Die Zerstörung des antiken Karthago inspirierte die italienische Künstlerin Lara Favaretto zu einer Arbeit für die erste (und bisher einzige) Ausstellung Carthage Contemporary, die von Mai bis Juni 2012 unter dem Titel Chkoun Ahna (in tunesischem Arabisch „über uns“) im Karthago-Nationalmuseum stattfand. Die Arbeit, As If a Ruin, bestand aus einem Kubus aus zusammengepresstem dunkelbraunem Konfetti, der inmitten der antiken römischen Mosaiken in der ständigen Sammlung des Museums installiert war. Die Arbeit verwies auf die Trümmer der Stadt nach ihrer Zerstörung durch die Römer im Jahr 146 v. Chr., doch einer der Kuratoren der Ausstellung bemerkte: „Viele tunesische Besucher waren überzeugt, dass die Arbeit die Kaaba repräsentierte“ – den heiligen schwarzen Stein im Zentrum von Mekka. Diese Fehlinterpretation war ein potenziell explosives Thema; die alljährlich stattfindende Ausstellung Printemps des Arts im Palais Abdelliya in La Marsa, einem Vorort von Tunis, hatte Unruhen und Proteste ausgelöst, weil salafistische Gruppen einige Kunstwerke für gotteslästerlich hielten. Da Favarettos Arbeit während der Laufzeit von Chkoun Ahna allmählich zerfiel, bot sie eine mögliche Angriffsfläche für Blasphemievorwürfe, wie sie gegen Werke in der benachbarten Ausstellung erhoben wurden. Anderthalb Jahre nach dem Arabischen Frühling und der sogenannten Jasminrevolution in Tunesien, unter der Regierung der islamistischen Ennahda-Partei und vor dem Inkrafttreten der neuen tunesischen Verfassung sowie der Wahl der säkularen Partei Nidaa Tounes 2014, kamen in den hitzige Debatten über den Islam und die zeitgenössische Kunst Hoffnungen und Ängste zum Ausdruck, die mit der politischen Übergangszeit in Tunesien einhergingen.
As If a Ruin erinnert uns durch seine Platzierung in Sichtweite der musealen Dauerausstellung römischer Mosaiken, die von den Oberherrschern und Zerstörern des antiken Tunis angefertigt wurden, an unsere Verletzbarkeit durch die Anwendung von Gewalt. Obwohl diese Mosaiken mit der Versklavung und Zerstörung der Stadt durch die römischen Eroberer zu tun haben, spielen sie die imperiale Gewalt eher herunter, anstatt sie anerzukennen. Favarettos Arbeit vermittelt den Mosaiken seine eigene Vergänglichkeit: Diese werden zu deutlichen, fragmentarischen Zeichen des Ruins der Eroberer, auch wenn dieser Ruin ebenso dem Vergehen der Zeit wie der Einwirkung von Gewalt geschuldet war. Das „momentane Monument“ löst eine andere Reaktion auf Gewalt aus, eine Gabe in Form einer mehrdeutigen Ruine, die Vergangenheit und Gegenwart, das karthagische Damals und das tunesische Heute enger miteinander verknüpft. Unterdessen projiziert die Fehlinterpretation des Werks als Kaaba die römische Herrschaft und das Leid Karthagos in die Gegenwart, indem sie den Horizont der Schau darauf verengt, eine Ausstellung „über uns (Tunesierinnen und Tunesier)“ als eine islamische Kultur zu sein. Wenn man Favarettos Werk als Symbol der Kaaba interpretiert, zeigt es den schmalen Grat zwischen der Dauerhaftigkeit und Zerbrechlichkeit eines Schlüsselsymbols der islamischen Kultur in der Übergangszeit nach dem Arabischen Frühling, die von der neuen islamistischen Regierungspartei, den gewalttätigen Proteste der Salafisten und den Rufen nach einer säkularen Regierung geprägt war. Wenn die Zivilisation des antiken Karthago durch die Gewalt der römischen Herrschaft zerstört und ihre Kultur ersetzt werden kann (wofür die Mosaiken ein Sinnbild sind), worin besteht dann der Unterschied der islamischen Kultur? Und selbst wenn die islamische Kultur gegenwärtig triumphiert wie die damaligen Sieger und ihre Mosaiken, ist sie nicht trotzdem in Gefahr, in der Zukunft zu einer Ruine – in Form einer zerbröckelnden Kaaba – zu werden? Diese Gefahr erteilt eine moralische Lektion über die Grenzen der Macht und die Möglichkeit, dass Gewalt die Kräfte einer ebenso gewaltsamen Vergeltung freisetzt. Auf diese Weise erinnert uns die Installation von As If a Ruin im Karthago-Nationalmuseum daran, dass Gewalt die Besiegten ebenso beeinflusst wie die Sieger, in einer Beziehung, die auf Gegenseitigkeit beruht und einen grundlegenden Moralkodex der gerechten Vergeltung festlegt.
Auf die gewaltsame Vergangenheit zurückzublicken, um dadurch im Sinne dieser Moral der Gewalt in die Gewalttätigkeiten der Gegenwart einzugreifen, ist ein Schlüsselmotiv im Denken der Philosophin und Aktivistin Simone Weil (1909–1943). In Essays wie „Beginnen wir den Trojanischen Krieg nicht von Neuem“ (1937) und „Die Ilias oder das Poem der Gewalt“, der Ende der 1930er-Jahre in einem ihrer Cahiers skizziert und 1940 veröffentlicht wurde, bezog sich Weil auf den Trojanischen Krieg zurück, um die Moral der zeitgenössischen politischen Macht und Gewalt zu erforschen, und stützte sich dabei vor allem auf den schöpferischen, poetischen Blick von Homers Ilias. Im französischen Originaltitel „Ne recommençons pas la guerre de Troie“ klingt Jean Giraudoux’ Theaterstück La guerre de Troie n’aura pas lieu an, was die Analogie zwischen dem Trojanischen Krieg und der zeitgenössischen Politik ausdrücklich betont. In diesem Essay untersucht Weil verschiedene Konflikte der damaligen Zeit (den Klassenkampf, den Kampf zwischen Kommunismus und Faschismus) im Hinblick auf das, was sie als den zutiefst „irrealen Charakter“ ihrer Ziele bezeichnet. Sie führt aus, dass die Griechen und Trojaner wegen eines Symbols (Helena) Krieg führten; in zeitgenössischen Konflikten „sind es mit Großbuchstaben dekorierte Worte, die Helenas Rolle einnehmen“ (wie etwa Nation, Kapitalismus, Kommunismus, Demokratie, Ordnung). Um zu verhindern, dass solche Worte als Banner oder Waffen benutzt werden, fordert Weil zu einer sokratischen Analyse dieser Begriffe auf, damit sie dank einer sorgfältigen Definition und genauen Untersuchung ihren Großbuchstaben-Status und ihre irreführende Macht verlieren.
