Nur einen Tag zuvor hatte ich mit Glissant während eines Abendessens mit der französischen Modedesignerin agnès b., einer Bewunderin seines Werks, über mein Filmprojekt gesprochen. Dabei hatte er die von ihm so genannte Transparenz des Kinobildes sowie die beim Film übliche systematische und dogmatische Aneinanderreihung von Einzeleinstellungen zum Zwecke der Sinnproduktion kritisiert. Seiner Überzeugung nach war das, was sich außerhalb des Filmbildes befand, ebenso wichtig wie das, was in ihm zu sehen war. Für Glissant spielten gute Filme auf selbstbewusste Weise mit dem Mittel des Vorführens als einer Form des Verbergens und zeigten das, was sie zeigten, mittels Bedeutungsaufschub, so als wollten sie beweisen, dass sie durch die Identitätsstiftung bewusst ihr Anderes ausblendeten.
Ich nutzte unser Gespräch über das Kino, um Glissant zu fragen, ob es seiner Meinung nach Mittel zur Vereinfachung seiner Ideen für eine allgemeinere Darstellung an amerikanischen Universitäten gebe und ob mein Film möglicherweise als ein solches Mittel fungieren könne. Er antwortete, dass seine Ideen eigentlich sehr einfach seien; was die Amerikaner und viele Franzosen allerdings am dringendsten bräuchten, sei eine Verschiebung ihres geistigen Konzepts der Globalisierung (mondialisation) hin zu einem der Globalität (mondialité). Er wies darauf hin, dass wir einen Welt- und Geisteszustand erreichen müssten, der weniger stark von Entdeckung und Eroberung geprägt sei, und für eine Philosophie der Relation eintreten sollten, die unsere Differenzen nicht als etwas Trennendes begreife, sondern als etwas, das uns individuell und kollektiv innerhalb der Tout-Monde miteinander verbinde, in der die Kommunikation zwischen unseren Intuitionen keine sprachlichen, territorialen oder Machtgrenzen kenne. Und was meinen Film angehe, sagte Glissant und sah mich lächelnd an, so würde er an meiner Stelle warten, bis wir uns in der Mitte des Atlantiks befänden, und dann die Kamera auf die Wassermassen und dessen unendliche Tiefen richten. Wenn es nach ihm ginge, würde der ganze Film nur aus dieser einen Einstellung bestehen.
Ironischerweise bat mich Mamadou Soumare am nächsten Tag, Glissant auszurichten, dass er trotz seiner rudimentären Beherrschung des Französischen begriffen habe, was die Philosophen und Dichter auf der Konferenz gesagt hätten. Könnte Glissant mit der Erlangung einer Globalität, mit dem Versuch, die Tout-Monde zu verstehen, indem man sie als Opazität statt als Transparenz begreife, möglicherweise genau das gemeint haben? War die Feinheit von Mamadou Soumares Intuition möglicherweise ebenso eloquent und scharfsinnig wie unsere Beherrschung der französischen Sprache? In Glissants Philosophie de la Relation heißt es hierzu:
Die Bedeutung unserer Übereinstimmung mit dem Anderen hängt ab vom intuitiven Gleichgewicht (individuell oder kollektiv) der Relationen eines Landes zum anderen sowie von der Schärfe der Wahrnehmung einer Welt-Ästhetik, die das Gleichgewicht beziehungsweise die Verletzung der Harmonie bei diesen Übereinstimmungen im Auge behält, während wir uns zwischen verschiedenen menschlichen Kulturen hin und her bewegen: Gleichgewicht und Schärfe, Intuition und Wahrnehmung, und zwar jeweils zu gleichen Teilen.
Meine kurze Begegnung mit Mamadou Soumare markierte den Moment meiner Neupositionierung im Hinblick auf Glissants Schriften. Zuvor hatte ich ihn, ähnlich wie die meisten seiner Leser, als einen Verfasser postkolonialer, Black Atlantic-, minoritärer und oppositioneller Studien rezipiert. In diesem Sinne begriff ich seine Aufsatzsammlung Caribbean Discourse (1989) beispielsweise als Traktat der Post-Negritude-Kritik. Dieses Buch, in dem viele den Ausgangspunkt der Créolité-Bewegung sehen, machte die Black Studies in den USA mit dem rhizomatischen Denken, den Studien der afrikanischen Diaspora und der métissage bekannt. Nun erkannte ich, dass eine simple Positionierung Glissants innerhalb dieser Linie postkolonialer Theorie ihn als oppositionellen Theoretiker anstatt als Theoretiker der Relation erscheinen lassen würde. Wären wir darin geübt, den Begriff der Differenz innerhalb der oppositionellen Kritik als gegen eine Bedeutung beziehungsweise eine epistemologische Konstruktion des Anderen gerichtet zu begreifen, würde eine Neubetrachtung Glissants uns dazu nötigen, diesen Begriff neu als dasjenige zu verstehen, was die diversen Elemente der Tout-Monde, einschließlich derer, die für das Auge unsichtbar sind, miteinander verbindet und zueinander in Beziehung setzt.
