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Maskenstille, Stillemasken oder Ein Zustand äußersten Zuhörens

Ist es nicht hier
So muss es dort sein
Denn Irgendwo und Nirgendwo
Gehen einher
In Spielarten von einander
Wo/Wenn nichts nach etwas nicht ist
Oder noch bevor etwas entstand
– Sun Ra, „Parallels“ (1972)

 

 

 

Stille 1

Wir haben den Eindruck, dass in den großen Weiten des Raums zwischen den Himmelskörpern eine Leere ist. Dementsprechend, vollkommene Stille. Das griechische Wort für Raum ist διάστημα, wörtlich „Dazwischen“. Es überrascht nicht, dass mit diesem Wort ursprünglich der Abstand zwischen Tönen bezeichnet wurde, denn das Verständnis der Laute und Klänge (und naturgemäß auch der Musik) war in der griechischen Antike grundlegend für die Betrachtung des Universums. Was Pierre Schaeffer, der Begründer der Musique concrète später „akusmatische Erfahrung“ nannte, galt den Griechen der Antike als physikalisches Grundgesetz. Man lauschte dem Universum, noch vor allem anderen.

Vielleicht wird in hundert Jahren, sollte die Menschheit noch so lange auf diesem Planeten leben, der 14. September 2015 als Datum einer kopernikanischen Revolution anderer Art gelten. An diesem Tag zeichnete LIGO, das Laser Inferometer Gravitational-Wave Observatory, ein Geräusch auf, das von der Kollision zweier Schwarzer Löcher vor etwa 1,2 Milliarden Jahren stammt. LIGO ist eine gigantische, auf die äußersten Ränder des Universums gerichtete Horchmaschine. Es besteht aus zwei L-förmigen, 3.000 Kilometer voneinander entfernten Tunneln (in Hanford, Washington und Livingston, Louisiana, USA). Seine hochreinen, von jeglicher Vibration abgeschirmten Spiegel am Ende der langen Tunnelarme sind so eingestellt, dass sie vorüberziehende Gravitationswellen durch die Ablenkung eines Laserstrahls anzeigen können. Dabei gab es Gravitationswellen bis zum Zeitpunkt dieser Messung nur in der Theorie – nämlich in Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie, die auf mathematischem Weg die Krümmung des Raums infolge großer Schwerkraftfluktuationen vorhersagte. Die LIGO-Maschine registrierte die Bestätigung der Theorie eines Menschenwesens durch das Universum. Diese Theorie beruht – wie alle theoretische Physik – auf der Annahme, dass die Vorgänge des Universums einer unbeugsamen Mathematik folgen, wenngleich deren Berechnungen vorläufig in keinem physischen Sinn beobachtbar oder überprüfbar sein sollten.

Alle Zahlen rund um dieses Ereignis sind verblüffend, im Kleinen wie im Großen. Die beiden Schwarzen Löcher (mit 36 und 29, also insgesamt 62 Sonnenmassen), von denen man inzwischen vermutet, dass sie aus dem Kern eines einzigen, unvorstellbar riesigen Sterns hervorgegangen sind, haben bei ihrem Zusammenstoß vor 1,2 Milliarden Jahren nach Berechnungen fünfzigmal so viel Energie abgegeben wie alle anderen Sterne des Universums insgesamt. Dieser unvorstellbare Sturm im Weltall hat in den Tiefen des Raumes eine Verwerfung hinterlassen und bewegte die Spiegel des LIGO nachträglich um nur vier Tausendstel des Durchmessers eines Protons, das selbst nur 10-15 Meter klein ist. Die Krümmung des Gravitationsraums verursachte ein Zischgeräusch, das sich zwischen kleinem und eingestrichenem C bewegte und kaum drei Sekunden dauerte.

Wie groß der Stellenwert der letzten noch ausstehenden empirischen Bestätigung von Einsteins theoretischen Vorhersagen auch immer sein mag: Das Allerwichtigste an der ganzen Angelegenheit war dieses Zwitschern. Wenn Galileo eine Phase begründete, in der sich die moderne Astronomie auf das teleskopische, inzwischen das gesamte elektromagnetische Spektrum umfassende Sehen verließ, so hat sich dieses Paradigma mit dem LIGO-Ereignis geändert. „Alles andere in der Astronomie ist Auge“, erklärte Szabolcs Marka, Astrophysiker an der Columbia University und Mitarbeiter des LIGO-Projekts. „Aber hier sind der Astronomie endlich Ohren gewachsen. Bisher hatten wir keine Ohren.“ Das ist eine erstaunliche Erkenntnis, wenn man bedenkt, dass die Physik des Kosmos von Anfang an, nämlich seit Thales und Anaximander von Milet im 6. Jahrhundert v. Chr., viel mehr umfasste als nur den sichtbaren Bereich. Bevor das Universum zum Gegenstand des abstrakten mathematischen Denkens wurde, war es in erster Linie ein akusmatisches Erlebnis. Die Stille ist sein Zwischen-Raum. Es bittet uns, zuzuhören.