Im Mittelpunkt von „Die Ilias oder das Poem der Gewalt“ steht das homerische Epos, in dem die Gewalt, wie Weil im Eingangssatz ihres Essays formuliert, „der eigentliche Held“ ist. Die Idee der Gewalt beruhte in der griechischen Antike, wie Weil argumentiert, auf Ausgewogenheit oder Ausgeglichenheit: Ihr exzessiver Einsatz wurde durch Vergeltung an dem, der sie ausgeübt hatte, bestraft. Weil kommentiert die zeitgenössische Gewalt indirekt und macht dabei Homers Epos zu einem entscheidenden Bezugspunkt zeitgenössischer Machtverhältnisse und Ideologien. Beispielhaft hierfür ist ihre berühmte Umformulierung der homerischen Zeilen, in denen Andromache ihren Mägden befiehlt, für Hektor ein warmes Bad vorzubereiten, nicht wissend, dass dieser bereits niedergemetzelt worden war: „Fast das gesamte menschliche Leben spielte sich weit weg von den warmen Bädern ab.“
Weils Zitate aus der Antike beschränken sich allerdings nicht auf Griechenland; in ihren Schriften bezieht sie sich ausführlich und kritisch auf Rom. Auch in ihrem dreiteiligen Essay „Einige Überlegungen zu den Ursprüngen des Hitlerismus“, der zur gleichen Zeit wie „Beginnen wir den Trojanischen Krieg nicht von Neuem“ und „Die Ilias oder das Poem der Gewalt“ entstand, aber erst postum vollständig veröffentlicht wurde, bezieht sie Konflikte der Antike in aktuelle Debatten ein und entwickelt weitreichende Analogien zwischen dem Hitlerismus in Deutschland und dem Römischen Reich der Antike; dabei hebt Weil die Zerstörung Karthagos und die kolonialistische Unterdrückung Griechenlands als ultimative Beispiele für die Grausamkeit Roms hervor. Auf diese Analogie verweist sie auch in „Gedanken zum Zwecke einer Bilanz“ – ein weiterer Essay, der 1939 entstand und in dem sie ihre Bestandsaufnahme der Tragödie, die in Europa heraufzieht, mit einer denkbar weit gefassten historischen Betrachtung beginnt. Vergessen Sie die Völkerwanderung, den Hundertjährigen Krieg, die Herrschaft von Karl V., Ludwig XIV. und Napoleon; Weil sieht nur eine einzige Tragödie, die dem Vergleich standhält:
Um eine Epoche zu finden, in der die Entwicklung einer politischen Lage im selben Maße, in allen sozialen Milieus, über alle Länder hinweg die Geister beschäftigt hat, müssen wir bis zu jenem Moment zurückgehen, in dem Rom Karthago zerstört hat und Griechenland erstickte; ein Moment, der so entscheidend war, dass wir noch heute an seinen Folgen leiden, ohne seine gravierende Bedeutung ermessen zu können. Nichts Vergleichbares hat sich seither wieder ereignet.
Das, was Weils verschiedene Essays trotz der Unterschiedlichkeit ihrer Beispiele – Griechenland und Troja, Rom und Karthago – miteinander verbindet, ist die Verpflichtung der Autorin auf einen Moralkodex, der ebenso auf ihren Studien zur antiken griechisch-römischen Literatur und Geschichte wie auf ihrem christlichen Mystizismus beruht. Sowohl im Ilias-Essay als auch in „Einige Überlegungen zu den Ursprüngen des Hitlerismus“ verdeutlicht Weil ihre Ablehnung des römischen Modells und verteidigt stattdessen Griechenland, weil es ebenso über das Leid wie über die Ausübung von Gewalt reflektiert. Aus Weils Sicht machen die Griechen ihre historischen Gewaltakte mithilfe der Kunst wieder gut; sie erkennen das Leid an, erfüllen es mit Schönheit und ziehen daraus moralische Lehren; die Römer setzen gewaltsame Gräueltaten durch Perfidie, Grausamkeit, Propaganda und Selbstbetrug bloß fort. Und Troja und Karthago dienen Weil, die Ende der 19030er Jahre für ein französisches Publikum schreibt, nicht nur als starke Bezugspunkte im Hinblick auf die Aggressionen Hitlerdeutschlands, sondern auch in Bezug auf das moralische Problem der kolonialen Gewalt Frankreichs. In einem leidenschaftlichen Brief, den Weil Ende 1939 oder Anfang 1940 an Jean Giraudoux in seiner Funktion als Commissaire Général à l’Information schrieb, protestierte sie gegen die Gewalt des französischen Kolonialismus. In diesem Brief zieht Weil mehrere Analogien zur Antike, um die französische Regierung wachzurütteln – vor allem wegen der blutigen Niederschlagung eines Bergarbeiterstreiks in Südtunesien 1937. Sie beschreibt, wie sie in einer Zeit lebt, die mehr mit der Gewalt des antiken Rom gemeinsam hat und in welcher der griechische Moralkodex mit seiner Betonung der Ausgewogenheit und des Gleichgewichts verlorengegangen ist. Als Reaktion auf diese Lage setzte Weil auf die Wiederherstellung griechischer Tugenden in nichtwestlichen Kulturen und behauptete, dass die französischen Kolonien in Indochina und Nordafrika eher in der Lage seien, ihre „römischen“ europäischen Unterdrücker „Griechisch“ zu lehren.
