Ahlam Shiblis Occupation
Einführung von Ulrich Loock
Jedes einzelne Foto dieser Serie ist von der Gewalt des Staates Israel gegen die Menschen von al-Khalil/Hebron und alle Palästinenser_innen in der besetzten West Bank durchdrungen – einer Gewalt, die vom israelischen Militär und den von Israel unterstützten Siedler_innen ausgeht. Wollte man Ahlam Shiblis Occupation (2017) im Kontext postkolonialer Diskurse betrachten, müsste die Serie eine besondere Stellung einnehmen, denn sie zeichnet die Auswirkungen eines kruden und unmittelbaren Kolonialismus nach. In den 32 Fotos, die Shibli über einen Zeitraum von zwei Jahren in al-Khalil gemacht hat, konzentriert sie sich auf die Spuren der Besetzung in der Architektur der Stadt. Eine Panoramaaufnahme von al-Khalil liefert einen visuellen Beleg für die zerstörerische Gewalt des israelischen Eindringens in das alte Stadtzentrum; außen an der heruntergekommenen palästinensischen Schule soll eine käfigartige Treppe die Schüler_innen vor steinewerfenden Siedlern schützen; auf einer die Straße blockierenden Blechwand prangt ein Bild, das als ideologische Rechtfertigung für die Aneignung palästinensischen Territoriums durch israelische Siedler dient: die Malerei zeigt zwei Männer, die eine riesige Weintraube tragen – ein Verweis auf die biblische Erzählung der Israeliten, die ursprünglich das Land Kanaan in Besitz nahmen.
Obwohl Shiblis Arbeiten keinen Zweifel an der tiefgreifenden Zerstörung der Lebensgrundlage der Palästinenser lassen, repräsentieren ihre Fotografien nicht die Dynamik der Besetzung, sie stellen weder deren Ursachen noch deren Mechanismen dar. Ihre Bilder entlarven nicht die Täter, führen keine Misshandlungen vor Augen, zeigen nicht die zutiefst repressiven militärischen Einrichtungen. Möglicherweise erscheint Shiblis Fotoserie daher gar nicht als Teil des Kampfes gegen die Kolonialmacht. Ihre Bilder zeigen einsame Momente der Ruhe; die Auseinandersetzungen sind vorbei. Es sind Ansichten eines Ortes, an dem die Zeit verstrichen ist und nun stillzustehen scheint. Die Gewalt von Siedlern und Militär, das Leiden der Palästinenser – das alles scheint eingeklammert, so sehr es den privaten und öffentlichen Raum auch prägt.
Sie fotografiere, was sie an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit sehe, betont Shibli. Bei dieser Bestandsaufnahme taucht sie in die jeweilige Situation ein und wahrt gleichzeitig einen gewissen Abstand. Wenn sie später Bilder auswählt, um eine Werkserie wie Occupation zusammenzustellen, verlässt sich Shibli nicht auf einzelne Fotos, sondern bevorzugt eine filmische Bildsequenz, um den betreffenden Sachverhalt sichtbar zu machen. Dennoch bilden ihre Bilder keine Erzählung. Vielmehr wirken sie trotz aller Unterschiede gewissermaßen repetitiv. Nur selten treten lebende Wesen in Erscheinung, und wenn, wirken sie wie Fremde in einem Umfeld der Verwüstung. Die wenigen Menschen, die in Occupation zu sehen sind, sind vor allem Kinder; einmal sind Tauben zu sehen, gezüchtet in einem Haus, das die Besitzer verlassen mussten, um den Schikanen der Siedler zu entgehen. Möglicherweise vermeidet es Shibli, Aufnahmen mit Menschen zu machen, um deren Würde zu wahren – sie möchte nicht die Spuren des Missbrauchs auf ihren Körpern zeigen. Die Kinder auf ihren Fotos aber vermitteln einen Eindruck von Konzentration und Abgeklärtheit.