 

Masken 1

Pfeilschwanzkrebs (Limulus polyphemus)

Der Pfeilschwanzkrebs ist kein Krebs, sondern ein Meeres-Gliederfüßler, und als solcher näher mit den Spinnentieren verwandt. Dieses sonderbare Geschöpf lebt im flachen Meer vor der Ostküste Nordamerikas sowie in den Meeren Ost- und Südasiens. Weil die Art 450 Millionen Jahre alt ist, gelten Pfeilschwanzkrebse als lebende Fossilien. Anders gesagt: Sie tragen die Geschichte des Lebens auf der Erde in sich. Pfeilschwanzkrebse haben über ihren ganzen Körper verteilt neun verschiedene Augen. Das für sie sichtbare Spektrum umfasst sogar den ultravioletten Bereich. Sie sind echte Blaublütler, weil der Sauerstoff in ihrem Blut nicht vom Hämoglobin, sondern von Hämocyanin, einem kupferbasierten Metalloprotein, transportiert wird. Da ihr Blut auf krankheitserregende Keime reagiert, wird es „geerntet“ (das ist der Ausdruck dafür): Nachdem man die Tiere zur Ader gelassen hat, werden sie wieder im Ozean ausgesetzt. Die Sterberate bei der Bluternte für medizinische Zwecke ist niedrig, aber nicht Null. Auch ist die Jagd nach Pfeilschwanzkrebsen zur Verwendung als Fischköder inzwischen hier und da verboten, weil der Rückgang der Bestände die ökologische Stabilität vieler Zugvögel schwer beeinträchtigt. Das Tier Mensch zeichnet sich dadurch aus, dass es in die Umwelt jedes anderen Lebewesens auf der Erde eingreift und dabei zugleich fürsorglich und eigennützig, bewahrend und katastrophal zerstörerisch vorgeht.

Der Mensch unterscheidet sich von allen anderen Tieren aber auch dadurch, dass er sich mit Vorliebe – tatsächlich oder im übertragenen Sinn – maskiert. Dieses Bedürfnis ist uralt. Es hat sich in komplexen Institutionen in den verschiedensten kulturellen Traditionen niedergeschlagen. Eine Maske aufzusetzen ist eine Form der Täuschung, um das einmal klar und deutlich zu sagen, bevor wir uns all den Spitzfindigkeiten zuwenden, die uns weiter zu Diskussionen über Nachahmung, Theatralität oder die Performativität von Mythen führen. Auf der untersten Ebene ist das Maskentragen ein Verhalten, mit dem man anderen ein falsches Bild von sich selbst vermittelt, noch während und indem man vorübergehend das übliche Verfahren zur Bestimmung eines Selbsts außer Kraft setzt. Sich zu maskieren, so könnte man sagen, ist eigentlich eine Geste der Selbsttäuschung auch und gerade dann, wenn man meint, den anderen zu täuschen. Der angesehene Biologe Robert Trivers behauptet in seinem Buch The Folly of Fools (2011) sogar, dass die natürliche Selektion Maskierung begünstige und dass Täuschung und Selbsttäuschung trotz des Unheils, das beide für unsere Umweltstabilität wahrscheinlich mit sich bringen, allen Lebewesen – auf jeden Fall allen Menschenwesen – angeboren seien. Geradlinige Interaktion zwischen gefestigten, ihrer selbst sicheren Identitäten ist eine Illusion. Auch wenn Identitäten verzweifelt festgehalten oder mit dogmatischer Gewalt behauptet werden, sind sie zugleich einem Sperrfeuer subversiver Spiegelfechtereien ausgesetzt, die den Spielregeln derselben Gesellschaft entspringen. So gesehen vollführen Masken eine Geste der Entlastung. Ihre Verleugnung ist die durchsichtigste Bekräftigung ihrer Existenz. Wenn Politiker gewichtig verkünden, das „Versteckspiel sei zu Ende“ – wen täuschen sie dann außer sich selbst?

Der Pfeilschwanzkrebs hat die Form einer vollkommenen Maske. Sogar sein Schwanz könnte nach Art vieler venezianischer oder javanischer, sibirischer oder Yoruba-Traditionen ein Maskengriff sein. Im Frühherbst sind die endlosen Sandstrände der Atlantikküste regelmäßig mit leeren Schalen übersät, weil sich die Tiere häuten (neue Schalenhäuser ausbilden) oder, im fortgeschrittenen Alter, sterben. An solchen Tagen überkommt mich dort das Gefühl, dass sich vor mir ein Friedhof abgelegter Masken ausbreitet.

 

Maskenstille

1973 inszenierte der große südafrikanische Dramatiker Athol Fugard mit den Schauspielern John Kani und Winston Ntshona in Kapstadt zum ersten Mal ein Stück, das später Berühmtheit erlangte: Die Insel. Es spielt im berüchtigten Gefängnis auf Robben Island, wo Nelson Mandela 27 Jahre seines Lebens verbrachte, und handelt von zwei schwarzen Häftlingen, die wegen ihres Widerstands gegen die Apartheid zu einem Alltag demütigender Schwerarbeit verurteilt wurden. Um mit ihrer Situation besser fertig zu werden, nehmen sich die beiden vor, für ihre Mitgefangenen die klassische antike Tragödie von Gesetz und Ungehorsam aufzuführen: Antigone von Sophokles.

Die Insel beruht auf einer wahren Geschichte. Ein Schauspieler des Theaterkollektivs The Serpent Players wurde festgenommen und auf Robben Island inhaftiert. Einige Zeit später ging das Gerücht, dass er ganz allein eine Aufführung der Antigone auf die Beine gestellt habe. Bei seinen Kollegen in der Theatergruppe kamen vermutlich Fragen auf: Wie ist es möglich, eine antike griechische Tragödie als Monolog aufzuführen? Spielte der Darsteller viele Rollen zugleich? Wechselte er die Masken? Und wie ging er mit dem Chor um? Kann eine Person als viele sprechen und doch eine einzelne bleiben? Ist Antigone eine Einzelperson? Oder findet sich in der Antigone etwas, das wie Kreon sprechen könnte? Sind diese beiden Gegenspieler durch eine Stimme – eine Maske – aneinandergebunden, die beider Sprachen spricht? Gleichzeitig? Vielleicht sogar im Widerstreit? Worin besteht das „Widrige“ einer einzelnen Stimme? Im Wechsel der Masken?

Zwischenspiel

Aischylos’ große Neuerung, die hervorgebracht hat, was man im Theater eine dramatische Handlung nennt, war das Aufbrechen der pluralen Ganzheit des Chores und die Aufnahme einer separaten Stimme in der Gestalt – in der Maske – einer einzelnen, von da an „Schauspieler“ genannten Person. Daraus entstand die dramatische Begegnung.