Griechische Buchstaben
Demonstrationen in Tunis gegen die französische Kolonialherrschaft, 9. April 1938. National Archives of Tunisia, Tunis
Wenn man die vordere Umschlagseite von Weils Cahier der Vorkriegszeit betrachtet, das zwischen 1933 und 1939 entstand, entdeckt man darauf ein Mosaik aus antiken griechischen Buchstaben, das Zitate aus der Ilias, griechischen Tragödien und Texten des römischen Kaisers und Philosophen Marcus Aurelius umfasst. Zwei Zitate sind durch ihre Position und Schriftgröße besonders hervorgehoben:
ἀεὶ ὁ θεὸς γεωμετρεῖ [Gott ist immer Geometer]
δòς που στῶ καὶ κοσμòν κινήσω [Gebt mir einen festen Punkt, und ich werde die Welt aus den Angeln heben]
Das erste, Plato zugeschriebene Zitat macht die Geometrie zur Basis des Platonismus. Das zweite, Archimedes zugeschriebene, ist die grundlegende Aussage zum Begriff des Gleichgewichts in der Physik. Als Weil Archimedes auf den Seiten ihres Cahiers erneut zitiert, fügt sie dieser mathematischen Weisheit eine kulturelle und politische Bemerkung hinzu:
der Standpunkt: dieser Grundbegriff des Gleichgewichts …
[…] Griechenland ist die Jugend der Menschheit. Aber das von dieser Jugend versprochene Mannesalter ist leider nie gekommen.
Weils wehmütiger Tonfall angesichts dieses verlorenen griechischen Traums ist in ihren gesamten Schriften vernehmbar, wobei sie besonderen Nachdruck auf die Begriffe des Gleichgewichts und der Vergeltung legt. In einer entscheidenden Passage von „Die Ilias oder das Poem der Gewalt“ behandelt sie die diese Idee ausführlicher:
Diese mit geometrischer Strenge erfolgende Bestrafung für den Missbrauch der Macht war der erste Gegenstand des griechischen Denkens. Sie ist die Seele des Epos; als Nemesis ist sie das Grundmotiv der Tragödien von Aischylos; die Pythagoräer, Sokrates und Platon haben sie zum Ausgangspunkt ihres Denkens über den Menschen und das Universum gemacht. Sie ist überall dort zu einem Begriff geworden, wo der Hellenismus vordrang. Vielleicht ist es diese griechische Anschauung, die sich in den vom Buddhismus geprägten Ländern des Ostens unter dem Namen des Kharma erhalten hat. Die westliche Welt aber hat sie verloren und findet in keiner ihrer Sprachen auch nur ein Wort dafür; Begriffe von Grenze, Maß oder Gleichgewicht, die die Führung des Lebens bestimmen sollten, finden nur noch in der Technik eine untergeordnete Verwendung.
Der moralische Imperativ der Griechen entging dem Westen, und die griechischen Tugenden Gleichgewicht, Grenze und Maß wurden zur bloßen „Technik“, zum rein Physikalischen herabgewürdigt. Die Funktionsweise der gesamten westlichen Kultur wurde dadurch geprägt, wie die Gewalt aus beseelten Wesen Dinge macht.
Weils Schriften über das System des Gleichgewichts und der Vergeltung entwickeln sich in „Die Ilias oder das Poem der Gewalt“ methodisch zu einer Diskussion darüber, wie die Gewalt Menschen in Dinge transformiert. Sie beginnt mit dem einfachsten Fall, in dem die Gewalt den Menschen „im wortwörtlichsten Sinne“, wie sie sagt, zu einem Ding macht, nämlich wenn sie ihn in einen Leichnam verwandelt. Doch anschließend beschreibt sie ein anderes Szenario, in dem eine „viel erstaunlichere Gewalt“ herrscht: jene, „einen Menschen bei lebendigem Leibe zum Ding zu machen.“ Hierfür gibt Weil eine Reihe von Beispielen. Zuerst wird der trojanische Prinz Lykaon bei seiner Begegnung mit Achill zum Ding, denn schon bevor er von diesem getötet wird, entmenschlicht ihn die Angst vor seinem bevorstehenden Schicksal: „noch atmet er und ist doch nur noch ein stoffliches Ding, noch denkt er und kann doch an nichts mehr denken: […].“ Es folgt König Priamos in dem Moment, in dem er Achill um die Rückgabe des geschändeten Körpers seines Sohnes Hektor anfleht; doch die Transformation des Priamos in ein Ding ist nur eine zeitweilige, denn immerhin „werden die Flehenden, wenn man sie erhört, wieder Menschen wie andere auch.“ Und dann sind da noch jene, die, anders als Lykaon oder Priamos, nicht durch Tod oder Erhörung von ihrem Elend erlöst werden:
Es gibt aber weit Unglücklichere, die, ohne zu sterben, ihr Leben lang zum Ding geworden sind. Ihre Tage sind ohne Spiel, ohne freie Zeit, ohne freien Raum für irgendetwas, was ihnen selbst entstammt.
Anschließend zitiert Weil mehrere Passagen, welche die besiegten Frauen Trojas – Kassandra und Andromache – beschreiben, die mit dem Fall ihrer Stadt versklavt werden.
Nachdem Weil die Position des Sklaven skizziert hat, wozu auch die Entwicklung einer emotionalen Abhängigkeit von seinem Herren gehört, wendet sie sich dem Unterdrücker zu. Sie macht eine starke Aussage über die Gefahren der Gewalt für diejenigen, die sie ausüben: „Ihre Macht, die Menschen zu Dingen zu machen, ist eine doppelte und vollzieht sich auf beiden Seiten; sie versteinert auf unterschiedliche Weise, aber in gleichem Maße die Seelen der sie Erleidenden und der sie Ausübenden.“ Diejenigen, die Gewalt anwenden, täuschen sich, wenn sie glauben, ein Monopol auf ihren Gebrauch zu haben. „Keiner besitzt sie wirklich“, schreibt sie, „es gibt keinen, der sich der Gewalt nicht irgendwann beugen müsste.“ Der Rausch, der die Gewalttäter erfasst, ist das sichere Anzeichen dafür, dass sie diese auf übersteigerte Weise angewendet haben; sie haben mit Hybris gehandelt, was zu einem Kontrollverlust führt: „So überschätzen sie ihre Kräfte. Sie müssen sie überschätzen, weil sie ihre Grenzen nicht kennen. Das liefert sie unwiderruflich dem Zufall aus, und sie sind nicht mehr Herr der Lage.“ Dieser Exzess, diese Hybris, führt zur Vergeltung durch die Göttin Nemesis.
