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Édouard Glissants Weltmentalität. Un Monde en Relation: Eine Einführung

Ich finde es sehr angenehm, beim Überqueren einer Grenze von einer Atmosphäre in eine andere zu wechseln. Wir müssen uns von der Vorstellung einer Grenze lösen, die abwehrt und abhält. Grenzen müssen durchlässig sein; sie dürfen kein Mittel gegen Migrations- oder Einwanderungsprozesse sein.
– Édouard Glissant, Un Monde en Relation1

Édouard Glissants bahnbrechende Abhandlung Philosophie de la Relation (Philosophie der Relation) entstand im Jahr 2008,2 zu einer Zeit, da die sogenannten nouveaux philosophes in der Debatte um einen „Kampf der Kulturen“ Stellung bezogen und der französische Präsident Nicolas Sarkozy im Rahmen seiner Polemik eines „Verfalls der nationalen Identität“ nach Sündenböcken suchte. Ich erinnere mich noch daran, dass ich in jenem Jahr in Paris an einer Konferenz mit dem Titel Politiques du Tout-Monde (Die Politik der All-Welt) im Maison de l’Amérique Latine auf dem Boulevard Saint-Germain teilnahm. Der Organisator der Veranstaltung, der Philosoph François Noudelmann, bezeichnete die Konferenz als Reaktion darauf, dass „überall Mauern errichtet werden, um die Bewegungsfreiheit der Menschen einzuschränken, Nationen sich auf sich selbst zurückziehen und die Menschen sich wieder auf Identitäten zurückbesinnen, die von absolutistischen Genealogien geprägt sind“.

Schwerpunkte der Pariser Konferenz bildeten Glissants Schlüsselbegriffe Relation, Opazität, Kreolisierung und Disaffiliation. Der auf Martinique geborene Dichter und Theoretiker war zweifellos der erste Philosoph der Postfiliation, was nicht nur seine rebellische These der Disaffiliation im Sinne eines Bruchs mit einer Genealogie und Tradition westlicher und nicht-westlicher Philosophien des binären Gegensatzes und des Widerspruchs meint, sondern auch seine eigene Rolle im Sinne eines „selbsterzeugten“ Philosophen. Das bedeutet, dass Glissant sich quasi neu erschuf, um jenen pathologischen Irrtum zu überwinden, den er mit unserer modernen Existenz verband. Tatsächlich ist die Bezeichnung Glissants als Philosoph der Postfiliation vor allem gleichbedeutend mit der Anerkennung seiner Rolle als Theoretiker des Begriffs der Relation, der über den Gegensatz-Diskurs des Ichs und des Anderen hinausgeht und sich stattdessen eines neuen Bildes der Differenz im Sinne einer Ansammlung von „Unterschiedlichkeiten“ bedient. Glissant konstatiert hierbei eine Relation zwischen verschiedenen Menschen und Orten, belebten und unbelebten Objekten, sichtbaren und unsichtbaren Kräften, Luft, Wasser, Feuer, Pflanzen, Tieren und Menschen.

Manthia Diawara, Édouard Glissant: One World in Relation, K’a Yéléma Productions, 2009, 48 Min., Filmstill

Glissant, der 1928 in Sainte-Marie auf Martinique geboren wurde, besuchte zunächst das Lycée Victor Schoelcher in Fort-de-France, der Hauptstadt der Insel. Zu seinen Mitschülern zählte Frantz Fanon, zu seinen Lehrern Aimé Césaire. Bei den französischen Parlamentswahlen 1945 kandidierte Césaire für die Kommunisten, und Glissant arbeitete in dessen Wahlkampfteam. Nachdem er zum Ethnologie- und Philosophiestudium nach Paris gegangen war, wurde Glissant Dichter und Romanschriftsteller und veröffentlichte seine ersten Gedichtbände sowie die Aufsatzsammlung Soleil de la Conscience (Die Sonne des Bewusstseins, 1956); daneben betätigte er sich innerhalb der Dekolonisierungsbewegung. Danach kehrte er nach Martinique zurück und gründete dort die Zeitschrift Acoma und das Institut Martiniquais d’Études, bevor er sich sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Paris niederließ. Dort lehrte er mehrere Jahrzehnte lang, veröffentlichte unter anderem seine vielbeachtete Poétique de la Relation (Poetik der Relation, 1990) und wurde 1992 für den Nobelpreis nominiert.

