Pathogene Subjektivität
Kommentare zum Œuvre von Frantz Fanon betrachten Die Verdammten dieser Erde (The Wretched of the Earth, 1961) zumeist als das Werk, das einen Bruch in seiner Analyse der Ära nach der Sklaverei markiert, die der martinikanische Denker neun Jahre zuvor in seinem ersten Buch, Schwarze Haut, weiße Masken (Black Skin, White Masks), entwickelt hatte. Manche behaupten, Fanons Standpunkt habe sich in dieser Zeit radikalisiert: Kurz vor der Unabhängigkeit Algeriens gab Fanon die soziologisch-psychoanalytische Perspektive auf, die er für seine Theorie der französischen Gesellschaft nach der Sklaverei herausgearbeitet hatte. Obwohl Die Verdammten dieser Erde vorzugsweise einen politischen Stil an den Tag legt, ist das Werk insgesamt darauf angelegt, ein kämpferisches kollektives Bewusstsein zu erzeugen, das mit dem algerischen Aufstand in Einklang steht. Dagegen wird in Schwarze Haut, weiße Masken eine Epistemologie der schmerzerfüllten Subjektivität dargelegt, die „zwischen dem Nichts und der Unendlichkeit“2 situiert und mit Gewalt aufgeladen ist. Ist es angemessen zu denken, dass Fanon zwischen diesen beiden Werken von einer Analyse der Gewalt, die toleriert und erduldet wird, zu einer Analyse der Gewalt überging, die „ausagiert“ und verübt wurde? Und in welchem Maße ist es möglich, diesen Weg als eine Transformation des Subjekts in und durch Gewalt zu interpretieren, mit der Bereitschaft, aus der Gewalt ein Mittel für Verfahren der Subjektivierung zu machen?
In Schwarze Haut, weiße Masken (1952), Fanons Untersuchung zu den Auswirkungen des Kolonialismus und Rassismus auf schwarze Identität, stehen die besagten Masken für die erlebten Erfahrungen von Gewalt – eine Gewalt, die offenbar ständig gegen sich selbst gerichtet wird. Die erste Maske verweist auf die Dialektik der Anerkennung, die zweite auf die Bejahung des Selbst. Fanon meidet die Tücken der Hegel’schen Anerkennung und fragt sich ironisch nach Beispielen für Anerkennung (Anerkannt? Aber von wem?), entgegen dem fatalen Aufruf der „Négritude“-Bewegung, zu der Fanon auf Distanz bleibt. Er zieht es vor, eine Herausforderung darzustellen: die des wiederhergestellten Subjekts, das nicht nur handlungsfähig, sondern darüber hinaus in der Lage ist, zu handeln und Schaden zuzufügen. An diesem Punkt greift die zweite Maske ein: nicht mehr, um Weiß-Sein zu „spielen“, sondern um ein „dreckiger Neger“ („sale nègre“) zu „sein“. Den weißen Mann aufzuführen, ist eine unglückliche Erfahrung, die alle dialektischen Überwindungen meiner Lage ungültig machen. Wenn jede Anerkennung vergebens ist, muss man sich selbst aufzwingen und „sich anerkennen lassen“ („se faire connaître“).3 Fanon verwendet den gleichen Bezugsrahmen mit den Wendungen und Umwegen, die ein Bewusstsein des Selbst und ein unmittelbares Hereinbrechen des „Ich bin“ („Je suis“) aufzwingen:
Die Dialektik, welche die Notwendigkeit an den Stützpunkt meiner Freiheit stellt, vertreibt mich aus mir selbst. Sie unterbricht meine unüberlegte Stellung. Wiederum in Termini des Bewusstseins ausgedrückt: das schwarze Bewusstsein ist sich selbst immanent. Ich bin keine Potenzialität von irgendetwas, ich bin voll und ganz das, was ich bin. Ich brauche das Universelle nicht zu suchen. Keine Wahrscheinlichkeit setzt sich in mir fest. Mein Negerbewusstsein gibt sich nicht als Mangel. Es ist. Es haftet an sich selbst.4