An einer späteren Stelle des Ilias-Essays zeigt Weil die Möglichkeit einer Erlösung auf, die es in der Beziehung zwischen dem Gewalttäter und dem Objekt seiner Gewalt geben kann:
Doch der reinste Triumph der Liebe, die höchste Gnade, die dem Krieg widerfährt, ist die Freundschaft, die im Herzen von Todfeinden erwacht. Sie löscht den Durst nach Rache für den getöteten Sohn, für den getöteten Freund, sie hebt durch ein noch größeres Wunder die Distanz zwischen dem Wohltäter und dem Flehenden, dem Sieger und dem Besiegten auf. […] Diese Momente der Gnade sind in der Ilias selten, aber genug, um uns mit größter Trauer verspüren zu lassen, was die Gewalt zunichtemacht und vernichten wird. […] das Elend aller wird ohne Verhüllung oder Verachtung gezeigt, kein Mensch wird über oder unter die Situation gestellt, die allen gemeinsam ist, alles Zerstörte wird betrauert. Sieger und Besiegte sind dem Dichter und dem Zuhörer gleich nah, sind in gleicher Weise seine Mitmenschen.
In den beiden Auslassungen der hier zitierten Passage wird die Diskussion über das Gleichgewicht zwischen denen, die Gewalt ausüben, und denen, die sie erleiden, auf die Ilias als Kunstwerk angewandt. Weil greift die Idee der „Bitterkeit“ als empathischen Impuls oder Imperativ auf, der in einem Kunstwerk zum Ausdruck kommt:
Das macht die Ilias so einzigartig, diese Bitterkeit, die aus der Empfindsamkeit hervorgeht und sich über alle Menschen erstreckt, gleichmäßig wie das Sonnenlicht. Nie hört der Ton auf, von Bitterkeit erfüllt zu sein, nie sinkt er aber auch zur Klage herab. Liebe und Gerechtigkeit, die in dieser Schilderung extremer und ungerechter Gewalttaten kaum Platz finden können, durchtränken sie mit ihrem Licht, ohne je anders als im Ton spürbar zu sein. Nichts Kostbares, sei es dem Untergang geweiht oder nicht, wird verhöhnt […].
Weils Betonung der Art und Weise, wie die griechischen Dichter seit Homer die Ästhetik der Bitterkeit einsetzten, deutet auf einen möglichen Sieg der Moral inmitten der damals aktuellen Gewalt und des Leidens, das Hitlerdeutschland und der französische Kolonialismus verursachten. Im Zentrum dieses Nebeneinanders, dieser Idee der Verbindung von Schönheit und Leid steht Weils tiefe Überzeugung, dass das Gleichgewicht eine Art von Gerechtigkeit ist. Die Plünderung Trojas wurde von Schriftstellern, sowohl von Homer als auch von den Tragödiendichtern, als Möglichkeit genutzt, moralische Lehren über das Problem der Gewalt zu formulieren. Doch für Weil bietet die Analogie zwischen der Zerstörung Karthagos durch Rom einerseits und dem Aufstieg des Hitlerlismus und der Gewalt der französischen Kolonialherrschaft andererseits keine Aussicht auf einen Sieg, nicht einmal einen bitteren.
Römische Sklaven
Tafel XXXXIII aus den Hellenistisch-Byzantinischen Miniaturen der Ilias (Ilias Ambrosiana) (5. Jahrhundert, Faksimile 1955). Kunstbibliothek – Staatliche Museen zu Berlin
Weil zitiert verschiedene Beispiele für römische Perfidie, Grausamkeit, den Einsatz von Propaganda und Prestigeversessenheit, wenn es um den Umgang mit ausländischen Feinden ging. Die Hervorhebung des Terrors entspricht der Analyse der Gewalt im Ilias-Essay. Im weiteren Verlauf dramatisiert sie die Laster der Römer durch eine kritische Untersuchung und ausführliche Zitate antiker Quellen (insbesondere Appians Römische Geschichte, die im zweiten Jahrhundert v. Chr. verfasst wurde), wobei die Zerstörung Karthagos und die Annektierung Griechenlands im zweiten Jahrhundert v. Chr. ihre maßgeblichen Beispiele sind. Obwohl Weils Darstellung stark moralisierende Züge aufweist, weicht sie nicht grundlegend von ihren Quellen ab. Karthago, bemerkt Weil, wurde am Ende des Dritten Punischen Krieges durch eine spezielle Kombination aus römischer Perfidie und Grausamkeit zerstört, die die Römer nur dann einsetzten, wenn es ihnen um die totale Vernichtung – die Entmenschlichung – ihrer Opfer ging.
Im Rahmen des Friedensdiktats nach dem Ende des Zweiten Punischen Krieges (218–201 v. Chr.), den die Römer gewonnen hatten, musste Karthago mit Rom ein Bündnis schließen und durfte gegen niemanden Krieg führen, ohne zuvor die Erlaubnis seines Verbündeten einzuholen. Nach jahrelangen Angriffen durch die benachbarten Numider schlugen die Karthager schließlich im Jahr 150 v. Chr. zurück (und wurden besiegt). Dieser Akt löste die Kriegserklärung Roms aus. Um Frieden zu erflehen, entsandte Karthago Botschafter nach Rom, wo die Römer in arglistigen Verhandlungen verlangten, dass Karthago ihnen dreihundert adelige Kinder ausliefern und alle Waffen übergeben sollte. Schließlich beharrten sie darauf, dass die Karthager die Stadt aufgeben und sich zehn Meilen ins Landesinnere zurückziehen sollten, was die Wirtschaft der Hafenstadt ausgelöscht hätte; sie argumentierten sogar, dass diese Entscheidung zum Wohl der Karthager getroffen worden sei. Durch einen doppelten Vergleich mit den Griechen und mit Hitler verleiht Weil ihrer Argumentation Nachdruck:
Die Konsuln verweigerten sogar die Erlaubnis, noch einmal den Senat anzurufen, und erklärten, dass der Befehl, die Stadt auszuradieren, im Interesse der Karthager selbst erteilt worden sei. Die Form von raffinierter Infamie, den Griechen völlig unbekannt, ist vielleicht erst nach 1933 vollständig wiederentdeckt worden. Das karthagische Volk wurde von Verzweiflung ergriffen […].