Man könnte sagen, dass der Dichter Glissant zum Philosophen wurde, um die Fluidität der Relation jenseits der verschlossenen Türen abgeschlossener Systeme der Diskriminierung, Segregation und Unterdrückung aufzuzeigen und zu beweisen, dass die Differenz eine konstruktivere Funktion erfüllt, sofern man sie als Nebenerscheinung der Solidarität und Versöhnung zwischen zwei oder mehreren Elementen der Tout-Monde betrachtet. Bei Glissants „Weltmentalität“ werden mittels Relation und Differenz Gebilde miteinander verbunden, die der Energie des jeweils anderen bedürfen, um in Schönheit und Freiheit existieren zu können. Glissant war davon überzeugt, dass die westliche Philosophie nicht in der Lage ist, sich vom Privileg der Filiation und Legitimation zu befreien und eine menschliche, ausgeglichene Beziehung zum Anderen, das mehr als drei Viertel der Weltbevölkerung ausmacht, sowie zur Umwelt zu unterhalten. Aus diesem Grund musste Glissant sich selbst zunächst im Sinne eines „verwaisten Philosophen [neu erschaffen], um im Namen einer neuen Weltverfasstheit zu sprechen“. Ich bezeichne diese Verfasstheit, die im Gegensatz zu einem durch Globalisierung und neoliberale Formen der Kapitalakkumulation erzeugten Zustand steht, als „Weltmentalität“. Zu Glissants Vorläufern und gleichgesinnten Zeitgenossen zählen unter anderem Dubois, Marx und Deleuze, aber auch Césaire und Fanon. Dennoch handelte es sich bei ihnen allen auf jeweils eigene Art um Denker des Gegensatzes und der Dialektik, vielleicht mit Ausnahme Césaires, der sich – genau wie Glissant – zur Erklärung der Welt häufig auf Dichtung und Intuition berief.

Anfang der 1990er Jahre freundete ich mich mit Sylvie und Édouard Glissant an, kurz nachdem Letzterer seine Stelle als Dozent am Graduate Center of the City University of New York (CUNY) angetreten hatte. Ich hatte Glissants Werk schon immer bewundert und schätzte es als Antidot zu den krankhaften Auswüchsen der Multikulti-Bewegungen der absolutistischen Identitätspolitik der 1980er und 1990er Jahre. Allerdings erteilte mir Glissant erst 2008 die Erlaubnis, einen Film über seine Anschauungen zu drehen. Damals tauchte ich mit meiner Kamera auf der Pariser Konferenz „Die Politik der All-Welt“ auf, weil ich hoffte, hier einige Anregungen für meinen gerade in Vorbereitung befindlichen Film über Glissant und sein Werk zu finden.

Zu meiner großen Verwunderung wartete Glissant bis zum Ende der Veranstaltung, um mich dann in einem der kleinen Räume im ersten Stock zur Seite zu nehmen und mir mitzuteilen, dass er mich einem aus Mali stammenden Mann vorstellen wolle. Der Mann wolle mich kennenlernen, weil er erfahren habe, dass ich ebenfalls aus Mali stammte und an einer Universität in den Vereinigten Staaten lehrte. Glissant erzählte mir, dass er sich im Sommer 2007 zusammen mit einer Gruppe französischer Intellektueller und Aktivisten gegen die Ausweisung jenes Mannes und seiner Familie (wie Hunderter anderer Malier) aus Frankreich eingesetzt hatte.

