmalen Grat zwischen Menschen- und Geisterwelt. Hier sind diese Masken offen und in starrer Position, mit nach außen gekehrten Gesichtern ausgestellt. Die große Maske in der linken unteren Ecke des Fotos ist die von Dzunuk’wa, der wilden Frau aus den Wäldern. Sie ist häufig mit offenem Mund und einer wirren Mähne aus langem schwarzen Haar gestaltet. Dzunuk’wa ist Kannibalin. Sie fängt Kinder und steckt sie in ihren Korb aus Lebensbaumzweigen, um sie später zu essen. Links und rechts der Mitte, auf der hinteren Regalerhöhung, liegen geschnitzte Schädel. Leben und Tod sind integrale Bestandteile von Potlatch-Zeremonien.
Diese aus dem Dorf Memkumlis und den umliegenden Gemeinden entfernten Objekte sind auf dem Bild wie Sünder im anglikanischen Gemeindehaus von Alert Bay versammelt. Vom Indianeragenten William Halliday vor weißen Tüchern arrangiert, werden die Masken als Beweismittel für vermeintlich heimliche und dunkle Gebräuche vorgeführt. Die Fotos existieren, weil es das Potlatch-Verbot gab. Aber sie beweisen noch mehr – in diesem Fall die obsessive Beschäftigung der weißen Kolonisatoren mit dem Potlatch. Nachdem man die Masken von Village Island nach Alert Bay überführt und in der dortigen Kirche zusammengestellt hatte, wurden aus ihnen Waren. Besucher zahlten Eintritt, um die im Gemeindehaus ausgestellten Objekte zu sehen. Bis in die 1860er Jahre hatte man solche Masken noch mit relativer Gleichgültigkeit zur Kenntnis genommen, doch mit Beginn der 1870er Jahre wurden sie zum „Gegenstand eines moralischen Kreuzzugs“.8 Als mittlerweile handelbare Gegenstände fanden sie über William Halliday den Weg in Museen und wurden später an Einzelpersonen wie George Gustav Heye oder André Breton verkauft. Einige wenige verblieben in der Privatsammlung eines anderen Indianeragenten, Duncan Campbell Scott. Zwar galt den Indianeragenten der Potlatch als „wertlos“, doch für die Masken galt das offenkundig nicht. Kaum hatte man sie ihren rechtmäßigen Eigentümern abgenommen, wurden aus ihnen erst verkäufliche Güter und später materielle Träger, auf die andere ihre Vorstellungen des Übernatürlichen, Urtümlichen und Surrealen projizieren konnten. Mit der Zeit erlangten sie auch einen Stellenwert als Grenzmarken des europäischen Wissens.
Die beiden großen, ausgebreiteten Masken in der Bildmitte haben je drei Gesichter: zwei an den Enden der beiden Flügel und ein weiteres, menschenähnliches, in der Mitte. Sie sind Masken von Sisiutl, der doppelköpfigen Schlange. Diese Kreatur wird stets mit Hörnern dargestellt. Sie versteinert alle, die sich ihren eigenen Ängsten nicht stellen können. Vielleicht in Entsprechung zu ihrem doppelköpfigen Wesen verleiht Sisiutl aber auch Macht und Reichtum – Krieger und Stammesoberhäupter tragen ihr Bild bis heute zum Schutz als Wappen auf ihren Insignien.