Ohne Zweifel ermöglichte die demokratische, von öffentlichem Streiten und Verhören geprägte Vorstellungswelt Athens auch die Erfindung der dramatischen Handlung. Ebenso unzweifelhaft sind aber auch in dieser Form schon die grundlegenden, wenngleich anders nicht greifbaren, Merkmale der Polis als Gesellschaftsform enthalten.

Zwei Überlegungen:

Im Theater Athens kommt es zu einer Verschiebung vom religiösen Ritual (das als solches auf Wiederholung beruht) zu einer theatralen Begegnung, die eine Unterbrechung und Auseinandersetzung anzeigt, als eigenständiges Ritual aber kaum noch zu erkennen ist, obgleich die ritualistische, dionysische Komponente darin fest verankert bleibt. Wenn aus dem Ritual ein Schauspiel wird, werden die performativen Gesangs-/Tanz-Wiederholungen des religiösen Kultes zu einem Raum (oder sie erzeugen einen Raum), in dem etwas geschieht, das heißt zu einem Raum der Handlung (das eigentlich meint „Drama“). Das Geschehen kann hier nicht in der bloßen Wiederholung von etwas bestehen, das – gemäß dem Grundmuster jedes religiösen Kultes – längst bekannt ist und Bekräftigung erfordert, sondern es muss gerade die Auflösung des Bekannten betreiben. Das Geschehen muss ein performatives Verhören sein: Entfremdung von dem, dessen repetitive Bestätigung man erwartet, Inszenierung der Selbstreflexion, also unausweichlich auch Selbstverfremdung.

Mit Aischylos’ Theatralität tritt eine dialektische Komponente in den Horizont des Zuschauens (das eigentlich meint „Theater“) ein. Der Chor öffnet sich, und ein einzelner Schauspieler wird aus ihm herausgebrochen. Dieser agiert nun als Gesprächspartner, als verkörperter Bezugspunkt einer Handlung, die den Blick von der Bühne abwendet, somit als eine die rituelle Einheit von Leib und Seele des Chores störende Figur. Dennoch – und das ist von enormer Bedeutung – wird der Chor nicht abgeschafft. (Das bürgerliche Theater ist geplagt von seiner fatalen Anmaßung, den Chor beseitigt zu haben. Er bleibt gegenwärtig als ein Gespenst, an dessen Überwindung sich das Theater der Moderne und der Postmoderne in immer neuer Antithese bis heute abarbeitet.) Nein, der Chor wird bewahrt (aber verändert) und ist nun selbst Träger der Handlung (ein multipler Schauspieler). Er agiert nicht mehr nur in der rituellen Gesang-/Tanz-Wiederholung, sondern auch als selbstreflexive Stimme, in Leib und Seele.

Dadurch wird eine völlig neue Art der Inter-Aktion auf der Bühne geschaffen. Sie stellen die Interaktion zwischen Schauspiel und Publikum, Aufführung und Polis dar und vergegenwärtigen sie zugleich. Ein tiefschürfender Prozess der Selbstreflexion, Selbstbefragung und Selbstwandlung entwickelt sich in alle Richtungen und greift von der Bühne auf die Straße über. All das findet in einer psychosozialen Atmosphäre statt (um es mit heutigen Worten zu sagen), in der die Kontingenzen des Lebens als Schätze willkommen, nicht als handlungsunfähig machende Widrigkeiten gefürchtet sind. Es herrscht allgemein Einverständnis, dass diese Atmosphäre mehr Mündigkeit und Verantwortung für das eigene Handeln zulässt, weshalb man auch höheren Ansprüchen an die Selbstreflexion und Selbstbefragung (die beiden Achsen der krisis) sowie an die Selbstbeschränkung in Ermangelung äußerer Grenzen genügen muss – alles Forderungen, die ein einfaches Ritual nicht mehr erfüllen kann.

The Island ist keine moderne afrikanische Fassung der Antigone. Davon gibt es so viele, dass man sie mit einigem gutem Willen als eigenes, der Erforschung und Diskussion würdiges literarisches und historisches Phänomen betrachten kann. Dieses umfasst neben der Antigone (dem bei weitestem am häufigsten herangezogenen Stück) noch eine Reihe anderer in den zeitgenössischen afrikanischen Kontext überführte Tragödien der griechischen Antike. Es begann in den 1960er Jahren mit dem berühmtesten aller derartigen Unternehmen, Wole Soyinkas Fassung der Bacchen. Mit einer bloßen Bearbeitung oder Übersetzung auch im umfassenden Sinn des Wortes hat dieses Phänomen aber wenig zu tun. Denn es ist eine Form, archaische und fremde mythische Gebilde in einer zeitgenössischen Situation neu aufzuführen und damit das gesellschaftliche und politische Bedürfnis entkolonisierter afrikanischer Völker nach einer neuen Theatralität zu konkretisieren, die den Bruch mit den eigenen uralten Mythen heilen kann. Interessanterweise wenden sich sehr viele afrikanische (und afro-karibische) Autoren den Griechen zu. Sie tappen dabei jedoch nicht in die Falle des Philhellenismus – konstruieren also kein Ideal einer griechischen Antike als kulturellen Born europäischer Kolonialgesellschaften, noch während diese selbst vermutlich eine kritische Dekonstruktion all dessen betreiben. Eher das Gegenteil ist der Fall. Diese Autoren vernehmen im mythisch-theatralen Universum der antiken Mittelmeervölker so etwas wie die Resonanz einer Chiffre, mit der sie vielleicht die eigenen, vom Kolonialismus in die Stummheit gezwungenen archaischen Strukturen erschließen können.