In Weils Beschreibung dieser Begebenheit durchlitten die Karthager vor ihrer Vernichtung eine qualvolle Zeit entmenschlichender Angst, so wie Lykaon in der Ilias, bevor er von Achill getötet wurde. Dies ist eine von mehreren Analogien zur Gegenwart, die Weil in „Einige Überlegungen zu den Ursprüngen des Hitlerismus“ herstellt. So vergleicht sie die karthagische Gesandtschaft, die vor dem römischen Senat um Frieden flehte, mit den Ereignissen des 14. März 1939, als Hitler Emil Hácha, den Präsidenten der Tschechoslowakei, nach Berlin bestellte.
Dann kamen die Priester, Ältesten und Senatoren Karthagos und erschienen vor der römischen Armee bei den Konsuln. Die nachfolgende Szene, wie sie von Appian berichtet wird, ist von Shakespeare’scher Tragik und erinnert auf noch abscheulichere Weise an das, was man über den Abend erzählt, den Hacha bei Hitler verbrachte.
Auch im Hinblick auf die Eroberung Griechenlands durch die Römer zieht Weil Parallelen zwischen der Antike und ihrer eigenen Zeit; so schreibt sie beispielsweise: „Der Terror, der danach über Griechenland hereinbrach, lässt unweigerlich, aber noch fürchterlicher an die Länder im Schatten des Hitlerregimes denken.“ Trotz der zeitgenössischen Analogie unterscheidet Weil zwischen der römischen Eroberung Griechenlands und der Zerstörung Karthagos – nicht nur, weil die römische Außenpolitik gegenüber den Griechen weniger eine der Vernichtung als eine der kolonialen Annektierung war, sondern auch, weil die überlieferten antiken Quellen nicht nur von Römern, sondern auch von unterworfenen Griechen wie dem Historiker Polybius verfasst wurden. Weil bemerkt: „Auch kennen wir die römische Geschichte nur durch die Römer selbst und durch ihre griechischen Untertanen, jene Unglücklichen, die ihren Herren zu schmeicheln hatten; […].“
Hier dient die Schmeichelei der griechischen Untertanen als Überleitung zu einem Thema, das sowohl in „Einige Überlegungen zu den Ursprüngen des Hitlerismus“ wie auch in „Die Ilias oder das Poem der Gewalt“ eine Rolle spielt: die große Bedeutung von Prestige. Deutschland und Rom strebten durch ihre Expansion und durch die Kontrolle über ein weit ausgedehntes Gebiet nach Prestige. Die Helden der Ilias wurden durch ihr Prestigestreben blind für die begrenzten Kräfte, die ihnen zur Verfügung standen. Der Wille zur Macht eines Helden kommt, ebenso wie der Roms oder Hitlers, an einen Endpunkt. Bis dahin kann er auf andere Weise untergraben werden. Eine Strategie, die Weil im Ilias-Essay und in „Einige Überlegungen zu den Ursprüngen des Hitlerismus“ im Anschluss an ihre Argumentation in „Beginnen wir den Trojanischen Krieg nicht von Neuem“ darlegt, besteht darin zu zeigen, wie die Mechanismen der politischen Unterdrückung, die durch den Einsatz „der dreistesten Lüge“ der Propaganda zur kulturellen Herrschaft werden, von den Unterdrückten genutzt werden können, um die Unterdrücker anzugreifen. So hebt Weil beispielsweise hervor, wie die römische Propagandakultur als ein erbärmlicher Ersatz für die griechischen Ideale des Gleichgewichts diente. In ihrer Beschreibung ist jeder Römer ein „geborener Propagandist im Dienste Roms“, für den „Rom in seiner Seele über alles ging“, und das „römische Geistesleben war kaum mehr als ein Ausdruck des Willens zur Macht.“ Die unterworfenen griechischen Schriftsteller hingegen erlebten, ebenso wie Polybius angesichts der Zerstörung von Korinth, mit eigenen Augen den Untergang seiner Pracht.
Griechenland wurde zum kolonisierten Land, und die Griechen verfielen in eine von den lateinischen Autoren der Kaiserzeit bezeugte Dekadenz. Der griechische Geist, der bei aller Dekadenz noch im 3. Jahrhundert in allen Bereichen blühte, sank unwiderruflich dahin, sieht man von den Spuren ab, die sich in Syrien und Palästina erhielten. Rom vermochte dessen Reinheit nur durch eine servile Nachahmung zu trüben, die ihn unserem Blick noch heute entzieht; […].
Diese Beschreibung von Roms „serviler Nachahmung“ erinnert uns an die Passage in „Die Ilias oder das Poem der Gewalt“, in der die griechischen Begriffe von Grenze, Gleichgewicht und Maß „nur noch in der Technik eine untergeordnete Verwendung“ finden. Dass die griechische Idee der Nemesis verlorenging – und damit ein ethischer Standard, der die Machthaber von einem entmenschlichenden Verhalten abhielt –, lässt sich durch die Fortsetzung des römischen Modells der Macht erklären. Weils Argumentation deutet darauf hin, dass die Ästhetik der Bitterkeit, welche die griechischen Reaktionen auf den Trojanischen Krieg bei Homer und den Tragödiendichtern prägt, eine Entsprechung bei den griechischen Schriftstellern unter römischer Herrschaft findet, die ihre Knechtschaft als eine kulturelle Bedingung ihrer politischen Unterdrücker zum Ausdruck brachten.
Arabische Frühlinge
Simone Weil, Notizbuchumschläge. Im Uhrzeigersinn von oben links: Cahier 13 (frühe 1942), Cahier 14 (undatiert), Cahier 16 (undatiert) und Cahier 17 (undatiert). Bibliothèque nationale de France, Paris
Zu Beginn eines allgemeinen Essays über den französischen Kolonialismus war Weil auf die zentrale Bedeutung des Problems der Gewalt zurückgekommen: „Die Probleme der Kolonisierung stellen sich vor allem hinsichtlich der Gewalt.“ Im zweiten Absatz ihres Briefs an Giraudoux, in dem sie die Gewalt der französischen Kolonialherrschaft in Annam (Mittelvietnam) beschreibt, vergleicht sie – wie in „Die Ilias oder das Poem der Gewalt“ – das Konzept des Karmas mit der Idee der Nemesis im antiken Griechenland:
War es [Annam] nicht ein friedliches, geeintes, gut organisiertes Land mit einer alten Kultur, geprägt von chinesischen, hinduistischen und buddhistischen Einflüssen? Insbesondere bezeichnen sie eine bei ihnen verbreitete Vorstellung als Karma, die genau übereinstimmt mit jener der bei uns leider vergessenen griechischen Nemesis, der automatischen Bestrafung für Maßlosigkeit.