„Lest die Zeichen“, sagt al-Shaykh Ghūmah. Das aus der Zeit Gefallene dessen, was man sieht, deckt sich mit dem Sehen dessen, was dem Sehen entzogen ist. Man mag es unangemessen finden, dass die Bilder der Siedlerorte in Occupation den Orten der Palästinenser ähneln. Diejenigen, die die Besetzung der palästinensischen Stadt als Wiederaneignung des Gelobten Landes rechtfertigen, haben sich gefängnisartige Räume geschaffen wie zum Beispiel den bunten Spielplatz für die Siedlerkinder. Die Palästinenser haben im Gegenzug die Mittel der Besatzungsmacht wie Klingendraht, metallene Barrikaden und Überwachungskameras übernommen, um sich in ihren Häusern zu verbarrikadieren. Shiblis Fotos zeigen eine tiefgreifende Erschütterung der scheinbar klaren Beziehung zwischen Unterdrücker und Unterdrückten: Beide scheinen gezwungen, sich entfremdenden Bedingungen von Unterordnung und Selbstbeschränkung zu unterwerfen. Nur die Kinder wirken auf manchen Bildern irgendwie frei von diesem Zwang.
Das, was da ist, dem gesteuerten Blick aber verborgen bleibt, manifestiert sich in einer Fülle von Farben und Details; und in diesem sinnlichen Reichtum manifestiert sich der Einspruch der Künstlerin gegen die Katastrophen der Besetzung.
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Das ganze Unglück der Besetzung konzentriert sich in al-Khalil.
– Imad Hamdan, Direktor, Hebron Rehabilitation Committee
Occupation (2016–2017) basiert auf der Zerstörung der Lebensgrundlage der Palästinenser_innen in al-Khalil (Hebron) und in den besetzten Gebieten durch das israelische Kolonialregime sowie zionistische Siedler. Die Besetzung, speziell das Eindringen der Siedler, unterwirft die Stadt al-Khalil ständigen Maßnahmen feindlicher Territorialisierung, die von verschiedensten Arten von Checkpoints, Mauern, Zäunen, Absperrungen, Überwachungskameras, Regeln und Befehlen ausgeführt und kontrolliert werden. Die Fotografien von Occupation zeichnen das asymmetrische Verhältnis nach, in dem sich die Siedler und die palästinensische Bevölkerung in Al-Khalil befinden: Im begrenzten Raum der Altstadt aneinandergebunden sind sie beschränkt auf eine Umgebung, die durch physische Grenzen und widersinnige Vorschriften definiert ist.
Die Fotos protokollieren unter anderem die Zeichen einer verstörenden doppelten Umkehrung. Einerseits deuten sie an, wie sich die Siedler – die in die palästinensischen Gebiete einmarschiert sind, die Palästinenser von der Nutzung ihres Eigentums abhalten und ihre Freizügigkeit einschränken – selbst einen gefängnisartigen Raum schaffen. Andererseits zeigen sie auch, wie die Palästinenser die „Hardware“ der von der israelischen Besatzung geschaffenen Trennung – Blech, Stacheldraht, zementgefüllte Fässer, Zäune, Gitter, Netze usw. – nutzen, um die eigenen öffentlichen Räume und Häuser zu schützen. Es scheint, als sei es den Besetzenden gelungen, sie zu ihren eigenen Besetzer zu machen, oder als internalisierten die Palästinenser die Auswirkungen der verhängten Sperren, indem sie ihrerseits nur noch mehr schüfen.
– Ahlam Shibli
Blick vom al-Rahma Hügel. Juden haben freien Zugang zur al-Shuhada Street; für Palästinenser ist der Zugang nur möglich, wenn sie Anwohner sind, die bei den israelischen Streikräften (IDF) am Checkpoint registriert sind – und nur zu Fuß. Sie müssen ihre Registrierung jedes Jahr erneuern. Alle palästinensischen Läden auf der al-Shuhada Street und in der Hay al-Yahud/Avraham Avinu Siedlung sind per israelischer Militärorder geschlossen. Infolge ständiger Schikane durch israelisches Militär und Siedler sind die meisten palästinensischen Häuser verlassen.