Wenn Die Insel von einem bloßen Ansatz zu dieser Geste erzählt, so deshalb, weil die Gefahr des Scheiterns stets gegenwärtig ist und an jeder Abbiegung lauert. Vergeblichkeit ist eine Herrschaftsform. Die Welt des Stückes wird in der Eröffnungsszene von zwei Häftlingen etabliert, die mit „rückenmordender und grotesk sinnloser Arbeit gefoltert werden. Jeder muss abwechselnd eine Schubkarre beladen und unter großer Anstrengung dorthin schieben, wo der andere gräbt, um sie ebendort zu leeren. Als Folge werden die Sandhaufen nie kleiner. Ihre Arbeit nimmt kein Ende.“

[Das ist eine bekannte Foltertechnik. Im Konzentrationslager auf der Insel Makronisos, wo während des griechischen Bürgerkriegs und in den Jahren danach linke Oppositionelle und Widerstandskämpfer interniert wurden, mussten Gefangene in einem Ritual vollkommen vergeblich schwere Felsbrocken von einer Stelle auf der Insel zur anderen und wieder zurück schleppen. Als Folge kann man heute von keinem Stein auf dieser trockenen, von Steinen beherrschten Wüsteninsel mehr sagen, dass er noch am Ort seines natürlichen Ursprungs liegt.]

Da sie einen Weg finden müssen, in diesem Höllenloch der fortwährenden Erniedrigung wider das System zu leben, kommt diesen südafrikanischen Häftlingen die Idee, für das Häftlingspublikum die Antigone zu spielen (oder wenigstens so zu tun). Primärer Antrieb ist der Wunsch nach Unterhaltung: das alles überragende Bedürfnis nach Spiel (im Wortsinn) unter derart brutalen Verhältnissen. Die Politik eines Stückes ergibt sich aus der Realität, es zu spielen, nicht aus seinem klassischen Inhalt. Darin liegt die Brillanz von Fugards Stück, denn es handelt von nichts als den Mühen des Probens und von gegenwärtigen Verhältnissen, die eine Aufführung des Archaischen erfordern. Darin unterscheidet sich Die Insel von allen anderen afrikanischen Fassungen griechischer Tragödien.

Petros Gourgouris, A Tragedy (2011), Digitalfotografie, Inkjet Print, 61 x 110 cm

Diese Politik des Spiels ist im Wesentlichen eine Politik des Maskierens der angenommenen Realität einer angenommenen Identität. Winston wehrt sich anfangs dagegen, die Antigone zu spielen. Er fürchtet, von den Mitgefangenen verspottet zu werden, weil er eine Frau darstellt. John hat große Mühe, ihn davon zu überzeugen, dass sich das Theater immer über die schnöde Wirklichkeit hinwegsetzt und seine Zellengenossen im Publikum das sehr wohl wissen, selbst wenn sie anfangs über die Maskerade lachen. „Ausgelachtwerden soll Theater sein?“, erwidert Winston und erkennt (wenngleich unabsichtlich), dass zum Theater auch die Gefahr gehört, verhöhnt oder für einen Narren gehalten zu werden. Eine Maske zu tragen, ist im eigentlichen Sinn dieses Wortes eine Travestie. Es geht dabei um eine Verkleidung, um das Umkehren der eigenen Identität (auch der geschlechtlichen). Denn was sonst wäre das Innen und Außen unserer Identität, wenn nicht die splitternackten Begriffe, in die wir sie kleiden und hinter denen nichts bleibt als ungeordneter, gefügiger, formloser Stoff?

Nachdem sich das Stück zwischen den vielen konfliktträchtigen Aspekten der Inszenierung eines Stücks aufgerieben hat, schließt Die Insel mit einer verdichteten Darbietung der Antigone–Kreon-Dialektik. Darin wird nicht die gewohnte Idealisierung der ungehorsamen Heldin vermittelt, sondern eher die Tatsache, dass sich die Gegenspieler im selben Streitraum – dem demokratischen Raum par excellence – befinden. Darin besteht die radikale Intervention dieser Tragödie: Sie konfrontiert die Polis mit sich selbst und mit der Erkenntnis, dass erst der gemeinsame Raum ihren inneren Spaltungen (zwischen Herrschern und Beherrschten, Mann und Frau, Gesetzbuch und Brauch, Autorität und Aufbegehren) Wert verleiht und alles andere Geschehen möglich macht. Das ist eine Lehre, und auch die Umsetzung in der Aufführung ist vor allem didaktisch. Jenseits des Vergnügens am Spiel, ein anderer zu sein, mit einer Maske unter denjenigen hervorzuragen, die ihres Selbsts beraubt sind – denen eine (Rassen-, Aufstands-, Verdammtheits-) Maske aufgezwungen wurde – heißt das auch: diese anderen von der Bürde der Authentizität befreien, ihnen ermöglichen, ihr eigenes kollektives Anderssein im Sinne einer neuen Subjektfindung anzunehmen. Darin wirkt die Maske wie die Stille. Sie eröffnet einen Zwischen-Raum.

 

Stillemasken

Der Legende nach mussten junge Schüler von Pythagoras fünf Jahre lang schweigend den Worten des Philosophen zuhören, der sich hinter einem Vorhang befand (später ging dies als Vorhang des Pythagoras in die Geschichte ein). Die Worte sollten unbeeinträchtigt vom Bild der sprechenden Person erklingen und ihre Bedeutungen entfalten können. Hier verbinden sich Maske (Vorhang) und Stille, um gemeinsam Bedingungen höchster lauschender Aufmerksamkeit herzustellen. Eine bestimmte Art des verkörperten Verstehens erfordert die Ent-Identifizierung oder vielleicht sogar Ent-Personalisierung (ohne die pathologische Bedeutung, die dieser Begriff in einem psychiatrischen Zusammenhang angenommen hat) des Sprechers wie des Zuhörers. Denn die bildliche Vor- oder Darstellung der Autorität besetzt das Terrain der Rede und entkörperlicht diese interessanterweise dadurch, dass sie ihr ein Gesicht, eine persona aufsetzt. Das ist tatsächlich merkwürdig. Das Gesicht, die persona, ist bereits ein Bild und vom Netzwerk der Sinne, die Bedeutung als verkörperte Erfahrung behalten, leiblich getrennt. Hierin liegt auch einer der vielen Gründe, warum Masken zu allen Arten des archaischen Theaters gehörten. Einerseits schon visuelles Medium, unterliefen sie andererseits noch den vorrangigen Bezug des Visuellen zur Identität.

