Fabeln und andere Reisende
Als Jacob und Wilhelm Grimm in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf der Suche nach dem deutschen Volksgeist mit dem Aufschreiben, Sammeln und Veröffentlichen mündlich überlieferter Geschichten begannen, zähmten und glätteten sie mit der Niederschrift zugleich die zuvor nur in gesprochener Sprache weitergegebenen Volkslieder, Redewendungen und Märchen. Der Märchenkanon verschob sich von da an aus der mündlichen Sphäre in die schriftliche. Damit hatte das Märchen nun auch die Aufgabe, das Gedächtnis der Gesellschaft zu bewahren und zu verhandeln, während es den deutschen Dialekten zukam, der nationalen Identität eine konkrete Form zu geben. Doch Märchen weisen in aller Welt dieselben morphologischen Merkmale auf. Wir können sagen, dass Märchen wandern und immer schon gewandert sind. Sie entstehen und ziehen von Land zu Land „wie Staub über den Fußstapfen der Menschheit“. Sie lassen sich auf keinen Ort festlegen, außer vielleicht hinsichtlich der Stadien ihres Wandels oder der Erzählschemata einer Epoche oder eines bestimmten Kontexts. Sie finden sich vollständig und in gleicher Form in völlig verschiedenen gesellschaftlichen oder kulturellen Zusammenhängen und entziehen sich so auch ihrer Nutzung als historische Dokumente. Das „Es war einmal“ lässt sich im Wesentlichen auf keine bestimmte Zeit und keinen einzelnen Ort zurückführen. Das Märchen verstört und täuscht diejenigen, die es unschädlich zu machen trachten. Man kann von ihm eigentlich nur sagen, dass es eine bestimmte Geschichte an einem bestimmten Ort erzählt. Historisch waren die Erzähler von Märchen und volkstümlichen Geschichten Bettler, Reisende und Frauen, deren gesellschaftlicher Hintergrund und Stellenwert uns oft bis heute nicht bekannt sind. Diese oft des Lesens unkundigen Menschen reisten und erzählten ihre Geschichten gewissermaßen anonym, wobei sie mit jedem neuen Einfall und jeder Variation die Struktur des Märchens allmählich veränderten. Zunächst nur unter Erwachsenen erzählt, wurden Märchen später auch der Welt der Kinder angepasst, und seither verwischen die Grenzen zwischen reifen und kindlichen Zuhörerschaften. Ähnlich wirken die vom Studio 14 ausgewählten Lektüren und Erzählungen an einer öffentlichen Front – wo Kinder mit Zeit, Geschichte und Gedächtnis spielen, wo Erwachsene ihnen Miniaturen und Symbole der Vergangenheit anbieten oder Vorkommnisse schildern, die jeder Realität spotten und dadurch vielfältige Möglichkeiten eröffnen.