Der Indianeragent William Halliday führte neben den Objekten, nach denen er fahndete, auch Menschen als Beweise für heimliche rituelle Handlungen vor. Auf diesem Foto hält ein Häuptling zwei T̕lakwa oder Kupferplatten in den Händen, eine vollständig, die andere ein Fragment. T̕lakwa wurden zu bestimmten Zwecken hergestellt – entweder um jemanden zu beschämen, oder um den Status eines Oberhaupts zu bekräftigen, das seinem wichtigsten Rivalen einen abgeschnittenen oberen Teil der Platte übergab. Am 16. April 1919 protestierte ein Herr Wawip̓igesuwe’ im Namen der indigenen Gemeinde der ‘Namgis in einem Brief an die Behörden gegen das Potlatch-Verbot. Er berief sich darin auf westliche Wirtschaftsmodelle, um den Wert der T̕lakwa zu verdeutlichen:
Jeder Stamm hat seine eigenen Kupferplatten, und jede Platte hat ihren eigenen Wert. In alten Zeiten gab es kein Geld, und diese Platten dienten als Wertmaß, wobei ihr Wert jedes Mal stieg, wenn sie den Besitzer wechselten. Als die Weißen kamen und wir Bargeldlöhne im Tausch für unsere Arbeitskraft verdienen konnten, investierten wir unsere Ersparnisse in Kupferplatten und gingen damit genau so um, wie ein Weißer, der sein Geld zur Bank trägt, indem wir immer mehr zurückerwarteten, als wir eingezahlt hatten. Wir überreichen Ihnen hiermit eine Liste der Kupferplatten, die dem Stamm der ‘Namgis gehören, und ihrer Werte. Andere Stämme haben ihre eigenen Platten. So können Sie den enormen finanziellen Verlust ermessen, der uns entstünde, falls unser Brauch verboten wird.9
Damit waren die Kupferobjekte nun doppelt, nämlich mit einem kulturellen und einem wirtschaftlichem Wert im westlichen Sinn, aufgeladen. Ihr Wert erhöhte sich umso mehr, je öfter sie von Hand zu Hand gingen. Diese große Investition ging bei der Beschlagnahme der Kupferplatten im Jahr 1922 verloren. Anders als für die Masken und Insignien erhielten ihre Eigentümer keine Entschädigungen, da den Platten in den Büchern der Indianeragenten kein Dollarwert zugeschrieben wurde.
In den Jahren des Verbots verschwand der Potlatch im Untergrund, und seine Rituale wurden nach außen getarnt. Manchmal wurden Potlatch-Gaben zu Weihnachten als „Geschenke“ überreicht. In den 1930er Jahren begannen Ureinwohnergemeinden, die Zeremonien zu stückeln: Die Tänze und Reden wurden getrennt von der Geschenkübergabe abgehalten (das Verbot betraf das Schenken im Kontext einer Zeremonie). Zu anderen Zeiten ahmten Potlatche relativ banale europäischen Gütergeschenke nach. Die 1.500 Säcke Mehl auf diesem Bild sind ein Beispiel dafür. Anstelle der üblichen Rituale, die das Verteilen der Gaben begleiteten, sagte der Geber beim Überreichen des Mehlsacks einfach: „Hier hast du etwas Mehl, damit du besser über den harten Winter kommst.“ Christliche Vorstellungen von Wohltätigkeit wurden der Zeremonie hinzugefügt, um den Verdacht fragwürdigen Verhaltens zu zerstreuen. Dies war ein berechnendes Vorgehen, denn dieselben indigenen Gemeinden waren andererseits berüchtigt dafür, dass sie sich der Anpassung an das Christentum widersetzten. Dennoch konnten die Gemeinden hinter diesem bloßen Anschein einer Bekehrung ziemlich unverhohlen ihren spirituellen Gebräuchen nachgehen. Als 1933 in Fort Rupert 900 Säcke Mehl verschenkt wurden, teilte man der Polizei mit: „Es war ein Akt christlicher Nächstenliebe.“ Angesichts der großen Zahl der Säcke (sie weist auf den Reichtum der Person hin, die sie gekauft hat), der vorangegangenen Zurschaustellung und der Versammlung der Gemeinde aus diesem Anlass diente das Mehlgeschenk wahrscheinlich zur Rückzahlung einer Schuld gegenüber einer anderen Familie, die aufgrund einer Hochzeit oder eines Rangwechsels entstanden war. So gesehen führte der Potlatch auch in seinem neuen Gewand die koloniale Logik wieder in eine Krise. Den Indianeragenten war sehr wohl klar, dass es sich hier um einen Potlatch handelte, aber die streng sachliche Beschreibung der Zeremonie in ihren Aufzeichnungen versagte vor den Wandlungen der Form und dem darin begriffenen schöpferischen Widerstand. Das Ding, dem die Weißen mit so viel Mühe einen Namen gegeben hatten, entzog sich erneut ihren Definitionen. Der Potlatch trat aus den kolonialen Schatten der Sprache und der Gesetzgebung und erforderte eine weitere Umerziehung, ein neues Verfahren der Kontrolle.
