Unseren Platz in der Welt bestimmen wir oft anhand aufgeladener Richtungsangaben wie Nord–Süd oder Ost–West – oder andere tun dies für uns. Man könnte auch sagen, dass die Bewegung in diese Richtungen essentiell ist. Was bedeutet es also, wenn die documenta – eine fest im globalen Norden verwurzelte deutsche Institution, die als Ausstellung der „westeuropäischen Kunst“ gewidmet war, als sie 1955 in der Stadt Kassel, die im geteilten Deutschland an der Grenze zwischen West und Ost lag, entstand und untrennbar mit ihr verbunden blieb – im Jahr 2015 ein Magazin mit dem Titel South publiziert? Und was bedeutet es darüber hinaus für die documenta 14, wenn sie Gast eines bereits existierenden Athener Magazins namens South as a State of Mind wird?
Dies sind einige der Fragen, die wir uns in den vergangenen Monaten bei der Arbeit an unserer ersten Ausgabe von South in Athen gestellt haben. In seiner neuen, temporären Funktion als Magazin der documenta 14 erscheint South as a State of Mind erstmals Ende Oktober 2015, anderthalb Jahre vor den geplanten Eröffnungen der Ausstellung in Athen am 8. April 2017 und, zwei Monate später, am 10. Juni 2017 in Kassel.
Dem Konzept der documenta 14 folgend, eine Ausstellung an zwei Orten zu realisieren und im Zuge dessen mit bereits existierenden Institutionen und Initiativen zu arbeiten – und damit den exklusiven Status des Gastgebers zugunsten einer radikal rezeptiven Rolle aufzugeben –, werden wir in die Seiten von South as a State of Mind von Marina Fokidis aufgenommen, die das Magazin 2012 in Athen gegründet hat. Als Herausgeber von insgesamt vier Ausgaben für die documenta 14, die von nun an halbjährlich bis zur Eröffnung der Ausstellung im Jahr 2017 erscheinen werden, sind wir Gäste. In dieser Situation des Noch-nicht-Wissens und der Rezeption begreifen wir das South der documenta 14 – sowohl das Magazin als auch die durch den Titel evozierten gedanklichen Räume – als einen Ort der Recherche, der Kritik, der Kunst und Literatur, der parallel zur Vorbereitung der Ausstellung entsteht und uns dabei helfen soll, Anliegen und Ziele zu definieren und zu formulieren. Das Schreiben und Publizieren, in all seinen Formen, wird ein integraler Bestandteil der documenta 14 sein, und für uns ist dieses Magazin ein Vorbote dieses Prozesses.
Während diese erste Ausgabe produziert wurde, hat sich die andauernde ökonomische und humanitäre Krise in Griechenland dramatisch verschärft. Die Bildung, Auflösung und Neubildung der linksgerichteten Regierung – unter den von der EU auferlegten Sparprogrammen geschaffenen Bedingungen – wurde vom Beinahe-Zusammenbruch des griechischen Bankensektors begleitet. Gleichzeitig hat sich die Flüchtlingskrise mit Millionen Syrern, die vor dem Bürgerkrieg fliehen, sowie den Menschen, die der Gewalt und Unterdrückung im Irak, in Afghanistan und dem subsaharischen Afrika entkommen wollen, ausgeweitet. Wie schon häufig bemerkt wurde, ist dies die größte weltweite Flüchtlingsbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg, und für viele der Flüchtlinge, die nach Europa gelangen, ist Griechenland die erste Station. In diesem Ausnahmezustand wird das Magazin durch die Stimmen seiner Autoren – darunter Künstler, Dichter, Wissenschaftler, Architekten und Filmemacher – zu einer Manifestation der documenta 14, anstatt ein diskursiver Apparat zu sein, mittels dessen lediglich die in der Ausstellung behandelten Themen angekündigt würden.