Weiter unten im Text folgt ein erneuter Verweis auf die Antike, der sich auf das Leben unter der römischen Kolonialherrschaft bezieht:
Im Norden stirbt die Bevölkerung an chronischem Hunger, während der Süden von Reis, den es exportiert, überfließt. Jeder muss eine jährliche Steuer zahlen, die für Arme und Reiche gleich ist. Eltern verkaufen ihre Kinder, wie damals in den römischen Provinzen; Familien verkaufen die Altäre ihrer Ahnen, die für sie das höchste Gut sind, nicht, um ihren Hunger zu stillen, sondern um ihre Steuern zu zahlen.
Ebenso wie der beiläufige Verweis auf die griechische Idee der Nemesis untergräbt die Analogie zwischen den unterdrückten Bürger_innen von Annam und jenen, die in den römischen Provinzen lebten, jedes wohlwollende Verhältnis, das sie möglicherweise zu Giraudoux herstellen wollte; und sie vermittelt klar und deutlich, dass nun alle – auch wenn sie beide die Griechen noch so sehr bewundern – in der römischen Welt leben. Im Grunde genommen war es die französische Treue gegenüber dem römischen Vorbild, durch die diese Situation überhaupt erst entstehen konnte. Auch wenn die Franzosen ihr Kolonialreich gerne für etwas anderes halten würden als die deutsche Expansion in Europa, sind beide Nachfahren dieses römischen Stils der Gewalt.
Als Weil am Ende ihres Briefs auf Frankreichs nordafrikanische Kolonien eingeht, erzeugt sie durch eine andere Bezugnahme auf die Antike einen wichtigen Kontrapunkt:
Und was Afrika angeht, wissen Sie nicht von den massiven Enteignungen, denen die Araber und die Schwarzen auch noch nach dem letzten Krieg zum Opfer gefallen sind? Kann man sagen, dass wir den Arabern die Kultur gebracht haben, die für uns im Mittelalter die griechischen Traditionen bewahrten?
Weil vermittelt mit schmerzhafter Deutlichkeit, welche Ironie in der Behauptung Frankreichs liegt, den Arabern die Kultur gebracht zu haben, die ihrerseits „für uns“ die Weisheit der Griechen bewahrten – „für uns“, die wir die Idee der Nemesis vergessen hatten. Doch Weils Hinweis auf die arabische Überlieferung griechischer Gelehrsamkeit hat noch eine andere Facette. Ihre Bemerkung, dass arabische Kulturen die griechische Tradition „für uns“ lebendig gehalten haben, ist selbstverständlich eine eurozentrische und oberflächliche Beschreibung des tatsächlichen Geschehens. Gleichzeitig stört sie das Gleichgewicht zwischen dem Opfer Griechenland und dem politischen Aggressor Rom, das sie in „Einige Überlegungen zu den Ursprüngen des Hitlerismus“ ansprach und am Schluss des Ilias-Essays andeutete, indem sie die Bedeutung der historischen und zeitgenössischen arabischen Kultur für die Überlieferung des Wissens der griechischen Antike erwähnt. Es ist wichtig, dass es – wie sie schreibt – die Kolonien in Annam und Nordafrika waren, die indirekt (durch die Idee des Karmas) und direkt (durch die Überlieferung des griechischen Wissens) jene antike griechische Tradition bewahrten, die Giraudoux und Weil lieben. Unmittelbar nach dieser Äußerung kommt Weil auf einen besonderen Fall von Unterdrückung durch die Franzosen in Tunesien zu sprechen:
Haben Sie nicht vor etwa einem Jahr in den Zeitungen gelesen, dass in einem Bergwerk in Tunesien ein Streik ausgebrochen ist, weil man die muslimischen Arbeiter dort zwingen wollte, während des Ramadans, also wenn sie nicht essen, die gleiche Leistung zu erbringen wie gewöhnlich? Wie würden die Muslime diese und ähnliche Dinge akzeptieren, wenn sie nicht der Gewalt unterworfen wären?
Diese Gewaltanwendung führte 1937 zu einem ausgedehnten Bergarbeiterstreik, der durch französische Truppen brutal niedergeschlagen wurde. Weil schrieb hierüber einen Artikel mit dem Titel „Le sang coule en Tunisie“, und am Ende ihres Briefs macht sie Giraudoux auf dieses Ereignis (und vermutlich auch auf ihren Artikel) aufmerksam. In diesem Text bemerkt Weil die Heuchelei, dass die Rechte der Arbeiter in Frankreich betont werden, während man sie in den Kolonien ignoriert.
Der Hinweis auf die Bewahrung des griechischen Wissens „für uns“ erscheint umso bemerkenswerter, wenn man ihn im Kontext dieser Gewalt gegen die tunesischen Bergarbeiter liest. Während die Bergarbeiter der zerstörerischen, kolonialen Gewalt unterworfen werden wie der Krieger Lykaon und die Bürger_innen von Karthago, hebt Weil das schützende und bewahrende Agieren ihrer antiken Vorfahren gegenüber dem Westen hervor. Das ist zweifellos eine grobe Vereinfachung des historischen Geschehens, und die Vorstellung, dass das Wissen der Griechen „für uns“ (das heißt den Westen) bewahrt wurde, ist eine rhetorische Übertreibung. Doch zugleich hat Weil mit dieser Geste auf einen bitteren Sieg der „geometrischen Strenge“ in der Gewaltanwendung hingewiesen, die sie im Ilias-Essay beschrieb. Weil hoffte, dass Giraudoux den scharfen Kontrast zwischen Frankreichs Behandlung der tunesischen Bergarbeiter und der Geschichte der muslimischen Überlieferung der griechischen Wissenschaft und Philosophie als Akt der Liebe erkennen würde. Wenn ja, würde er erkennen, dass eine reziproke Geste der damaligen französischen Kolonisatoren geboten war.