In Die Verdammten dieser Erde, gab Fanon diesem notwendigen antidialektischen Prozess einen Namen: Gewalt. Seine einzige Zuflucht findet das verletzte Subjekt in und durch Gewalt. Um zu erreichen, dass „man nicht mehr auf es einwirkt“, um aktiv zu werden, muss es sich von seinem Sein losreißen und aus diesem tragischen Zustand herausfinden. In Die Verdammten dieser Erde ist Gewalt, strenggenommen, kein Mittel zu diesem Zweck. Fanon definierte Gewalt eher als eine „absolute Praxis“. So bemerkt er: „Die Gewalt, heißt das, wird als die ideale Vermittlung verstanden. Der kolonisierte Mensch befreit sich in der Gewalt und durch sie. Diese Praxis klärt den Handelnden auf, weil sie ihm Mittel und Zweck zeigt.“5 Diese Definition von Gewalt zeigt Anklänge an Jean-Paul Sartre,6 und es ist tatsächlich nicht ohne Bedeutung, dass sich Fanon diesen Begriff zu eigen macht. Als „Praxis“ ist Gewalt ein „Tun“, oder besser gesagt, ein „Agieren“ – ein Agieren, das sich in seinen Auswirkungen materialisiert. Während Sartre den Menschen als Praxis definiert und ihn in diesem „praktischen Feld“ situiert, ersetzt Fanon den Sartre’schen Menschen durch Gewalt. Für Fanon ist nicht Gewalt, sondern „der Mensch“ im Spiel: In der kolonialen Welt ist Gewalt allgegenwärtig, doch der Mensch – er steht nur in den europäischen Vierteln der Kolonialstadt aufrecht. In seiner Position ist der Fanon’sche Mensch, der Kolonisierte, ganz und gar der kolonialen Gewalt ausgesetzt. Fanon belässt das effektive Feld der Praxis so, wie es vom Kolonialismus aufgezwungen wird, das heißt die Gewalt selbst, da sie eine alles durchdringende Praktik ist. Und folglich kann nur Gewalt – als Praxis – zu dem werden, wodurch ich agiere. Anders gesagt, ist die Gewalt, die der indigene Körper (in einer großstädtischen Gesellschaft nach dem Ende der Sklaverei oder in der kolonialen Gesellschaft Algeriens) tagtäglich durchmacht, per definitionem verinnerlicht; zugleich ist die Gewalt im Denken Fanons das einzige Mittel, das die Exteriorisierung und das Agieren des Selbst ermöglicht – auch wenn das Selbst vor dieser Projektion gar nicht existierte. Es ist also diese Gewalt, nach der Fanon in den Tiefen der Menschen suchen wird, um sie aus sich „selbst“ herauszuholen.7 Fanon hält die Gefahren dieses Instruments, dieses Mittels, dieses Werkzeugs für gering und theoretisiert Gewalt als eine Bedingung für Handlungsmöglichkeiten – und damit als eine Bedingung der Frage nach der Beziehung von Mitteln und Zwecken an sich. Man könnte, Sartre paraphrasierend, behaupten, dass Gewalt immer eine Interiorisierung von Exteriorität und eine Exteriorisierung von Interiorität ist. Trotzdem maßt sich diese Auffassung nicht an, eine Antwort auf die moralischen und politischen Fragen der Gewalt zu liefern.
Gewalt ist für Fanon ein Agieren, das man als hereinbrechend, erfinderisch und auf grundlegende Weise sinnlich beschreiben kann. In meiner Interpretation ist Gewalt nicht bloß reaktiv; sie ist konstitutiv für eine Erfindung des Selbst, eine Praktik des Selbst und wendet sich ab von der Kolonialherrschaft, unter der das moderne Subjekt „verfault“. Fanon erprobt daher etwas, wodurch sich das Selbst gleichsam aus einer verfaulten Zeitlichkeit hinausprojiziert, und in dieser Projektionsbewegung erfindet es sich. Diese Projektion ist nur durch und in Gewalt möglich, denn in Die Verdammten dieser Erde schreibt Fanon: „Auf der individuellen Ebene wirkt die Gewalt entgiftend.“8 Damit ist nicht gesagt, dass das Subjekt schon vor der Gewalt existierte und dass Letztere auftritt, um dem Subjekt seine Rechte zurückzugeben; das Subjekt, das Fanon herbeiwünscht, hat noch nie existiert. Fanon interessiert sich für die Zerstörung der pathogenen Subjektivität, die Männer und Frauen in einem abjekten Selbstsein verharren lässt. In diesem Sinne ist die koloniale Abjektion Gift für die Psyche, und Gewalt ist das, was Subjektivierung erzeugt. Wenn das Subjekt vor der Gewalt nicht existierte, dann wird es zum Subjekt durch Gewalt.