„Im heutigen Prozess der Dekolonisation werden Erinnerungen an die Reisewege der Sklaven, Migranten und Flüchtlinge als Gegenreaktion auf die neue Politik des Vergessens wiederbelebt“, schreibt Françoise Vergès in der ersten Ausgabe. „Mit Erinnerung ist hier nicht der subjektiv fließende Gedankenbereich gemeint, sondern eine Quelle von Bildern, Texten und Liedern, die eine gegenhegemoniale Bibliothek für die Schlachten von heute formieren.“ Diese „gegenhegemoniale Bibliothek für die Schlachten von heute“ – voller Essays, Bilder, Geschichten, Reden, Tagebücher und Gedichte – ist es, die wir hier zusammenzustellen versucht haben und die wir als unsere Leitidee für die drei kommenden Ausgaben von South as a State of Mindebenso wie für das Publikationsprogramm der documenta 14 insgesamt betrachten. Während diese erste Ausgabe Formen und Figuren von Vertreibung und Enteignung sowie die darin aufzuspürenden Praktiken des – ästhetischen, politischen, literarischen, biologischen – Widerstands beleuchtet, werden die kommenden Ausgaben unsere Untersuchungen von Kolonialismus und Neoklassizismus, Performativität und schlechter Kopie, Stille und Masken, Feminismus und Transfeminismus, Hunger und Architektur sowie der Politik des Elends und dessen Erscheinungsformen, von Barmherzigkeit bis Geiz, fortführen. Mit diesem Magazin hat sich die documenta 14, inmitten dramatischer Ereignisse und Entwicklungen, die sich auf ganze Nationen und Kontinente auswirken, bereits auf die Reise begeben, mit bislang unbekanntem Ziel.
Zusätzlich zur gedruckten englischen Ausgabe von South as a State of Mind, das für die documenta 14 von Mevis & van Deursen, Amsterdam, neu gestaltet wurde, werden viele Inhalte auch in einer Online-Version des Magazins in drei Sprachen – Deutsch, Griechisch und Englisch – verfügbar sein.
Die Online-Version ist ab dem 31. Oktober 2015, gleichzeitig mit der Veröffentlichung der gedruckten Ausgabe, hier zu finden.
Zur Vorstellung der ersten von der documenta 14 herausgegebenen Ausgabe vonSouth as a State of Mind werden in den kommenden Monaten fünf miteinander verbundene Veranstaltungen in Athen, Berlin, Kassel, Dhaka und Kalkutta stattfinden, konzipiert von Adam Szymczyk, Künstlerischer Leiter der documenta 14, Quinn Latimer, Chefredakteurin der Publikationen, und Paul B. Preciado, Kurator der Public Programs. Weitere detaillierte Informationen zu diesen Veranstaltungen werden in Kürze auf der Webseite der documenta 14 verfügbar sein.
Mit Beiträgen von Alexander Alberro, Katerina Anghelaki-Rooke, Aristide Antonas, Hannah Arendt, Pierre Bal-Blanc, Miriam Cahn, Manthia Diawara, Angela Dimitrakaki, Maria Eichhorn, Fouad Elkoury, Marina Fokidis, Peter Friedl, Hans Haacke, Bhanu Kapil, Quinn Latimer, Yorgos Makris, Jonas Mekas, Marta Minujín, Naeem Mohaiemen, Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, Linda Nochlin, Paul B. Preciado, Thomas Sankara, Brandon Shimoda, Sven Stilinović, Adam Szymczyk, Françoise Vergès, Kaelen Wilson-Goldie und Stefan Zweig.
South as a State of Mind #6 [documenta 14 #1]
Herausgegeben von Quinn Latimer und Adam Szymczyk
230 x 300 mm, 262 S., zahlreiche Farb- und Schwarzweiß-Abb., in englischer Sprache
10,– EUR
Erscheinungsdatum: 31. Oktober 2015
ISSN 2241-3901
ISBN 978-3-86335-844-0
Gestaltung: Mevis & van Deursen, Amsterdam
Printed in Greece
Design von South Online: Laurenz Brunner, Julia Born, Julia Novitch
Realisierung: Systemantics