Noch mehr als Sprechen ist das Zuhören unerlässlich für ein im konkreten politischen Sinn autonomes Verstehen. Denn tatsächlich ist die Demokratie eher eine Verfassung des Zuhörens als ein Geltungsbereich der freien Rede. Von Beginn an privilegierte die Gesellschaftsvorstellung des demokratischen politischen Gemeinwesens Redemetaphern wie das Hinterfragen der geschriebenen Gesetze oder den freien und furchtlosen Meinungsaustausch auf dem Marktplatz (parrhēsia), wenngleich die Menschen häufiger der singulären, meisterlich führenden Rede (der Demagogie) in die Falle gingen. Und doch hätte der Athener dēmos nicht funktioniert, wenn er nicht als Raum des Zuhörens konfiguriert worden wäre. Das war auch sehr viel später noch erkennbar, nämlich als der Apostel Paulus auf seiner Pilgerreise Athen besuchte. Aus den Apostelakten wissen wir, dass die Athener seine Verkündung des Evangeliums mit größter Aufmerksamkeit anhörten, obwohl sie seinem Glauben an die Wiederauferstehung nichts abgewinnen konnten (er erschien ihnen absurd).

Wie der Bericht von Paulus ist auch die Geschichte von Pythagoras und dem Vorhang Legende. Sie ist ein mythisches Gebilde, dessen historische Echtheit keine Bedeutung hat, weil der Mythos selbst eine unbezweifelbare, überzeitliche Realität begründet. Ohnehin ist die Geschichte der Pythagoräer reich an Sagenelementen, und das ist kein Zufall. Ihr mystisches Verhältnis zum Wissen setzt diese mythische Struktur voraus und begünstigt sie. So gesehen ist der Vorhang ebenso sehr Metapher für den weitestgehend medienvermittelten Erwerb des Wissens. Wissen ist indirekt und partizipatorisch. Niemand ist bloße Empfangsstation oder ein Behälter, der gefüllt werden muss. Die Maskierung ist eine besondere Sprache für diese Indirektheit, eine Artikulation, die vorübergehend die Notwendigkeit aussetzt, ein Gesicht einem Namen zuzuordnen. Ebenso ist die Stille eine Maske. Denn sie ermöglicht eine tiefergehende akusmatische Verständigung, mithin jene Art des Zuhörens, die unser bloßes Reagieren auf Reize der Außenwelt durchkreuzt. Trotz der Übermacht der Informationsmodelle im zeitgenössischen Denken ist das Tier Mensch keine Maschine. Es lernt, indem es die Erkenntnissituation selbst herbeiführt, nicht bloß durch gehorsames Reagieren in ihr. Eigentlich ist ja „das Erstaunliche am Menschen nicht, dass er lernt, sondern dass er nicht lernt.“ (Castoriadis)

Unzählige zeitgenössische Komponisten haben sich diese Poetik der Stille zunutze gemacht – allen voran John Cage. Doch ich würde behaupten, dass das Gesagte auch für die verschiedentlich so genannte „Ästhetik des Lärms“ gilt, obwohl Lärm eigentlich das genaue Gegenteil von Stille ist. Indem ein übersteuerter, gesättigter Klang die Zwischenräume der überkommenen Harmonie zusammenfallen lässt, erzeugt er Bedingungen des Zuhörens, die der akusmatischen Stilleerfahrung ähneln. Wann immer es der legendäre Sun Ra mitten in den entlegensten Outside-Improvisationen seines Arkestras für nötig hielt, eine Unterbrechung oder einen Richtungswechsel vorzunehmen, gab er das Zeichen für einen „Raumakkord“ – einen gemeinsam improvisierten Toncluster, den die gesamte Band in ohrenbetäubender Lautstärke spielte. Dieser gesättigte Cluster sollte einen sofortigen Stimmungswechsel herbeiführen und die tiefsten Tiefen des Zuhörens mobilisieren, wo Zuhören nicht mehr das gewöhnlich darunter verstandene allmähliche Verarbeiten von Klängen meint, sondern dessen genaues Gegenteil: einen Riesenkrach über das größtmögliche Spektrum der Klänge, der in kürzester Zeit jede anhängliche Gewöhnung an das Vorangegangene außer Kraft setzt und eine plötzliche Neuausrichtung hin zu etwas anderem auslöst. Der Raumakkord war ein Mark und Bein durchdringender Aufruf zur Aufmerksamkeit, und er galt sowohl den Musikern als auch dem Publikum. Denn die Musiker wussten keineswegs von vornherein Bescheid. Alle im Raum sollten die akusmatische Erfahrung machen. In diesem Fall musste sich der Meister (Sun Ra) auch nicht erst hinter einem Vorhang verbergen, denn seine gleißend sichtbare Gegenwart war bereits das Ergebnis einer mythischen Maskierung, die deren sämtliche Aspekte bis hin zu seinem Namen und seiner Herkunft abdeckte.