Glissant war der Meinung, dass ein Treffen mit mir den Malier ermutigen würde, da wir beide aus derselben Region der Welt, dem „Süden“, stammten und ich im „Westen“ Karriere gemacht hätte. Es überraschte mich, solche Worte aus dem Munde eines Dichters und Philosophen der Relation und der im Umherschweifen angeeigneten Identitäten zu hören. Nichtsdestotrotz interessierte mich die Rolle, die Glissant als Aktivist im Namen der sans-papiers, der sogenannten illegalen Einwanderer in Frankreich, spielte. Daher war ich ebenfalls darauf gespannt, den Mann kennenzulernen, und überlegte mir, wie ich ihn in meinen Film über Glissants Tout-Monde einbauen könnte. Tatsächlich sprachen alle Teilnehmer auf dieser Konferenz auf irgendeine Weise über Kunst und Politik und darüber, wie Glissants Weltbild dazu beitragen könne, unsere Mentalität im Hinblick auf das Andere zu verändern, und dass man unsere eigenen Identitäten als zugunsten lebendiger Kulturen unablässig „kreolisiert“ begreifen müsse. Ich traf hier auf unzählige Dichter, Musiker, Philosophen, Ärzte, Politiker, radikale Journalisten, Modedesigner und Studenten, die kein Problem mit der Vorstellung jener „Weltmentalität“ – einer neuen Welt mit einer neuen Mentalität – hatten, über die Glissant in seiner Philosophie de la Relation geschrieben hatte. Ich fragte mich, welche Rolle hierbei ein ehemals illegaler Einwanderer spielen könnte und inwiefern er in der Lage wäre, für sich selbst zu sprechen. Vielleicht, so überlegte ich mir, könnte ich ihn ja als Sprecher für meinen Film gebrauchen.

Glissant, der stets misstrauisch gegenüber allen konventionellen Formen des Realismus und der Vorstellung von Entdeckung und Inbesitznahme war, warnte mich allerdings prompt vor einem derartigen dokumentarischen Stil, der seiner Ansicht nach in hohem Maße arrogant und daher trivial und künstlerisch belanglos sei. Wie er mir erzählte, hatte er selbst einst das Institut des Hautes Études Cinématographiques (IDHEC), jene renommierte Pariser Filmhochschule, besucht, hatte sich allerdings aufgrund des traditionellen Strebens des Mediums Film nach Transparenz und Welterklärung dagegen entschieden, Filmemacher zu werden. Auf meine Frage nach seinen Lieblingsfilmen nannte Glissant unter anderem Jean Rouchs Les Maîtres Fous (Die verrückten Herren, 1955), den er wegen seiner langen Einstellungen schätzte, sowie die italienischen neorealistischen Filme, die er für poetischer und daher opaker hielt, als das Genre allgemein vermuten ließ.

Manthia Diawara, Édouard Glissant: One World in Relation, K’a Yéléma Productions, 2009, 48 Min., Filmstill

Nun war ich mehr als ängstlich gespannt darauf, besagten Malier kennenzulernen, und hoffte zugleich, dass wir beide Glissant nicht enttäuschen würden, indem wir möglicherweise eine exklusive ethnische Identität (unsere Negritude) zur Schau stellen oder uns als allzu exotisch (authentisch-indigene Menschen im Sinne der Anthropologie) erweisen würden. Nachdem er uns einander vorgestellt hatte, verließ Glissant den Raum und ließ mich mit dem Malier allein. Der Mann war etwa fünfzig Jahre alt und trug ein traditionelles blaues Gewand mit langen Ärmeln und einem goldbestickten Halsausschnitt. Sein Name war Mamadou Soumare, und wie er mir erzählte, hatte er nur aus einem Grunde darauf bestanden, mich kennenzulernen, nämlich damit ich Glissant für all das dankte, was dieser für ihn und seine Familie getan habe; vor allem dafür, dass er ihn in seine „Welt“ aufgenommen habe, so als wäre er, Mamadou, ebenso gebildet und bedeutend wie die übrigen Menschen im Seminarraum. Er bat mich, Glissant auszurichten, dass er, Mamadou, obgleich er nur elementare Französischkenntnisse besitze, dennoch verstanden habe, was jeder der Teilnehmer auf der Konferenz gesagt habe. Er wiederholte, er wolle lediglich, dass ich mich bei Glissant in seinem Namen bedankte.

