Maria Lai (1919–2013)

Als Maria Lai wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes als Kind bei ihrer Tante und ihrem Onkel unweit von Cardedu in Sardinien auf dem Land lebte, malte sie mit Holzkohle aus dem Herd kräftige Zeichnungen an die Küchenwände. Erst im Alter von neun Jahren begann sie damit, eine Schule zu besuchen. Sie hatte Schwierigkeiten mit dem Lesen und dem Buchstabieren, bis ein einfühlsamer Lehrer (der Dichter und Schriftsteller Salvatore Cambosu, der später ihr Mentor und enger Freund werden sollte) sie anwies, Gedichte laut vorzutragen und dabei einfach dem wechselnden Rhythmus von betonten Silben und Schweigen zu folgen. Für Lai, die 1919 geboren wurde und auf der Insel in einer Kultur aufwuchs, für die das Orale eine entscheidende Rolle spielte – vor allem in den sozialen Wirklichkeiten, die von der Stimme der Frauen bestimmt wurden –, überbrückte das gesprochene Wort den Spalt zwischen Analphabetentum und Bildung.

Als Künstlerin stand für sie später der Ausdruck der Sprache im Zentrum ihrer Praxis. Die Sujets von Lais ersten Bleistift- und Tintenzeichnungen, die 1957 in der Galleria L’Obelisco in Rom gezeigt wurden (dorthin war sie 1956 gezogen), waren noch sardische Frauen, die sich still in ihre Arbeit vertiefen; später wandte sie sich Strickarbeiten, Stoffflecken und Fäden zu, die lose von der Oberfläche ihrer Arbeiten herabhingen, gleich kühnen „asemantischen Schriften“, wie es die Dichterin und Kuratorin Mirella Bentivoglio genannt hatte. 1971, nach einem längeren Rückzug aus der Kunstszene, brachte eine Ausstellung in der Galleria Schneider in Rom eine ganz neue Richtung ans Licht: Mit dem Zyklus Telai (Webstühle) dekonstruierte Lai die gerahmte Leinwand und schuf Skulpturen, bei denen Malerei und Webkunst ineinander übergingen und durch die ihre Erfahrungen, ihre „archaischen“ Wurzeln, in das Vokabular zeitgenössischer Kunst übersetzt wurden.

Weitere abstrakte Kompositionen, etwa die großen Tele cucite (Genähte Leinwände), Lavagne (Tafeln), Geografie (Geografien), Lenzuoli (Laken), folgten in immer wieder neu ansetzenden Zyklen. Statt der Schreibmaschine, die von den Dichtern der Konkreten Poesie ihrer Zeit so geschätzt wurde, wählte sich Lai die Nähmaschine, um ihre Zeichen und „Buchstaben“ zu extrahieren und ihre unentzifferbaren, unleserlichen Schnörkel aufzuzeichnen. Sie buk Bücher aus Brot und Ton, andere wieder nähte sie von Anfang bis Ende aus weichem Stoff oder Papier. Als Lai von der Stadtverwaltung von Ulassai, ihrem Geburtsort, gefragt wurde, ob sie ein Denkmal für die im Krieg Gefallenen schaffen wolle, schlug sie stattdessen ein „Denkmal für die Lebenden“ vor: Legarsi alla montagna (Sich selbst an den Berg binden). 1981 säumte sie ein ganzes Dorf ein und nähte es zusammen, indem sie ein blaues Band aus Jeansstoff von Haus zu Haus verlaufen ließ und bis zum Gipfel der umgebenden Berge, wie es eine uralte Volkssage erzählt. Dieser „Sozialen Skulptur“ folgten weitere öffentliche Aktionen und Arbeiten in Aggius, Camerino, Orotelli, Siliqua und Villasimius sowie neue Außen-Projekte in Ulassai. Parallel dazu arbeitete Lai mit Theaterkompanien zusammen, hielt Workshops in Schulen ab und verlieh ihrer Geschichte in Künstlerbüchern wie La barca di carta (Das Boot aus Papier, Arte Duchamp, Cagliari, 1996) Stimme, dessen Seiten „die Fäden einer Reflexion über das Machen, das Lesen und die Neudefinition von Kunst zusammenspannen wollen“, wie es die Künstlerin selbst ausgedrückt hat. Lai starb 2013 in Cardedu.

— Barbara Casavecchia

Aus dem Englischen von Andreas L. Hofbauer

Gepostet in Notizen am 18.04.2017
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