Petros Gourgouris, Dislocated (2014), Schwarz-Weiß-Fotografie, 27,9 x 35,6 cm

Sun Ra mochte 1914 in Alabama als Hermann Poole Blount geboren sein, doch er kam vom Planeten Saturn. Wenn ihn die Leute über Einzelheiten seiner Geburt und seines Namens ausfragten, antwortete er gewöhnlich, all das sei „His-story“ (sinngemäß „seine Geschichte“), Sun Ras eigentliche aber „My-stery“ („mein Mysterium“). Seine außergewöhnlich verlaufene Reise mit Halt auf dem Planeten Erde bestätigt diese mythische Statur. Berühmt wurde seine Behauptung, er sei zur Erde entsandt worden, um mit deren misstönenden Zuständen aufzuräumen. Er widmete sich dieser Aufgabe mit unheimlicher Hingabe und Disziplin, indem er eine engagierte Musikerschar vom Chicago der 1950er Jahre ins New York der 1960er und weiter nach Philadelphia führte, wo er starb. Mit seinem Arkestra führte er ein Kommunenleben, und geprobt wurde so gut wie rund um die Uhr, außer während öffentlicher Auftritte. Das waren nur dem Namen nach Proben – oder vielleicht waren es doch Proben für ein künftiges Leben auf einem vollkommen neu orchestrierten Planeten. Jedenfalls wurden sie kontinuierlich aufgenommen und von einem unabhängigen Produktionsnetz namens Saturn Research aufgelegt, das dem Getriebe des kapitalistischen Marktes eine Absage erteilte, Jahrzehnte bevor den meisten Musikern klar wurde, wie wichtig die Verfügung über eigene Produktionsmittel und Vertriebswege ist. Auf diese Weise entstanden hunderte Platten mit handbemalten Hüllen und häufig absichtlich irreführenden Hinweisen auf ihre Herkunft und den Ort ihrer Entstehung. Sie wurden bei verschiedenen öffentlichen Auftritten von Hand verteilt. Auch die Platten fügten sich vollständig in den mythenbildenden Rahmen von Sun Ra und seinem Arkestra (auch bekannt als Myth Science Arkestra, Intergalactic Research Arkestra, Solar-Myth Arkestra, Astro-Infinity Arkestra, Omniverse Cosmo Jet-Set Arkestra usw.) als den Wegbereitern des später so genannten Afrofuturismus.

Ungeachtet Sun Ras zentraler Bedeutung in der Geschichte des Jazz, auch trotz seiner außergewöhnlichen Reinszenierung der gesamten Geschichte afroamerikanischer und noch anderer Musik, ist es schwierig, die Musik von Sun Ra einzuordnen. Denn um ihr gerecht zu werden, muss diese Kategorie nicht nur die Musik als solche, sondern auch die ganze Welt des Arkestra und seine bekundete Weltsicht, die Mythenbildung, das Theatrale, die Kosmologie und die Manipulation der Klangerzeugung durch selbst gebastelte Instrumente und elektroakustische Experimente – alles vor der Zeit, in der das allgemein üblich wurde – mit umfassen. Das Arkestra war in gewissem Sinn genau jene Praxis oder Kunst des Lebens, wie sie auch archaische Gesellschaften verstanden hätten. Sun Ra befahl seinen Musikern oft, nicht das zu spielen, was sie schon konnten, sondern das, was sie nicht konnten – und brachte damit sämtliche Prinzipien des Lernens zum Einsturz. 1966 nahm er zwei Platten auf, auf denen die Bläser des Arkestra Saiteninstrumente spielen. Das geschah in der Absicht, ihre allerdings bemerkenswert ausgefeilten technischen Fertigkeiten unter seiner erbarmungslosen Vormundschaft auszuschalten und so zu neuen, von allem Bekannten abweichenden Hörerlebnissen zu gelangen. 1986 trafen sich Sun Ra und John Cage, die beiden Giganten der experimentellen Musik des 20. Jahrhunderts, auf der Strandpromenade von Coney Island, New York, zu einem legendären Austausch von Klang und Stille. Sun Ra improvisierte auf seinem Synthesizer, wechselnd zwischen ohrenbetäubend kratzenden oder krachenden Akkorden und vogelartigem Gepiepse und Gezwitscher. (Tatsächlich klingt das von LIGO aufgezeichnete Geräusch der beiden kollidierten schwarzen Löcher, die eine Krümmung in der Raumzeit erzeugten, sehr nach Sun Ra am Synthesizer. Ohne Zweifel handelt es sich hier um einen Fall vollkommener Weltraumgerechtigkeit.) Unterdessen trug Cage ein merkwürdiges Silbenverlauten aus seinen Gedichten Empty Words IV (1974) vor. Zur Darbietung gehörten auch lange Momente der Stille. Wie wir seit Cages berühmtem Stück 4'33'' (1948) wissen, ist Stille eine musikalische Schöpfung. Insoweit sie in der realen Zeit und im realen Raum stattfindet, ermöglicht sie es auch, dem Erklingen dieser Raumzeit zu begegnen. Der Stille zuhören heißt, durch die Stille hindurch zu hören.

 

Masken 2

In einer Reihe von Gedichten aus ihrem Band Decreation (2005), die sie „Gnostizismen“ nennt, erkundet Anne Carson die Unterseite dieses Begriffs. Sie fragt nicht – obwohl sie das als klassische Philologin durchaus könnte – nach seinem historischen Kontext des hellenistischen (oder genauer: jüdisch-alexandrinisch-griechisch-christlichen) Denkens, sondern nach der Bedeutung, die er in der Zwischenzeit angenommen hat: die einer Form von esoterischem, die Geltung der Schrift aushebelndem Wissen. Ungeachtet der umfangreichen Literatur zu der Frage, was genau die ketzerische Gnosis im Kontext des Frühchristentums war – am Ende kann sie nicht das Rätsel und noch nicht einmal die Vielfalt der geografisch weitläufigen, unter diesem Namen zusammengefassten Verhältnisse auflösen –, interessiert Carson sich mehr für ein dichterisches Zerlegen des kanonisierten Wissens, das nach ihrer Überzeugung aber ganz ebenso auf der Wissen konstituierenden Sprache als solcher gründet.