Auf der Grundlage jener neuen Erkenntnisse Glissants müssen wir als gegeben voraussetzen, dass jede „Wahrheit“ und jede „Wirklichkeit“ uns nicht einfach ereilen, wie wissenschaftliche Deduktion und Transparenz uns glauben machen wollen, sondern dass einige ihrer Erscheinungsformen uns intuitiv, ähnlich einem Funken in der Dunkelheit, begegnen. Indem er uns zu einer Neubetrachtung der Differenz auffordert, lässt Glissant uns deren zentrale Bedeutung innerhalb der Konstruktion der Tout-Monde erkennen. Oder um es mit Glissant zu sagen: Wir dürfen uns weder mit der Aufteilung der Welt noch mit unvereinbaren Differenzen, binären Unterscheidungen oder Gattungs- und Genregegensätzen abfinden. Wir müssen das Bestreben überwinden, uns aufzuteilen in einander bedrohliche Diversitäten, die unsere Differenzen jedes Sinnes für das Poetische und Imaginäre berauben. Der Funke der Wahrheit und Wirklichkeit darf nicht isoliert gedacht werden von der Dunkelheit und der Opazität, aus denen sie herausgetreten sind. Glissant war davon überzeugt, dass der postkoloniale Diskurs ebenso aus dieser Opazität hervorgegangen ist wie die im Gegensatz zu ihm stehende Meistererzählung des Eurozentrismus, um einfache Schlussfolgerungen zu ermöglichen. Er glaubte, dass dieser Diskurs die Haltung der Vernunft versus Poesie und der Transparenz versus Komplexität einnehme und damit ebenso zur Zerstörung von Leben und der Umwelt beigetragen habe (etwa über den Nationalismus, der zu Gewalt und Immigration führe) wie ihre ehemaligen Kolonisatoren und die heutigen wirtschaftlichen und kulturellen Unterdrücker. Daher auch Glissants Mahnung:
Vergessen wir nicht, das Gedicht wurde beim Zusammenbruch der Welt begraben. Aus Gewohnheit stellte man vor der Entdeckung der Genres und der Gattungen die Einzigartigkeit und die Vielfalt der Dinge als voneinander getrennte Paare und Dualitäten dar, was die Unterscheidung zwischen den Dingen erleichterte (wir denken und reagieren noch heute in dieser dualen Weise und haben erstaunliche Freude daran). Ebenso warten wir jedoch nach wie vor auf eine neuartige Wahrnehmung der Differenzen, in der sie sich als solche zu erkennen geben, sowie auf eine Wiedergeburt des Gedichts.
In Glissants Philosophie de la Relation geht es darum, dass Intuition, Natur und Poesie, welche die Dunkelheit der Opazität zum Thema haben, aus der Kommunikation ausgeschlossen wurden und die Geisteswissenschaften so auf Systeme linearer, diskriminierender Monolinguismen reduziert wurden. Alles, was nicht das Eine und Dasselbe widerspiegelte, wurde ausgelöscht. Tatsächlich beginnt Glissants Buch mit dem Tod des Gedichts, der zeitlich mit der Geburt der Philosophie zusammenfällt. Der achtzigjährige Glissant beklagt, dass er nicht mehr in der Lage sei, das Geräusch des aus den Bergen von Bezaudin, seinem Heimatdorf auf Martinique, herabstürzenden Wassers zu hören. Auch die Natur wurde durch den Siegeszug der Massenproduktionstechniken zerstört. Daher ging das Gedicht, die gesamte Menschheit im Abgrund unter wie jene gefangenen Afrikaner, die in den Atlantik gestoßen wurden, ohne dass jemand sie betrauern konnte. Der Atlantik war zu ihrem Mausoleum geworden, so wie er heute ein riesiger Friedhof für jene Afrikaner und anderen Menschen aus dem Süden ist, die versuchen, ihn auf ihrem Weg nach Europa oder Amerika zu überwinden.