Viele Aufzeichnungen und Texte zur Hamat’sa-Zeremonie – einer Geheimversammlung, bei der angeblich rituell Menschenfleisch verzehrt wurde – dienten später als Beweise für die Wildheit der Indigenen und rechtfertigten zusätzlich die Kriminalisierung des Potlatchs. Die Zeremonie wurde ursprünglich als Teil der Tsetseka oder Winterfeierlichkeiten abgehalten. Eingeweihte junge Männer stellten darin die Besessenheit durch den menschenfressenden Geist Baxbaxwalanuxsiwae’ dar. Im Verlauf der Zeremonie wurde ihnen der Geist ausgetrieben. Für die Kwakwaka’wakw waren die Hamat’sa-Rituale von zentraler Bedeutung, weil darin die Macht der Lebenden über die Toten (die Fähigkeit, die Toten zu verzehren und dabei nicht dem Tod zu erliegen) ebenso wie die Herrschaft über die Gewalten der Natur bekräftigt wurde. Hier herrschte Gegenseitigkeit nicht nur zwischen verschiedenen Menschen, sondern auch noch in anderer Form, nämlich zwischen der menschlichen und der übernatürlichen Welt. Einerseits wurden im Verlauf der Zeremonie Geister geopfert, um die Aufrechterhaltung menschlichen Lebens zu ermöglichen, andererseits galt die Opferung menschlichen Lebens durch das sinnbildliche Verspeisen von Menschenfleisch als notwendig, um für den Weiterbestand auch des Übernatürlichen zu sorgen. Die Zeremonien des Potlatchs brachten noch eine weitere Form der Besessenheit mit sich – die der Indianeragenten und vielleicht sogar des Ethnologen Franz Boas.
Auf dem oberen Bild sieht man Boas für ein Diorama zum Hamat’sa Modell stehen. Er ist als „wilder“ Tänzer dargestellt, der auf der Schwelle zum Übernatürlichen erscheint und aus dem Mund von Baxbaxwalanuxsiwae’ tritt. Das Diorama als solches stützte sich auf eine völlig aus der Zeit gefallene Aufführung der Zeremonie: 1893 wurden einige Angehörige der Kwakwaka’wakw zur World Columbian Exposition nach Chicago gebracht, wo sie einem unbedarften Publikum wieder und wieder das Hamat’sa-Ritual vorführten. Sie brachten damit einen Kreislauf der Wiederholung und Bekräftigung dieses Rituals in Gang, der bis in die Gegenwart andauert.
Die Kwakwaka’wakw unterstreichen, dass ein Tanz für sie nicht nur ein Fest ist, sondern ein integraler Bestandteil ihres Rechtswesens und ihrer Politik. Sie erklären, dass „ein strenges Gesetz uns das Tanzen gebietet“.10 Als 1975 die Rückgabe der ersten, nach dem Potlatch von 1921 beschlagnahmten Objekte offiziell verlautbart wurde, feierte man dies in Cape Mudge und Alert Bay mit Tänzen, die mehr als nur festlich waren. Zur Einigung über die Rückgabe der Objekte gehörte, dass diese in Museen untergebracht werden mussten. Damit erhielt die Gemeinde eine Gelegenheit, Funktion und Bedeutung des Museums zu überdenken und sich zu fragen, wie man die Objekte und ihre komplizierte Geschichte angemessen darstellen konnte.
Am U’mista Cultural Centre in Alert Bay sind die Objekte rund um den offenen Bereich innerhalb eines größeren Hauses angeordnet. Sie sind nicht in Vitrinen, sondern im Freien und ungefähr in derselben Ordnung aufgestellt, wie sie es auch bei einem Potlatch wären. Ein Schwerpunkt liegt auf den Bedeutungen der verschiedenen Masken und Insignien sowie auf ihrer wiederholt herausgestellten Beziehung zum Potlatch von 1921 und zur Familie Cranmer. Im Nuyumbalees Cultural Centre betont die Ausstellung die einzelnen Familien als Bewahrer der jeweiligen Objekte. Der Potlatch von 1921 war nicht allein der von Dan Cranmer, sondern ein gemeinsames Unternehmen mit seiner Frau Emma und mit Billy Assu, dem Häuptling von Cape Mudge. Anders als am U’mista Cultural Centre wendet sich die Ausstellung in Cape Mudge hauptsächlich an die eigene Gemeinde.