Vor der zweiten Intifada blockierten die IDF die Bab-al-Khan-Straße. Seit 2001 haben die Palästinenser weder auf der einen noch auf der anderen Seite Zugang zur Straße; mit Ausnahme der Verbindungsstraßen zwischen den Siedlungen ist das gesamte Gebiet von israelischen Checkpoints und abgeriegelten Straßen umgeben. Das Bild auf der Metallwand zeigt zwei Männern, die eine riesige Traube tragen. Es ist ein Verweis auf das vierte Buch Mose 13: „(1) Der Herr sprach zu Mose: (2) Schick einige Männer aus, die das Land Kanaan erkunden, das ich den Israeliten geben will. […] (22) Sie durchzogen zuerst den Negeb und kamen bis Hebron. Dort lebten Ahiman, Scheschai und Talmai, Söhne des Anak. Hebron war sieben Jahre vor der Stadt Zoan, die in Ägypten liegt, erbaut worden. (23) Von dort kamen sie in das Traubental. Dort schnitten sie eine Rebe mit einer Weintraube ab und trugen sie zu zweit auf einer Stange.“
Unter dem Schutz der IDF erschienen 1979 Siedler mit Bulldozern, um die alten jüdischen Häuser im jüdischen Viertel Hay al-Yahud abzureißen und neue für weitere Siedler zu bauen; so entstand die Siedlung Avraham Avinu. Bei dieser Operation zerstörten sie teilweise die Häuser der Familien al-Sharabati und Bader. Im Juli 2002 wurden die Familien aus ihren Häusern vertrieben.
Die Mauer hinter dem Spielplatz der Siedlung ist die Rückwand der Schmiedewerkstätten der Palästinenser, in deren Obergeschoss sich Büros befinden; sie alle wurden 2001 nach einem israelischen Militärbefehl geschlossen. Palästinensern ist es strengstens untersagt, den Bereich von Souq al-Haddadeen (die Schmieden) zu betreten. Um den Spielplatz zu erweitern, öffneten die Siedler die Werkstätten von der Rückseite; das Obergeschoss nutzen sie für Gemeindebüros.
Familien nutzen mit Steinen, Schutt und Beton gefüllte Metallfässer und andere Behälter, um ihr Eigentum von dem der Nachbarn abzugrenzen.
Eine Familie hat auf ihrer Mauer Klingendraht angebracht, damit niemand darüber klettern kann. Dieser Draht kann zu ernsthaften Verletzungen führen und hat große psychologische Wirkung. Diese Art von Draht steht in der Regel unter Spannung und schnellt beim Durchtrennen zurück, er entrollt sich, schlägt aus und trifft die Person, die ihn zerschneidet.
Die Familie blockierte die Zufahrt zu ihrem Hof von der Nebenstraße Jabal al-Rahmah, die zu einer wichtigen Straße für Siedler führt. Die Siedlerstraße verbindet alle Siedlungen in der Stadt, nur Siedler dürfen auf ihr fahren. Alle Zufahrtsstraßen wurden durch Betonblöcke, Metallkonstruktionen oder Fässer von der israelischen Armee blockiert. Ganze Viertel der Palästinenser sind von diesen Sperrungen betroffen.
Im alten Haus der Familie züchtet Sufyan Tauben und Ziegen. Direkt an das Haus an grenzt die Siedlung Giv’at Ha’avot, zu der das israelische Ja’abrah-Gefängnis und eine Polizeiwache gehören. Beide werden gegen die Palästinenser und gegen israelische Aktivisten eingesetzt, die sich gegen sie Besetzung auflehnen.
In der Nähe des Checkpoints an der Kreuzung der Straßen Bani-Salim und al-Mahawer, die das Viertel von der Altstadt trennen. Die Familien haben mehrere Metallgitter errichtet, um sich gegen Steine und andere Wurfgeschosse der Siedler zu schützen, die auf ihrem Weg zur Me’arat Ha-Makhpela (Höhle der Patriarchen) hier vorbeikommen. Palästinensern ist es untersagt, auf dieser Straße mit dem Auto zu fahren.
Der Checkpoint Abu al-Rish in der al-Sahleh-Straße südlich von al-Haram al-Ibrahimi (Abrahamsmoschee/Höhle der Patriarchen) ist nach der Abu al-Rish-Moschee und dem benachbarten Schrein benannt. Der Checkpoint trennt die Viertel Abu Sunaina und al-Qaitoun von den Altstadtvierteln. Er trennt das Letzeres auch von der al-Ibrahimeyeh-Schule, der ältesten Schule in al-Khalil, und von der al-Hajariya-Mädchenschule. Palästinenser dürfen den Checkpoint nur zu Fuß überqueren. Im Juli 2016 wurde die Infrastruktur des Checkpoints erweitert; seit seiner Wiedereröffnung haben die IDF es Palästinensern zwischen 16 und 34 Jahren untersagt, den Checkpoint zu passieren.
Aus dem Englischen übersetzt von Claudia Kotte