In diesem Brief findet Weil eine Möglichkeit, die im Ilias-Essay entwickelte Argumentation der griechischen „Bitterkeit“ anzubringen, um Frankreichs drohendem Schicksal, ein zweites Rom zu werden, das sie in „Einige Überlegungen zu den Ursprüngen des Hitlerismus“ beschrieben hatte, etwas entgegenzusetzen. Die direkten Zusammenhänge zwischen den französischen Kolonien in Nordafrika, wie Tunesien, und der Perfidie und Grausamkeit, mit der die Römer Karthago zerstörten, machten ihre Argumente besonders einleuchtend. Weils moralische Argumentation beharrt darauf, dass die Idee des Gleichgewichts in „Die Ilias oder das Poem der Gewalt“ – als Konzept der Nemesis – ebenso wiederentdeckt werden muss wie unsere Verwurzelung in den Lehren der Antike. Darüber hinaus müssen wir auch akzeptieren, dass einer der vielleicht erschreckendsten Belege für den bitteren Sieg der griechischen Tugend über die römische Gewalt darin besteht, dass es leidende, unterdrückte Kolonisatoren sind, die uns diese Lehre am besten erteilen können.
Aus dem Englischen übersetzt von Barbara Hess
Demonstrationen in Tunis gegen die französische Kolonialherrschaft, 9. April 1938. Fonds Beit el Bennani, Tunis
Ich danke Nadia Kaabi-Linke und Timo Kaabi-Linke für die gemeinsamen Gespräche über Chkoun Ahna, sowohl im Hinblick auf die besondere Bedeutung der Ausstellung für die aktuelle politische Lage Tunesiens als auch hinsichtlich ihrer Rollen als beteiligte Künstlerin bzw. als Co-Kurator. Moyra Davey danke ich dafür, dass sie mich dazu anhielt, Simone Weils Ilias-Essay genauer zu lesen, Quinn Latimer und Domenick Ammirati für ihre redaktionelle Ermutigung und Betreuung. Ich widme diesen Essay meinem Freund Bill Horrigan mit Dank für seine beständige Inspiration und Beratung, sowie dafür, dass er mir seine DVD von Nicholas Rays Film Bitter Victory (1957) zeigte, als wir uns kennenlernten, und in jüngerer Zeit die bei Hanuman Books erschienene Ausgabe von Simone Weils On the Lord’s Prayer.
Die Arbeit ist Teil von Favarettos fortlaufender Serie „momentaner Monumente“; eines von ihnen war der große Haufen aus Schrottmetall, der ebenfalls auf der documenta 13 ausgestellt wurde. Zur Serie der Kuben aus gepresstem Konfetti, siehe Lara Favaretto: Ageing Process, Mailand: Mousse Publishing, 2016, S. 136–141. Kürzlich besuchte ich den Ausstellungsort von Favarettos Momentary Monument – The Stone, eine Arbeit, die 2016 im Rahmen der Liverpool Biennial gezeigt wurde. Alles, was davon übrig bleibt, ist ein kleiner Müllhaufen.
Eine Beschreibung der Arbeit bietet Timo Kaabi-Linke, „On Revolution and Rubbish: What Has Changed in Tunisia Since 2011“, in: Uncommon Grounds: New Media and Critical Practices in North Africa and the Middle East, hrsg. v. Anthony Downey, New York: I. B. Tauris 2014, S. 318–331, hier S. 324. Die Arbeit Magnetism (2012) des saudi-arabischen Künstlers Ahmed Mater, die ebenfalls im Rahmen von Chkoun Ahna ausgestellt wurde, bezieht sich direkt auf die Kaaba und verwendet einen Magneten und Eisenspäne, um die Bewegungen der Pilger zu simulieren, die an dem heiligen Ort zusammenkommen.
Zu diesen Ereignissen und Kontextinformationen über Chkoun Ahna und den Printemps des Arts, siehe Kaabi-Linke, „On Revolution and Rubbish“, S. 318–331.
Hiermit vergleichbar ist das Schicksal der Arbeit Smell (2012) von Nadia Kaabi-Linke, die in Chkoun Ahna gezeigt wurde. Das Werk der tunesisch-russischen Künstlerin stellte die salafistische Flagge dar; darauf waren mit Jasminblüten die Worte der Schahāda gestickt, was auf die verbreitete Bezeichnung der tunesischen Revolution als Jasminrevolution anspielte. Da die Blumen im Verlauf der Ausstellung verwelkten, übergab Kaabi-Linke die Arbeit aus Sorge vor möglichen Blasphemievorwürfen dem Gärtner des Museums in Karthago, der die Ausstellung zuvor vor einer Gruppe junger Salafisten geschützt hatte.
Für eine prägnante Darstellung dieser Phase in der Geschichte Tunesiens, siehe Beverley Milton-Edwards, The Muslim Brotherhood: The Arab Spring and Its Future Face, New York: Routledge 2016, S. 111–136.
Gleichzeitig erfahren die zerbrechlichen, sterblichen Körper der in diesem Bild dargestellten Menschen eine endlose Verbreitung als Bild im Internet. Wie im Fall der übertriebenen Vorstellung, dass der Arabische Frühling eine Web 2.0-Revolution war, begann die Empörung über die Arbeiten des Printemps des Arts mit Bildern, die über Facebook verbreitet wurden. Siehe Kaabi-Linke, „On Revolution and Rubbish“.
Als Kommentar zu diesem Statement „über uns“ kamen die für diese Ausstellung ausgewählten Künstler_innen aus Ländern, die „eine historische Beziehung zu Tunesien haben“, und waren eingeladen, „neue und aktuelle Arbeiten aufzubauen, die mit dem Ort und seiner Vergangenheit in Zusammenhang stehen.“ Kuratorisches Statement auf www.carthagecontemporary.com (Link nicht mehr aktiv).
Simone Weil, „Die Ilias oder das Poem der Gewalt“ [1940/41], übers. v. Thomas Laugstien, in: dies., Krieg und Gewalt. Essays und Aufzeichnungen, Zürich: diaphanes 2011, S. 161–191.
Simone Weil, „Beginnen wir den Trojanischen Krieg nicht von Neuem“ [April 1937], übers. v. Johanna-Charlotte Horst und Anouk Luhn, in: dies., Krieg und Gewalt. Essays und Aufzeichnungen, Zürich: diaphanes 2011, S. 37–57, hier S. 39.