Im letzten Gedicht dieser Reihe denkt sie wie folgt:

Gnostitzismus VI

Unterwegs im Sturm am wilden Berg sah ich die großen
    Bäume ihre Arme werfen.
Sie schrien „Zugrund!“, und ihnen schien bewusst,

dass das Sublime auch „Wissenschaft der Angst“ heißt.
Was verstehen Männer und Frauen davon? zuerst –

nicht mal bemerken, dass man nackt ist!
Die Sprache wusste es.

Schau, wie im nächsten Vers das „nackte“ (arumin) Fleisch in die „verschlagene“ (arum)
    Schlange gleitet.
Und plötzlich eine Leerstelle, Stille,

dort irgendwo in der Maschine.
Pochende Adern.

Der Satz „Die Sprache wusste es“ – er befindet sich räumlich sozusagen im Nabel des Gedichts – ist der Schlüssel. Und das Schloss. Dem verkörperten Wissen des lebendigen Naturwesens (der Schrei der Bäume mit offenen Armen, Zweige knacken in der Begegnung mit dem Sturm) stellt die Dichterin das entkörperlichte Wissen gegenüber, das die Menschen infolge eines Textes mit sich herumtragen, der von ihrer Entstehung erzählt. Aus diesem Text haben die Menschentiere ein Heiligtum gemacht und ihm somit jene Wahrheit zugesprochen, die ihr Gefühl des Wissens um sich selbst entkörperlicht. Man könnte von ihm sagen, dass er selbst ein Bescheidwisser sei, dass er das Geschäft des Wissens um seiner selbst willen (pour soi) betreibe, nämlich jenes Wissens, das macht, dass du bist, dass ich bin.

Eindringlich werden wir darauf hingewiesen, dass die heilige Sprache der Schöpfung ihr Wissen aus einem Spiel mit Worten webt. Im Hebräischen stammen die Wörter für „nackt“ oder „offen“ (geheimnislos) und für „gerissen“ oder „schlau“ sein (Geheimnisse spinnen) von derselben Wurzel ab. Wenn Gott in der Schöpfungsgeschichte spricht/handelt, reißt er Witze. Er macht sich lustig über uns – jedenfalls wenn man davon ausgeht, dass uns die Schöpfung tatsächlich erschaffen hat.

Oder sie ist eben nur ein Spiel mit Versen. Ein Gedicht bezeichnet einen Raum, in dem die Sprache spielt, ein Verwirrspiel treibt, sodass man in einem Augenblick, Wort für Wort, aus einer Situation (in der alles offen ist und Nacktheit nichts bedeutet) in eine andere gleiten kann (wo Nacktheit eine List und ein Mittel ist, um Dinge geschehen zu lassen, ein Instrument).

Was stimmt?

„Ist Gott ein Dichter?“, wurde ich einmal gefragt, als ich einen öffentlichen, nicht wissenschaftlichen Vortrag über das Verhältnis zwischen der Religion und der Begabung des Menschen zum Formenschaffen hielt. Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte, und gab unwillkürlich, ohne viel Nachdenken eine Antwort, von der ich glaube, dass sie zutrifft: „Gott ist ein Gedicht.“

Das Tier Mensch erzeugt in allererster Linie Gedichte. Vielleicht, weil „eine Leerstelle, eine Stille dort irgendwo in der Maschine“ ist – ob wir nun Carsons „Maschine“ als das komplexe kulturelle Gebilde verstehen, das den tiefen, verzweifelten, erhabenen, Gewalt auslösenden Glauben gebiert, oder ob wir diese „Maschine“ für das tiefe Innere des Seins selbst halten, also für die lebende Substanz, die immer ist, aber irgendwie und außerdem noch zu dem Wissen davon gelangt, was ist.

Die erste Maschine verschiebt das Wissen anderswohin: Der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse vervollständigt die Schöpfungsgeschichte dadurch, dass er dem Fleisch textliche Bedeutung verleiht. Aber Bäume haben keine Texte, auch wenn sie ihr Fleisch hingeben, damit Texte geschrieben werden können. Die zweite Maschine akzeptiert, dass die Leerstelle, diese Stille, im Inneren ruht, und sei es mit „pochenden Adern“. Darin besteht das esoterische Wissen (gnōsis), das in den Händen der Dichterin Carson rück-schöpft.

 

Undatierte Fotografie von Sun Ra (1970er Jahre)

Stille 2

Zu den größten Werken des deutschen Komponisten, Musikers, Regisseurs und Klangkünstlers Heiner Goebbels gehört ohne Zweifel Stifters Dinge (2007). Es ist schwierig, diesen „Blick auf das zeitgenössische Schaffen“ einfach nur als Komposition oder Installation zu beschreiben. Stifters Dinge ist in der Hauptsache eine riesenhafte Konstruktion aus gekippten, um Drahtgewirr, Baumskulpturen, ausgewählten Schrott, Videoprojektionen und motorisierte oder computergesteuerte Klangerzeugungsapparate ergänzten Klavieren. Das alles ist auf Schienen montiert, die es über einem nebeligen, Blasen werfenden, gelegentlich sturzberegneten Wasserbecken hin- und herschaukeln. In musikalischer Hinsicht könnte man das Werk vielleicht ein Stück für fünf Klaviere ohne Pianisten oder eine motorisierte Klavierplastik auf einer Theaterbühne ohne Schauspieler nennen. Es wurde auch treffend als „No-Man-Show“ beschrieben, womit gemeint ist, dass sich diese Zusammenstellung von Klang- und Bildmaterial als ein Ding ganz für sich und ohne einen Körper abspielt.