Trotz Vorhersagen von Behörden und Entscheidungsträgern, der Potlatch werde verschwinden, und trotz der unablässigen Bekräftigung ebendieser Vorhersagen nicht nur durch Politiker, sondern auch durch die Beschuldigten selbst (um die Behörden milde zu stimmen), ist der Potlatch nie ausgestorben. Er hat sich als ein erstaunlich geschmeidiges System erwiesen. Bisweilen wurde er gestückelt, mit europäischen Waren und Ideologien getarnt oder heimlich im Untergrund veranstaltet, doch er blieb im Wesentlichen das, was er war. Potlatch-Objekte zirkulieren heute hauptsächlich in Form von Masken: Manche werden eigens für den Kunstmarkt geschnitzt, andere wechseln als Teil einer Zeremonie den Besitzer. Beau Dick ist ein Schöpfer solcher Masken. Als Kind von Kwakwaka’wakw-Eltern lebt und arbeitet er in Alert Bay. Ein häufiges Motiv von Dicks Holzarbeiten, die zumeist an Sammler verkauft werden, ist die Kannibalin Dzunuk’wa. Das Verzehren des anderen dient in diesem Kontext als Platzhalter für den Kulturkonsum. 2012 versuchte Dick, diese Konsumbegierde kurzzuschließen, indem er vierzig seiner Masken von den Wänden seiner kommerziellen Galerie in Vancouver entfernte und mit nach Hause nahm, wo sie im Kreis der Gemeinde vor Zeugen, unter ihnen Künstler und Sammler, feierlich verbrannt wurden. Die Verbrennung der Masken war nicht einfach ein Akt der Zerstörung. Sie führte zu einer Serie neuer Masken, die nach vier Jahren des Gebrauchs beim Potlatch ebenso den Flammen übergeben werden.
Nach der Überlieferung gab es einmal eine Gemeinde, die beschloss, sich gegen Dzunuk’wa zu wehren. Die Menschenfresserin wurde gefangen und getötet. Damit sie ganz sicher nicht wieder ins Leben zurückkam, entzündete man ein großes Feuer, um ihren Körper zu verbrennen. Doch kaum war Dzunuk’was Körper schwarz und angesengt, verwandelte sie sich in einen Mückenschwarm. Etwas von dieser Verwandlung und Zerstreuung der Dzunuk’wa hat auch der Potlatch durchgemacht – als ein Brauch, der nur dank seiner Formwandlungen den Höhepunkt kolonialer Gewalt und Unterdrückung überlebte.
Aus dem Englischen von Herwig Engelmann
1 „Herr Dr. F. Boas über seine Reisen in Britisch-Columbien“, Sonder-Abdruck aus den Verhandlungen der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin, 1889, Heft 6., zit. in: Christopher Bracken, The Potlatch Papers: A Colonial Case History, Chicago: University of Chicago Press 1997, S. 6.
2 Ebd., S. 8.
3 Bracken, The Potlatch Papers, S. 46.
4 Jacques Derrida, Glas, München: Wilhelm Fink Verlag 2006, S. 11.
5 An Act to Further Amend The Indian Act, 1880, S.C. 1884, C. 27, s. 3.
6 Bracken, The Potlatch Papers, S. 35.
7 Michael Ames, Cannibal Tours and Glass Boxes: The Anthropology of Museums, Vancouver: University of British Columbia Press 1992, S. 139–150.
8 Bracken, The Potlatch Papers, a.a.O., S. 35.
9 Zitiert auf der Webseite der U’mista Cultural Society: www.umista.ca/collections/collection.php?item=134&all=&pg=1.
10 Zitat von Häuptling in Franz Boas, „The Indians of British Columbia“, in: The Popular Science Monthly, 32, März 1888, S. 628–636, hier S. 631.