Montag, 31. Juli 2017, 24.00 Uhr auf ERT2
Pays Barbare (Barbaric Land), 2013, Frankreich, 65 Min.
Regie: Yervant Gianikian und Angela Ricci Lucchi
In dem Film Pays barbare stellen Angela Ricci Lucchi und Yervant Gianikian die Frage: „Was ist Faschismus?“ Wie wird er geboren, wie ist er verwurzelt, und was verbindet seine unterschiedlichen Strömungen? Der Film wurde aus dokumentarischen Archivaufnahmen komponiert und steigt in die dunkelsten Jahre der italienischen Geschichte hinab.
Zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg war das Land vom Faschismus geprägt und beging in Libyen und Eritrea wahre Schandtaten. Ricci Lucchi und Gianikian schöpfen aus einer wilden Mischung von Bildmaterial aus dieser Zeit: Luftaufnahmen; Versatzstücken aus privaten Kontexten, Industrie und Propagandamaterial; Fotografien; Arbeiten aus verschiedenen Filmsammlungen; Zeichnungen. Jedes Bild wird genauestens betrachtet und neu abfotografiert – dadurch entsteht eine „neues“ Bild, ein Zeugnis des Betrachtungsaktes. Diese penible Bildanalyse, die einem „Abscannen“ gleichkommt, verleiht dem Film seine erschütternde und verstörende Wirkung. Die Botschaft der KünstlerInnen lautet: Nichts darf man jemals dem Vergessen überlassen; man muss Widerstand leisten gegen das Verfließen; Widerstand leisten gegen das Schweigen. Es gibt kaum eine politischere Haltung.
Der Film beginnt mit einem Bild von Benito Mussolinis leblosem Körper neben dem seiner Geliebten Claretta Petacci auf einem öffentlichen Platz in Mailand im Jahr 1945. Im Zentrum allerdings steht nicht der Diktator, sondern die neugierigen Schaulustigen. Die Öffentlichkeit ist hier die Protagonistin: Sie wird genau unter die Lupe genommen und scheint dabei doch den Blick der Filmzuschauer auf sie zurück zu richten. Auf diese stumme Szene folgt eine Reise rückwärts in eine lärmende Geschichte.
Die stummen Mailänder Bürger repräsentieren die Fragen der KünstlerInnen. Warum schweigen sie? Wohin schauen sie? Wie können sie glotzen, aber nichts tun? Der Film endet mit Geistern, negativen Schatten, die tanzend die faschistische Geschichte Italiens hinter sich lassen und universell werden. Ist dies ein „Totentanz“, oder ist die Menschheit der Geist der Geschichte? Eines ist sicher: Die Zukunft bleibt obskur.
—Andrea Lissoni