Rituelle Yoruba-Musik, aufgenommen im Tempel der Yemayá in Álava, der größten Mitte des 19. Jahrhunderts errichteten Zuckerplantage Kubas.
Die frühere Álava-Plantage in der Provinz Matanzas auf Kuba beschwört ihren Klang, ehe man ihn tatsächlich hört. Im Januar 2017 besuchten wir die Plantage, um die dort aktiven Musiker_innen aufzunehmen, und man empfahl uns, sie beim Glockenturm zu finden. Heute schweigt und verfällt der Bau. Er ist einer der kunstvollsten Plantagen-Glockentürme der Insel und wird von einem dreistöckigen Glockenstuhl mit Uhrenturm gekrönt, der über dem bogenförmigen Eingang zu den alten Sklavenkasernen aufragt. Als die Plantage in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Betrieb war, wurden die Glocken dazu genutzt, die Arbeitskräfte zu steuern – siebenhundert Sklav_innen riefen sie auf dem achthundert Hektar großen Anwesen zur Arbeit. Wenn Sklav_innen entschieden, dem Ruf nicht zu folgen, sondern zu flüchten, schickte Don Julián de Zulueta, der Besitzer der größten Plantage Kubas und der reichste Mann der Insel, ihnen Suchtrupps mit der Anweisung hinterher, eine oder einen der entlaufenen Sklav_innen lebendig zurückzubringen. Das Opfer wurde am Bogen unter dem Glockenstuhl aufgehenkt, bis der Tod eintrat. Seine sterblichen Überreste blieben dort hängen, und die Vögel machten sich darüber her. Allen, die auf dem Weg zur oder von der Arbeit auf dem Feld oder in der Mühle durch das Tor schritten, galt dies als Warnung.
Als wir den Torbogen durchschritten, stießen wir auf ein eingeschossiges Gebäude, das den Tempel der Yemayá beherbergt, die Yoruba-Göttin des Meeres und Mutter aller Heiligen. Im Inneren des Tempels leitete ein junger Trommler ein Ensemble von Batá-Trommlern. Er spielte die führende Iya-Trommel mit großem Können, mit Widerständigkeit und mit Hingabe an seine Vorfahr_innen, die es gebraucht hatte, um die Gottheiten der Yoruba in der Neuen Welt lebendig zu erhalten. Die Iya-Trommel, die er spielte, ist mit Schalen von Seeschnecken und einem kreisrunden Spiegel geschmückt, der dem Altar zugewandt war. Die Gottesdienstbesucher_innen spiegeln sich darin, wenn sie sich der Trommel nähern. Die Einwohner_innen von Álava halten diese Musik ihrer westafrikanischen Ahnen aus Nigeria und Benin lebendig, während sie in Afrika allmählich zu schwinden beginnt.
Geht man die Calle Medio, den Hauptboulevard der Stadt Matanzas, entlang, hört man die kathartischen Donnerschläge der Dominosteine, wenn die Bewohner_innen am Sonntagmorgen leidenschaftlich ihrem Spiel nachgehen. Über der ganzen Stadt liegen die theatralischen Klänge der Ausrufer, die bald von den großen globalen Firmen mit ihren fremden Werbefeldzügen und Marketingkampagnen abgelöst werden. Im Stadtzentrum trafen wir auf Alfredo Comas García, einen berühmten Barkeeper, der uns von seinem Traum erzählte, eine Bar namens „Bar Matanzas 1945“ zu eröffnen. Er erklärte uns die Geschichte der Mixgetränke der Insel, angefangen bei den „Cocktails“, die von den Sklav_innen aus grobraffiniertem Sirup hergestellt worden waren. Er beschrieb die Pracht der kubanischen Bars Mitte des 20. Jahrhunderts, die oftmals über eine Jukebox verfügten, aus denen die neuesten Musiktrends der Insel erklangen. In dieser Ära brachte eine Gruppe von Hafenarbeitern und Rumba-Musikern aus Matanzas die 45-er Hitsingle „Los Muñequitos“ heraus, in der sie über Comicstrips aus der Tageszeitung sangen. Später nannte sich die Gruppe „Los Muñequitos de Matanzas“. Heute tritt eine jüngere Generation von Muñequitos unter dem Namen der ikonischen Rumba-Gruppe auf. Comas García erzählte, wie er mit jedem – von Fidel Castro oder führenden Kulturanthropolog_innen bis hin zu durstigen Matanzeros – sprach, und wie alle seine 150 originalen Cocktails und die freundliche Atmosphäre, die er geschaffen hatte, genossen. Einige Wochen nach dem Beginn unseres Gesprächs verstarb Comas García im Alter von fünfzig Jahren.
Um vier Uhr nachts, wenn die Raubtiere schlafen, ist die Ciénega de Zapata vom Geräusch von Insekten erfüllt. In dem 4162 Quadratkilometer großen Biosphärengebiet lässt es sich vorstellen, wie Matanzas klang, ehe es von Menschen betreten wurde. Wir trafen den Biologen Nelvis Gómez-Campos vom kubanischen Ministerium für Wissenschaft, Technologie und Umwelt, der mit uns in die Dunkelheit hineinlauschte, bis die Sonne aufging und die Geräusche der Insekten durch ein gewaltiges Flügelschlagen von oben abgelöst wurden, begleitet vom aufgeregten Geschnatter von bis zu 175 Vogelarten, die Ausschau nach Orten in der Nähe von Mündungsgebieten und Weihern hielten. Nur wenige Kilometer von unserem Hörposten entfernt fand die Invasion der Schweinebucht statt; dort landete 1961 eine von der CIA bezahlte, paramilitärische Gruppe in Kuba, um die Regierung Fidel Castros zu stürzen. Einstweilen gehört die Region wieder den Insekten und Vögeln, die gemeinsam ein kollektives Lied Amerikas singen.
In seiner Jugend Schiffsbelader, leitete der 76-jährige Raphael Navaro dieses Ensemble mit dem jungen Solisten José Andro Mella Bosch und Reyniel López González.
Fotos und Audioaufnahmen von Neil Leonard in Matanzas, 2016/2017. Die Aufnahme von Raphael Navaro wurde mit der Unterstützung von El Almacen, Matanzas, Kuba, gemacht.
Aus dem Englischen von Andreas L. Hofbauer