Goebbels konstruierte eine bewegliche Assemblage von Bildern und Klängen, die sich autonom manifestieren. Es handelt sich um den tiefschürfenden Versuch, ihre synästhetische Dingheit unbeeinträchtigt von jedem darstellenden Handeln wahrnehmbar zu machen. Selbstverständlich ist dabei alles, was als „Handeln“ – menschliches Eingreifen – bemerkt würde, im Zuge einer sonderbaren Umkehr der Verkörperung ins Innere des Dinges verlegt. Die Dreidimensionalität des Klangereignisses, wenn man das so sagen kann, ist solcherart, dass das normalerweise entkörperlichte, dem Kunstobjekt immer eingebettete menschliche Element (Hand, Auge, Stimme des Künstlers) hier der Autonomie der Komposition als solcher merkwürdig untergeordnet oder assimiliert wird. Auch die Art und Weise, in der das Wort „Autonomie“ hier ganz im Wortsinn der „Eigengesetzlichkeit“ zum Tragen kommt, ist außergewöhnlich. In neueren Aufführungen ist eher eine Installations- als eine Aufführungsatmosphäre entstanden, und das Publikum beziehungsweise die Betrachter konnten tatsächlich die Innen- und Außenbereiche des multiplen skulpturalen Raums begehen.

Im geschichtlichen Hintergrund dieser sich entfaltenden, autonomen Dingheit thront die Gestalt des österreichischen Dichters Adalbert Stifter (1805–1868), dessen Naturbild sogar die gewohnt hyperbolischen Neigungen der Romantiker zur Kunstfertigkeit noch übertraf. Stifters Beschreibung des Hochwaldes im winterlichen Frost, in der die Natur als eine Schöpfung von sprachlicher Pracht erstrahlt, begegnet in einer Stimmencollage ethnografischen Aufnahmen von Gesängen der Urbevölkerung von Papua Neu-Guinea und von griechischen Inselbewohnern, die in den 1930er Jahren Flüchtlinge aus Kleinasien willkommen hießen (eine unheimliche Resonanz mit der Gegenwart), außerdem Tonschnipseln von Claude Lévi-Strauss, William S. Burroughs und Malcolm X. Jede dieser Stimmen gemahnt auf ihre Art an die grimmige Einwirkung der „menschlichen Maschine“ auf die Dingheit der Erde. Der Künstler selbst bildet da keine Ausnahme, hat er doch eine romantische Maschine für ein Zeitalter gebaut, dessen Moderne vielleicht unentrinnbar den Fährnissen des romantischen Denkens verpflichtet bleibt, während es zugleich bei der Ausrottung der radikalen Kraft romantischer Vorstellung den Vorsitz führt. Es gibt nichts mehr zu entdecken, verkündet der resignierte französische Ethnologe.

Zu einem großen Teil besteht dieses Klangereignis aus einem Register, einer Bandbreite sozialhistorischen Materials, dessen Lebenskraft zum Schweigen gebracht wurde. Ich will damit nicht sagen, dass das Werk irgendeine Art von archäologischer Bergung betreibt. Ausgrabungen, das Zurückholen von Stimmen, sind nicht sein Anliegen. Die Darstellung seines Materials ist brutal. Es bedient sich beim Lexikon Heiner Müllers, mit dem Goebbels oft zusammengearbeitet hat, und so lassen die fünf Klaviere, die jeden Bestandteil ihrer Holz- und Drahtleiber motorisierten Manipulationen hingeben, eine Landschaft in Trümmern entstehen. Das mindert nicht die Schönheit des Werks, die schiere Ehrfurcht, die es erweckt, den Frieden, den es vermittels seiner Pianissimo-Wanderungen durch die üppigen Beschreibungen des stifterschen Hochwalds verbreitet, den Zorn Burroughs’ über den kapitalistischen An- und Verkauf von Leibern und Seelen oder die gelassene Überzeugung eines Malcolm X, der uns darauf hinweist, dass Positionen und Definitionen sich verändert haben.

Als Akt der Verlangsamung von Zeit ist Stifters Dinge sicher auch ein Werk der Rück-Schöpfung. Die Klaviere sprechen wie Gravitationswellen himmlischer, lebender oder mechanischer, durch Zusammenstoß oder Reibung in Kontakt gekommener Körper. Analog zu diesen werden sie in einen Strudel des synästhetischen stofflichen Miteinanders gezogen und wieder ausgespien in den Fluktuationen dessen, was erklingt oder erstickt wird. Wenn sich nicht einmal das Universum dem Zeichen der vollkommenen Stille fügt, außer in seinen Zwischenräumen, im διάστημα des Weltraums, so müssen auch wir Menschen – als Tiere, die sich hauptsächlich von Fantasmen ernähren – erkennen, welchen riesigen, unsinnigen Aufwand wir treiben, um allenthalben Stille zu erzwingen. Wir bringen andere Stimmberechtigte zum Schweigen aus keinem anderen Grund als dem, dass wir Macht über sie ausüben; wir bringen uns selbst zum Schweigen allein, weil wir lieber feige sind. Erzwungene Stille, Landschaft in Trümmern. Diese Art Schweigen ist das genaue Gegenteil dessen, was Buddhisten auf sich nehmen, um tiefer in den Kosmos hineinzuhören. Sie ist nicht nur erzwungenes Schweigen; sie ist auch erzwungene Taubheit. Was immer unter der Brutalität dieses Zwangs weiter atmet, sei es das zarteste Spiel der ätherischen Geistmaterie mit dem Stoff, des Atems mit dem Blatt, lässt nie ab von seiner Forderung an uns, ihm zuzuhören, diesem misstönenden Strich durch den vollkommen kreisenden Weltlauf.

 

Aus dem Englischen von Herwig Engelmann

Heiner Goebbels, Stifters Dinge (2007)

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