Mamadou und ich verabschiedeten uns auf Soninke, unserer Muttersprache, und er beendete unser Ritual, indem er dafür betete, dass Gott uns für den Rest des Abends Frieden schenken möge. Ich sehe noch, wie er sich in seinem blauen Gewand unter die Menschenmassen auf dem Boulevard Saint-Germain mischte und an der Rue du Bac in die Metro verschwand. Ich hatte wie gesagt zunächst ein wenig Angst davor gehabt, Mamadou Soumare kennenzulernen, weil ich mir nicht sicher war, was er und Glissant wohl von mir erwarten würden. Ich wollte keinen der beiden enttäuschen. Jetzt erkannte ich, dass beide wollten, dass ich dem jeweils anderen eine Nachricht überbrachte, und dass sie mich lediglich als Pfad, nicht als befestigte Straße, sondern als Spur einer Straße, für ihre Beziehung, ihre Relation benutzten. Während unserer Kommunikation war ich zu einer weiteren Schicht innerhalb ihrer opaken Art der Beziehungsbildung geworden. Was ich zunächst für eine zufällige Begegnung zwischen zwei Menschen aus Mali gehalten hatte, die an einer Konferenz in Paris teilnahmen, war in Wirklichkeit vollständig manipuliert. Inzwischen verstehe ich, dass Glissant gerade meisterhaft die Veranschaulichung seines Begriffs der intuitiven Relation vereinfacht hatte, den er in seiner Philosophie de la Relation in ausgesprochen poetischer, komplexer Art beschrieb. Er wollte, dass ich etwas mit in die Vereinigten Staaten zurücknahm, das sich durch kein Lehrbuch vermitteln ließ.

Manthia Diawara, Édouard Glissant: One World in Relation, K’a Yéléma Productions, 2009, 48 Min., Filmstill

Nur einen Tag zuvor hatte ich mit Glissant während eines Abendessens mit der französischen Modedesignerin agnès b., einer Bewunderin seines Werks, über mein Filmprojekt gesprochen. Dabei hatte er die von ihm so genannte Transparenz des Kinobildes sowie die beim Film übliche systematische und dogmatische Aneinanderreihung von Einzeleinstellungen zum Zwecke der Sinnproduktion kritisiert. Seiner Überzeugung nach war das, was sich außerhalb des Filmbildes befand, ebenso wichtig wie das, was in ihm zu sehen war. Für Glissant spielten gute Filme auf selbstbewusste Weise mit dem Mittel des Vorführens als einer Form des Verbergens und zeigten das, was sie zeigten, mittels Bedeutungsaufschub, so als wollten sie beweisen, dass sie durch die Identitätsstiftung bewusst ihr Anderes ausblendeten.

Ich nutzte unser Gespräch über das Kino, um Glissant zu fragen, ob es seiner Meinung nach Mittel zur Vereinfachung seiner Ideen für eine allgemeinere Darstellung an amerikanischen Universitäten gebe und ob mein Film möglicherweise als ein solches Mittel fungieren könne. Er antwortete, dass seine Ideen eigentlich sehr einfach seien; was die Amerikaner und viele Franzosen allerdings am dringendsten bräuchten, sei eine Verschiebung ihres geistigen Konzepts der Globalisierung (mondialisation) hin zu einem der Globalität (mondialité). Er wies darauf hin, dass wir einen Welt- und Geisteszustand erreichen müssten, der weniger stark von Entdeckung und Eroberung geprägt sei, und für eine Philosophie der Relation eintreten sollten, die unsere Differenzen nicht als etwas Trennendes begreife, sondern als etwas, das uns individuell und kollektiv innerhalb der Tout-Monde miteinander verbinde, in der die Kommunikation zwischen unseren Intuitionen keine sprachlichen, territorialen oder Machtgrenzen kenne. Und was meinen Film angehe, sagte Glissant und sah mich lächelnd an, so würde er an meiner Stelle warten, bis wir uns in der Mitte des Atlantiks befänden, und dann die Kamera auf die Wassermassen und dessen unendliche Tiefen richten. Wenn es nach ihm ginge, würde der ganze Film nur aus dieser einen Einstellung bestehen.

