Zum Gedenken an Pauline Oliveros (1932–2016)
von Alvin Lucier

Pauline Oliveros im Studio des San Francisco Tape Music Center mit modularen Buchla 100-series Synthesizern, 1966, Foto: David Bernstein, courtesy: IONE

Ich habe Pauline Oliveros 1965 in Cleveland, Ohio kennengelernt. Der Pianist David Tudor sollte ein Konzert an der dortigen Case Western Reserve University geben und lud Pauline und mich zur Mitwirkung ein. Ich sagte gerne zu. David hatte eben erst begonnen, sich von seiner ausschließlichen Performancetätigkeit mit John Cage zu lösen, und suchte die Zusammenarbeit mit jüngeren Komponist_innen. Pauline landete am Flughafen von Cleveland mit einem Vierspur-Tonbandgerät auf Rädern und einem verstauchten Knöchel.

Auf dem Programm des Abends standen Paulines Light Piece for David Tudor, eines von John Cages Werken für Kehlkopfmikrofone und mein Stück Music for Solo Performer. Während Paulines Werk aufgeführt wurde, begann jemand im Publikum lautstark zu protestieren, worauf Pauline einfach in seiner nächsten Nähe die Lautstärke anhob und ihn damit umgehend zum Schweigen brachte.

Pauline lernte elektronische Musik am San Francisco Tape Music Center kennen und setzte ihre Arbeit später am Electronic Music Studio der Universität Toronto fort. In Toronto brach sie mit der damals üblichen Form der Tonband-Komposition, die darin bestand, Klänge zu manipulieren und diese Bearbeitung in der Aufnahme als endgültiges Werk zu fixieren. So schuf sie für I of IV (1966) eine umfangreiche Installation und nutzte Zeitverzögerungen verschiedener Art, um daraus eine Echtzeit-Komposition zu erzeugen. Sie erforschte eingehend das Innenleben und die Möglichkeiten des Tonbandgerätes. Beispielsweise zweckentfremdete sie die Frequenzvormagnetisierung als Frequenzoszillator, oder sie nutzte verschiedene Zeitverzögerungen in der Signalübertragung durch die kurze Distanz zwischen Ausgangs- und Eingangsbuchsen für kompositorische Zwecke. Auch arbeitete sie mit den Aufnahme- und Abspieltonköpfen auf dem Gerät und verband mehrere Apparate zu langen Endlosschleifen. Ihre Auffassung von Zeit gründete nicht auf psychologischen Mutmaßungen, und sie verzichtete dementsprechend auf vorsätzliche Veränderungen von Kontrast, Timbre, Tempo und anderer, mit der musikalischen Komposition üblicherweise verbundener Parameter. Stattdessen entsprang der Fluss ihrer Werke einem tiefen Verständnis und einer schöpferischen Nutzung naturgegebener Eigenschaften der Geräte und ihrer Konfiguration.

Damals war es ein radikal neuer Ansatz, die Beschaffenheit von Musiktechnologie selbst, ihre Apparaturen und Programme zu ergründen und zu erforschen, anstatt diese einfach mit üblichen Mitteln zu benutzen. Pauline Oliveros erkannte die Notwendigkeit, zu verstehen, wie die Maschinen taten, was sie taten, anstatt einfach nur zu wissen, was sie taten. Ihr Bestreben, zum Kern der Dinge vorzudringen, zog sich durch ihre gesamte künstlerische Arbeit von den Sonic Meditations bis hin zu ihren Deep Listening-Projekten. Oliveros’ tiefgehende Kenntnis der Technologie und der wirklichen Welt, in der wir leben, aber auch deren menschlicher und spiritueller Belange war unvergleichlich. Mit alldem widerlegte sie kontinuierlich die hartnäckigen Geschlechtervorurteile unter den Komponist_innen, und ich halte dies für ihr vielleicht wichtigstes Geschenk an uns.


Alvin Lucier ist Komponist und Klangkünstler.

Pauline Oliveros mit John Baldessaris Beethoven’s Ear (2007), Bonner Kunstverein, Bonn, 2007, Foto: IONE

Aus dem Englischen von Herwig Engelmann

Gepostet in Notizen am 23.12.2016
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