Ebd.
Weil, „Die Ilias oder das Poem der Gewalt“, S. 162. Zu dieser Passage, siehe Moyra Davey und Quinn Latimer, „Hot Baths/Cool Letters“, in: Mousse, 58, April/Mai 2017, S. 88–95.
Simone Weil, „Einige Überlegungen zu den Ursprüngen des Hitlerismus“ [1939/40], übers. v. Thomas Laugstien, in: dies., Krieg und Gewalt. Essays und Aufzeichnungen, S. 99–158.
Simone Weil, „Gedanken zum Zwecke einer Bilanz“ [Frühjahr/Sommer 1939], übers. v. Thomas Laugstien, in: dies., Krieg und Gewalt. Essays und Aufzeichnungen, S. 75–94.
Ebd., S. 75.
Nur einmal werden die Zerstörung von Troja und Karthago in einen direkten Zusammenhang gestellt, in einem Eintrag eines ihrer späteren Cahiers, der in den posthum erschienenen Band Schwerkraft und Gnade aufgenommen wurde: „Gott lieben, durch die Zerstörung von Troja und Karthago hindurch, und ohne Tröstung. Die Liebe ist nicht Tröstung, sie ist Licht.“ Simone Weil, Schwerkraft und Gnade, übers. v. Friedhelm Kemp, München und Zürich: Piper 1989, S. 25.
Simone Weil, „Lettre à Jean Giraudoux“, in: dies., Écrits historiques et politiques, Paris: Gallimard 1960, S. 361–363.
Simone Weil, „Le sang coule en Tunisie“ [1937], in: dies, Écrits historiques et politiques, S. 336–338.
Weil stellt den Satz „Gott ist immer Geometer“ (auf Griechisch), den Plutarch Plato zuschreibt, als Sinnspruch über ihren frühen Essay „Science et perception dans Descartes“, in: Simone Weil, Œuvres complètes, Bd. 1, Premiers écrits philosophiques, hrsg. v. Gilbert Kahn und Rolf Kühn, Paris: Gallimard 1988, S. 161–221. A. d. Ü.: Eine ganzseitige Reproduktion des Umschlags dieses Cahiers findet sich in Simone Weil, First and Last Notebooks: Supernatural Knowledge, übers. v. Richard Rees, Eugene, Oregon: Wipf and Stock Publishers 2015, zwischen S. 58 u. 59.
Simone Weil, Cahiers/Aufzeichnungen, Bd. 1, hrsg. und übers. v. Elisabeth Edl und Wolfgang Matz, München und Wien: Carl Hanser 1991, S. 84.
Weil, „Die Ilias oder das Poem der Gewalt“, S. 171 f.
Ebd., S. 161.
Ebd., S. 163.
Ebd., S. 165.
Ebd., S. 164.
Ebd., S. 181.
Ebd., S. 168.
Ebd., S. 171.
Ebd., S. 184.
Ebd.
Ebd., S. 188.
Ebd., S. 189. Zwei Seiten davor hatte Weil Vergils Aeneis bereits als „eine Nachschöpfung“ beschrieben, „die bei all ihrer Brillanz entstellt ist durch Kälte, Pathos und schlechten Geschmack.“
Weil, „Die Ilias oder das Poem der Gewalt“, S. 189.
Eine gute Beschreibung von Weils Haltung zur hebräischen Bibel findet sich bei E. Jane Doering, Simone Weil and the Specter of Self-Perpetuating Force, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press 2010, S. 75–83. Über Weil und Rom, siehe S. Fraisse, „Simone Weil contre les Romains“, in: CSW, 3, 1, 1980, S. 5–18.
Er erschien am 1. Januar 1940 in den Nouveaux Cahiers. Der gesamte Essay wurde 1960 von Albert Camus zusammengestellt. Für einen kurzen Abriss der Geschichte dieses Essays, siehe Doering, Simone Weil and the Specter of Self-Perpetuating Force, S. 84.
Weil, „Einige Überlegungen zu den Ursprüngen des Hitlerismus“, übers. v. Thomas Laugstien, in: dies., Krieg und Gewalt. Essays und Aufzeichnungen, S. 99–158, hier S. 107 f.
Ebd., S. 114.
Ebd., S. 118 f.
Ebd., S. 117.
Ebd., S. 123.
Ebd., S. 114.
Ebd., S. 130.
Ebd., S. 124.
Ebd., S. 149.
Ebd., S. 151.
Zur Ungewissheit, ob dieser Brief abgeschickt wurde oder nicht, siehe ebd., S. 77.
Weil, „Lettre à Jean Giraudoux“, S. 361.
Simone Weil, „Les nouvelles données du problème colonial dans l’empire français (1938)“, in: dies., Écrits historiques et politiques, S. 351–356, hier S. 351.
Weil, „Lettre à Jean Giraudoux“, S. 362.
Ebd.
Ebd.
Wissenschaftler, die sich mit den griechisch-arabischen Übersetzungen beschäftigen, sind im Allgemeinen nicht bereit, umfassende Begründungen für die Bewahrung und Überlieferung wissenschaftlicher und philosophischer Werke der griechischen Antike zu liefern. Dennoch haben manche die auf persönlichen und politischen Motiven beruhende Großzügigkeit abbasidischer Kalifen gegenüber den Gelehrten als Grund angeführt. Siehe Dimitri Gutas, Greek Thought, Arabic Culture: The Graeco-Arabic Translation Movement in Baghdad and Early 'Abbāsid Society (2nd–4th / 8th–10th Centuries), New York: Routledge 1999, S. 4, Anm. 4.
Weil, „Lettre à Jean Giraudoux“, S. 362 f.
Weil, „Le sang coule en Tunisie“, S. 336–338.
„Derselbe Vorgang [Menschen zu Dingen zu machen] schien in sich der Fabrikarbeit und selbstverständlich in den Praktiken des Kolonialismus fortzusetzen.“ Little, Simone Weil on Colonialism, S. 17.
Für Weil war der einzige Mensch in Homers Epos, der diese Art von Großmut verkörperte, die Figur des Patroklos. Siehe Weil, „Die Ilias oder das Poem der Gewalt“, S. 180.