Ironischerweise bat mich Mamadou Soumare am nächsten Tag, Glissant auszurichten, dass er trotz seiner rudimentären Beherrschung des Französischen begriffen habe, was die Philosophen und Dichter auf der Konferenz gesagt hätten. Könnte Glissant mit der Erlangung einer Globalität, mit dem Versuch, die Tout-Monde zu verstehen, indem man sie als Opazität statt als Transparenz begreife, möglicherweise genau das gemeint haben? War die Feinheit von Mamadou Soumares Intuition möglicherweise ebenso eloquent und scharfsinnig wie unsere Beherrschung der französischen Sprache? In Glissants Philosophie de la Relation heißt es hierzu:

Die Bedeutung unserer Übereinstimmung mit dem Anderen hängt ab vom intuitiven Gleichgewicht (individuell oder kollektiv) der Relationen eines Landes zum anderen sowie von der Schärfe der Wahrnehmung einer Welt-Ästhetik, die das Gleichgewicht beziehungsweise die Verletzung der Harmonie bei diesen Übereinstimmungen im Auge behält, während wir uns zwischen verschiedenen menschlichen Kulturen hin und her bewegen: Gleichgewicht und Schärfe, Intuition und Wahrnehmung, und zwar jeweils zu gleichen Teilen.3

Meine kurze Begegnung mit Mamadou Soumare markierte den Moment meiner Neupositionierung im Hinblick auf Glissants Schriften. Zuvor hatte ich ihn, ähnlich wie die meisten seiner Leser, als einen Verfasser postkolonialer, Black Atlantic-, minoritärer und oppositioneller Studien rezipiert. In diesem Sinne begriff ich seine Aufsatzsammlung Caribbean Discourse (1989)4 beispielsweise als Traktat der Post-Negritude-Kritik. Dieses Buch, in dem viele den Ausgangspunkt der Créolité-Bewegung sehen, machte die Black Studies in den USA mit dem rhizomatischen Denken, den Studien der afrikanischen Diaspora und der métissage bekannt. Nun erkannte ich, dass eine simple Positionierung Glissants innerhalb dieser Linie postkolonialer Theorie ihn als oppositionellen Theoretiker anstatt als Theoretiker der Relation erscheinen lassen würde. Wären wir darin geübt, den Begriff der Differenz innerhalb der oppositionellen Kritik als gegen eine Bedeutung beziehungsweise eine epistemologische Konstruktion des Anderen gerichtet zu begreifen, würde eine Neubetrachtung Glissants uns dazu nötigen, diesen Begriff neu als dasjenige zu verstehen, was die diversen Elemente der Tout-Monde, einschließlich derer, die für das Auge unsichtbar sind, miteinander verbindet und zueinander in Beziehung setzt.

Auf der Grundlage jener neuen Erkenntnisse Glissants müssen wir als gegeben voraussetzen, dass jede „Wahrheit“ und jede „Wirklichkeit“ uns nicht einfach ereilen, wie wissenschaftliche Deduktion und Transparenz uns glauben machen wollen, sondern dass einige ihrer Erscheinungsformen uns intuitiv, ähnlich einem Funken in der Dunkelheit, begegnen. Indem er uns zu einer Neubetrachtung der Differenz auffordert, lässt Glissant uns deren zentrale Bedeutung innerhalb der Konstruktion der Tout-Monde erkennen. Oder um es mit Glissant zu sagen: Wir dürfen uns weder mit der Aufteilung der Welt noch mit unvereinbaren Differenzen, binären Unterscheidungen oder Gattungs- und Genregegensätzen abfinden. Wir müssen das Bestreben überwinden, uns aufzuteilen in einander bedrohliche Diversitäten, die unsere Differenzen jedes Sinnes für das Poetische und Imaginäre berauben. Der Funke der Wahrheit und Wirklichkeit darf nicht isoliert gedacht werden von der Dunkelheit und der Opazität, aus denen sie herausgetreten sind. Glissant war davon überzeugt, dass der postkoloniale Diskurs ebenso aus dieser Opazität hervorgegangen ist wie die im Gegensatz zu ihm stehende Meistererzählung des Eurozentrismus, um einfache Schlussfolgerungen zu ermöglichen. Er glaubte, dass dieser Diskurs die Haltung der Vernunft versus Poesie und der Transparenz versus Komplexität einnehme und damit ebenso zur Zerstörung von Leben und der Umwelt beigetragen habe (etwa über den Nationalismus, der zu Gewalt und Immigration führe) wie ihre ehemaligen Kolonisatoren und die heutigen wirtschaftlichen und kulturellen Unterdrücker. Daher auch Glissants Mahnung:

