Anne Charlotte Robertson (1949–2012)

Anne Charlotte Robertson, Spirit of ’76 (1976), Digitales Video übertragen von Super-8, Filmstills, Courtesy Harvard Film Archive

Anne Charlotte Robertson, die 1949 in Massachusetts geboren wurde, war eine Filmemacherin, die ihre Super-8-Kamera und ihre scharfe Selbstwahrnehmung einsetzte, um eine radikal intime Form des subjektiven Kinos zu schaffen. Auch wenn sie bereits zu Lebzeiten eine gefeierte Künstlerin war, wird Robertson erst heute als einflussreiche Pionierin des subjektiven Tagebuch-Kinos anerkannt, das sich vor allem in der Gegend von Boston und Cambridge entwickelte, am bekanntesten vielleicht in der Arbeit von Ed Pincus und Ross McElwee. Robertson, die unter psychischen Krankheiten litt, entdeckte eine wichtige Form der Selbsttherapie in der tagebuchartigen filmischen Praxis, die sie in ihrem Opus magnum Five Year Diary (1981–1997) entwickelte und verfeinerte. Dessen 81 Kapitel, oder „Rollen“, verschmelzen kühne formale Experimente, selbstironischen Humor und ungefilterte Emotionen zu einer aufgeladenen und dabei lyrischen Chronik eines oftmals schmerzvoll schwierigen Lebens. Kathartisch und niederschmetternd, kantig und ergreifend zart, entwaffnend komisch und meditativ, präsentiert Robertsons Five Year Diary das bemerkenswert offene und aufschlussreiche Selbstporträt einer Künstlerin und Frau, die darum ringt, die überwältigenden Begierden und dunklen Schatten zu verstehen, die ihre Welt ausmachen. Trotz ihrer extremen Länge und Intensität bleibt die Arbeit auf wunderbare Weise zugänglich und fesselnd, getragen von der Stärke und Schönheit von Robertsons Bildwelt. Besonders beeindruckt Five Year Diary durch seine innovative performative Kommentarstimme, wobei Robertson bei öffentlichen Vorführungen häufig einen zweiten Live-Kommentar aufnahm, um eine intensive, beinahe musikalische Vielfalt an Stimmen zu schaffen, in denen sich der unaufhörliche innere Dialog und die Selbstdarstellung verkörpern, die wichtige Konstanten von Robertsons Filmschaffen sind.

Anne Charlotte Robertson, Reel 80: May 14—September 26, 1994: Emily Died, aus Five Year Diary (1981­–1997), Digitales Video übertragen von SD-Video, Filmstills, Courtesy Harvard Film Archive

Die einzigartige Vision und das Engagement von Robertsons – im wahrsten, umfassendsten Sinne des Wortes – unabhängigem Kino wird schon in ihren ersten Arbeiten unmittelbar sichtbar, die sie bereits vor ihrer Aufnahme an das Massachusetts College of Art schuf, an dem sie 1985 ihren MFA erlangte. Bereits in frühen Arbeiten wie Spirit of ’76 zeigen sich die scharfe Selbstbeobachtung, der schräge Humor und die obsessive Aufmerksamkeit für Details und Texturen, die zu wesentlichen Charakteristika ihrer folgenden Filme werden sollten. In dem entschlossen avantgardistischen Film/Video-Programm am MassArt fand Robertson einen wichtigen Mentor in ihrem Lehrer Saul Levine, einem Super-8-Tagebuchautor und Aktivist, dessen maschinengewehrartiger Montagestil und dessen Faszination durch das Licht deutlichen Einfluss auf Robertsons Filmarbeit ausübten. Dank ihrer Erfahrungen vom MassArt konnte Robertson an ihrer kühn experimentellen und eigenständigen Filmkunst feilen, indem sie mit der Arbeit verschiedener zeitgenössischer und avantgardistischer Filmemacher in einen lebhaften und nachhaltigen Dialog trat. So sollte Robertsons Aufgreifen der Stop-Motion-Animation und einer Art von performativem Selbst als „Star“ im Kontext der Arbeit von Marie Menken, Andy Warhol und Luther Price – ebenfalls ein Absolvent des MassArt – gesehen werden.

— Haden Guest, Leiter des Harvard Film Archive

Anne Charlotte Robertson, Reel 23: September 1–December 13, 1982: A Breakdown (And) After The Mental Hospital, aus Five Year Diary (1981­–1997), Digitales Video übertragen von Super-8, Filmstills, Courtesy Harvard Film Archive

Aus dem Englischen von Robert Schlicht

Gepostet in Notizen am 12.05.2017
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