Bei meiner Begegnung mit Mamadou Soumare lernte ich unter anderem, dass die zwischen den Menschen und ihrer Umwelt genutzten Kommunikationsformen in meinem Film wie bei allem, was mit Glissant zu tun hat, intuitiv und opak sein mussten. Und jeder Versuch einer Reduktion oder Entleerung dieser komplexen Kommunikationsmittel um der Klarheit willen könnte verheerende Folgen für die Geisteswissenschaften und die Umwelt haben. Mamadou Soumare verstand Glissant und dessen Werk, weil er wusste, dass seine Gedichte, Lieder und Mythen von jenen handelten, die in der Opazität des Meeres verloren gegangen waren. Mamadou Soumare konnte die Gedichte und Lieder von Glissant und seinen Kollegen begreifen und nacherzählen, obwohl er ihrer Sprache unkundig war, weil er in der Lage war, ihre Gefühle zu teilen. Glissant seinerseits verstand Mamadou Soumare, weil er sein Leid teilte, das er mit Hilfe seiner eigenen Gedichte über den Atlantik als Mausoleum gefangener Afrikaner und mit Hilfe seiner Philosophie der Relation an uns alle weitergab. Denn wir erkennen uns häufig gerade dadurch selbst, dass wir uns mit den Problemen anderer identifizieren.
Während der Pariser Konferenz 2008 brachten Glissant und Mamadou Soumare mich dazu, mit ihnen unsere Intuitionen der neuen Geisteswissenschaften, unsere Wunden auf dem Wege dorthin und unsere Feiern dieses Anlasses zu teilen, und zwar ohne jeden Triumph und ohne Rücksicht darauf, wer am meisten gelitten hat, wer zuerst da war oder berechtigt zu besonderen Legitimationshierarchien, die vermittels logozentristischer Systeme errichtet werden, wie sie einst die alte Weltordnung von Herr und Knecht, neoliberalen und xenophoben Nationalismen beherrschten. Mit einem Mal begriff ich, dass in dem Film, den ich über Glissant drehen wollte, unabhängig davon, welcher Art er sein würde, doch unbedingt der Atlantik und die natürliche Vegetation von Martinique vorkommen mussten, um beide Orte in Beziehung zueinander setzen zu können und sie jenseits der unauflöslichen Grenzen von Ethnie, Geschlecht und Klasse aufscheinen zu lassen. Dieser Film musste unser Denken gegenüber den Möglichkeiten der Disaffiliation, der „Rassenmischung“, der Kreolisierung und fließender Grenzen öffnen.
Mein Film, so beschloss ich, sollte Glissants und Mamadou Soumares feste Überzeugung aufgreifen, dass es sich bei der Intuition um eine individuell und kollektiv geteilte „Wissenschaft“ handelt, die uns die Zuversicht verleiht, angesichts aller Sprachen der einen relationalen Welt in unseren verschiedenen Akzenten zu sprechen. Ich entschied also, dass mein Film um drei Themen kreisen sollte: Aufbruch (der Tod des Gedichts und der Beginn von Entdeckung, Eroberung und Nationenbildung), Mitte (in Entsprechung zu Glissants Begriffen Mittelpassage, Abgrund und Opazität) und Rückkehr (bei der freie Menschen für die Rettung des Gedichts kämpfen, um die Differenz auf positive Weise als dasjenige anzuerkennen, das uns – nicht in Konkurrenz zueinander, sondern in Solidarität – miteinander verbindet). Der fertige Film blieb diesem Anfangskonzept treu, indem er eine Chronik meiner Reisen mit Glissant über den Atlantik entwirft, vom britischen Southhampton nach Brooklyn an Bord der Queen Mary II, sowie unseres gemeinsamen Aufenthalts in seiner Heimat, der Karibikinsel Martinique, wo wir über sein Werk und seine Kindheit und Jugend sprachen. Ich hoffte damals (und hoffe es nach wie vor), dass ein solcher Film das Potenzial haben würde, die Intuition der Zuschauer an verschiedenen Orten der Welt anzusprechen und die Spuren des Glissant’schen Gedichts freizulegen. Oder, wie Glissant, der Techniker der Disaffiliation und der Zauberer des Gedichts, im Film selbst sagt: „Auf dem Sklavenschiff haben wir unsere Sprachen, unsere Götter, alle uns vertrauten Objekte und Lieder und alles andere verloren. Wir haben alles verloren. Alles, was uns geblieben ist, sind Spuren. Darum glaube ich, dass es sich bei unserer Literatur um eine Literatur der Spuren handelt.“
Aus dem Englischen von Ralf Schauff