Vergessen wir nicht, das Gedicht wurde beim Zusammenbruch der Welt begraben. Aus Gewohnheit stellte man vor der Entdeckung der Genres und der Gattungen die Einzigartigkeit und die Vielfalt der Dinge als voneinander getrennte Paare und Dualitäten dar, was die Unterscheidung zwischen den Dingen erleichterte (wir denken und reagieren noch heute in dieser dualen Weise und haben erstaunliche Freude daran). Ebenso warten wir jedoch nach wie vor auf eine neuartige Wahrnehmung der Differenzen, in der sie sich als solche zu erkennen geben, sowie auf eine Wiedergeburt des Gedichts.5

In Glissants Philosophie de la Relation geht es darum, dass Intuition, Natur und Poesie, welche die Dunkelheit der Opazität zum Thema haben, aus der Kommunikation ausgeschlossen wurden und die Geisteswissenschaften so auf Systeme linearer, diskriminierender Monolinguismen reduziert wurden. Alles, was nicht das Eine und Dasselbe widerspiegelte, wurde ausgelöscht. Tatsächlich beginnt Glissants Buch mit dem Tod des Gedichts, der zeitlich mit der Geburt der Philosophie zusammenfällt. Der achtzigjährige Glissant beklagt, dass er nicht mehr in der Lage sei, das Geräusch des aus den Bergen von Bezaudin, seinem Heimatdorf auf Martinique, herabstürzenden Wassers zu hören. Auch die Natur wurde durch den Siegeszug der Massenproduktionstechniken zerstört. Daher ging das Gedicht, die gesamte Menschheit im Abgrund unter wie jene gefangenen Afrikaner, die in den Atlantik gestoßen wurden, ohne dass jemand sie betrauern konnte. Der Atlantik war zu ihrem Mausoleum geworden, so wie er heute ein riesiger Friedhof für jene Afrikaner und anderen Menschen aus dem Süden ist, die versuchen, ihn auf ihrem Weg nach Europa oder Amerika zu überwinden.

Bei meiner Begegnung mit Mamadou Soumare lernte ich unter anderem, dass die zwischen den Menschen und ihrer Umwelt genutzten Kommunikationsformen in meinem Film wie bei allem, was mit Glissant zu tun hat, intuitiv und opak sein mussten. Und jeder Versuch einer Reduktion oder Entleerung dieser komplexen Kommunikationsmittel um der Klarheit willen könnte verheerende Folgen für die Geisteswissenschaften und die Umwelt haben. Mamadou Soumare verstand Glissant und dessen Werk, weil er wusste, dass seine Gedichte, Lieder und Mythen von jenen handelten, die in der Opazität des Meeres verloren gegangen waren. Mamadou Soumare konnte die Gedichte und Lieder von Glissant und seinen Kollegen begreifen und nacherzählen, obwohl er ihrer Sprache unkundig war, weil er in der Lage war, ihre Gefühle zu teilen. Glissant seinerseits verstand Mamadou Soumare, weil er sein Leid teilte, das er mit Hilfe seiner eigenen Gedichte über den Atlantik als Mausoleum gefangener Afrikaner und mit Hilfe seiner Philosophie der Relation an uns alle weitergab. Denn wir erkennen uns häufig gerade dadurch selbst, dass wir uns mit den Problemen anderer identifizieren.

Während der Pariser Konferenz 2008 brachten Glissant und Mamadou Soumare mich dazu, mit ihnen unsere Intuitionen der neuen Geisteswissenschaften, unsere Wunden auf dem Wege dorthin und unsere Feiern dieses Anlasses zu teilen, und zwar ohne jeden Triumph und ohne Rücksicht darauf, wer am meisten gelitten hat, wer zuerst da war oder berechtigt zu besonderen Legitimationshierarchien, die vermittels logozentristischer Systeme errichtet werden, wie sie einst die alte Weltordnung von Herr und Knecht, neoliberalen und xenophoben Nationalismen beherrschten. Mit einem Mal begriff ich, dass in dem Film, den ich über Glissant drehen wollte, unabhängig davon, welcher Art er sein würde, doch unbedingt der Atlantik und die natürliche Vegetation von Martinique vorkommen mussten, um beide Orte in Beziehung zueinander setzen zu können und sie jenseits der unauflöslichen Grenzen von Ethnie, Geschlecht und Klasse aufscheinen zu lassen. Dieser Film musste unser Denken gegenüber den Möglichkeiten der Disaffiliation, der „Rassenmischung“, der Kreolisierung und fließender Grenzen öffnen.

Mein Film, so beschloss ich, sollte Glissants und Mamadou Soumares feste Überzeugung aufgreifen, dass es sich bei der Intuition um eine individuell und kollektiv geteilte „Wissenschaft“ handelt, die uns die Zuversicht verleiht, angesichts aller Sprachen der einen relationalen Welt in unseren verschiedenen Akzenten zu sprechen. Ich entschied also, dass mein Film um drei Themen kreisen sollte: Aufbruch (der Tod des Gedichts und der Beginn von Entdeckung, Eroberung und Nationenbildung), Mitte (in Entsprechung zu Glissants Begriffen Mittelpassage, Abgrund und Opazität) und Rückkehr (bei der freie Menschen für die Rettung des Gedichts kämpfen, um die Differenz auf positive Weise als dasjenige anzuerkennen, das uns – nicht in Konkurrenz zueinander, sondern in Solidarität – miteinander verbindet). Der fertige Film blieb diesem Anfangskonzept treu, indem er eine Chronik meiner Reisen mit Glissant über den Atlantik entwirft, vom britischen Southhampton nach Brooklyn an Bord der Queen Mary II, sowie unseres gemeinsamen Aufenthalts in seiner Heimat, der Karibikinsel Martinique, wo wir über sein Werk und seine Kindheit und Jugend sprachen. Ich hoffte damals (und hoffe es nach wie vor), dass ein solcher Film das Potenzial haben würde, die Intuition der Zuschauer an verschiedenen Orten der Welt anzusprechen und die Spuren des Glissant’schen Gedichts freizulegen. Oder, wie Glissant, der Techniker der Disaffiliation und der Zauberer des Gedichts, im Film selbst sagt: „Auf dem Sklavenschiff haben wir unsere Sprachen, unsere Götter, alle uns vertrauten Objekte und Lieder und alles andere verloren. Wir haben alles verloren. Alles, was uns geblieben ist, sind Spuren. Darum glaube ich, dass es sich bei unserer Literatur um eine Literatur der Spuren handelt.“6

 

Aus dem Englischen von Ralf Schauff 

Manthia Diawara, Édouard Glissant: One World in Relation, K’a Yéléma Productions, 2009, 48 Min., Filmstill

1 Édouard Glissant, Un Monde en Relation, Regie: Manthia Diawara, französisch mit englischen Untertiteln, 48 Min., K’a Yéléma Productions, 2009.

2 Édouard Glissant, Philosophie de la Relation, Paris 2009.

3 Ebd., S. 29.

4 Édouard Glissant, Caribbean Discourse. Selected Essays, Charlottesville, Virginia, 1989 (frz. Le Discours antillais [1981], Paris 1997).

5 Glissant, Philosophie de la Relation, S. 15.

6 Édouard Glissant, Un Monde en Relation.