Ekstatische Subjektivierung
Die Beziehung zwischen Schwarze Haut, weiße Masken und Die Verdammten dieser Erde ist folglich eine Frage der Tragweite. 1951 bleibt Fanon freiwillig in der Beziehung Analysand-Analytiker („dans les rets de la relation analysant-analyste“) gefangen, und in gewisser Weise distanziert sich der Denker nie von seinem Urteil über den Menschen der Antillen – dass es diesem nie gelinge, sich vollständig zu befreien. Trotzdem ist die Botschaft von Schwarze Haut, weiße Masken klar: In diesem Text wird Gewalt als der einzige Weg zum Selbstbewusstsein thematisiert, auch wenn Fanon selbst diesen Weg noch nicht erforschen und beschreiten konnte. In seinem ersten Buch wird die Gewalt als eine entworfen, die Hand in Hand mit dem Selbst kämpft. Und Die Verdammten dieser Erde wird diesen Befreiungsprozess letztlich in und durch Gewalt definieren. Meine eigene Hypothese lautet, dass diese Gewalt zuallererst in Selbstverletzung (self-violence) besteht, darin, Gewalt gegen sich selbst auszuüben. Die Selbstverletzung beschwört jene doppelte Bewegung herauf, die darin besteht, aus sich herauszugehen und zugleich an den eigenen Körper gebunden zu sein, der durch die weiße, koloniale Mystifizierung seiner Realität beraubt worden war.9 Und in diesem Prozess der Befreiung durch Gewalt beabsichtigt Fanon, die Logik des Kolonialismus umzukehren, die einen an das eigene Selbst bindet und deshalb „außen“, außerhalb des eigenen Körpers hält (der tatsächlich vollständig der des anderen ist). Fanons Perspektive ist also die der Selbstverletzung, das heißt: außerhalb des Selbst, aber im eigenen Körper zu sein. Und es ist diese Umkehrung, diese „orgastische“ Konzeption der Subjektivierung, die der gesamte Text von Die Verdammten dieser Erde zum Ausdruck bringt und erprobt.
In Die Verdammten dieser Erde betrachtet Fanon ausführlich die Besonderheit der Situation in Algerien. Tatsächlich unterscheidet sich der dortige soziohistorische Kontext ebenso sehr von der Ökonomie der Plantagen wie die Narben, die er hinterlässt. Im algerischen Kontext wird Fanon den militanten Intellektuellen verkörpern, dessen Vorrechte er respektiert. Er beschreibt die Gewalt – das, was er als die für Kolonialherrschaft charakteristische, „in der Luft liegende Gewalt“10 bezeichnet – gleichsam chirurgisch und schafft die Bedingungen für seine Konversion, das heißt für seine Hinwendung zu den realen Bedingungen der Möglichkeit dessen, was er „aktive Gewalt“11 nennt. Die Atmosphäre kolonialer Gewalt ist immer dadurch gekennzeichnet, dass die koloniale Welt eine „in Abteile getrennte Welt“12 ist (eine zweigeteilte, antagonistische, konfrontative Welt); doch sie ist erfüllt von den gleichen Mystifikationen, die in Schwarze Haut, weiße Masken beschrieben werden. Und diese Mystifikationen lassen sich deutlich ablesen an den klinischen Beschreibungen der kolonialen, durch den Rassismus ausgelösten Psychopathologien, in den „Fällen“ des Martinikaners, des Madegassen, des Algeriers, die Fanons Denken strukturieren. Diese Charaktere verkörpern in situ die Kontinuität seines Denkens. In der kolonialen Welt werden kolonisierte Körper überall verletzt; es ist unmöglich, sich physisch und psychisch gegen imperiale Gewalt zu verteidigen. Das kolonisierte Subjekt schützt sich aus einer Position außerhalb seines Körpers, der unbegreiflich und unbewohnbar ist. Und deswegen fantasiert er über seinen eigenen Körper: Er träumt, dass er sich bewegt, rennt, springt, schwimmt und all seine Muskeln gebraucht.13 Seine ganze Existenz wird in dieser Beziehung zu einem fantasierten Selbst deformiert. Das kolonisierte Subjekt, überwältigt von der „Qual eines Alptraums“ („tourmente onirique“),14 den das Kolonialsystem eingeführt hat, bleibt reglos, in der Anspannung einer Muskelkraft, die stets in einer abwartenden Haltung bleibt. Diese übersteigerte Neigung zum Fantasieren ist die Feuerprobe einer pathogenen Subjektivität. Aus meinem Körper vertrieben zu sein – der nicht mehr als ein Objekt ist: dazu bin ich verdammt.
Das kolonisierte Subjekt ist entfremdet und nichts als der gepeinigte Zeuge der Entmaterialisierung und Derealisation seines eigenen Körpers. Daraus ergibt sich eine von Fanons Definitionen der Befreiung, die eine Form von revoltierender oder gar entfesselter Sinnlichkeit durchlaufen wird und daher unweigerlich gewaltsam ist. Die Gewalt interveniert zuallererst als eine notwendige médiation. Was heißt das? Die Gewalt setzt die notwendige Vermittlung in Gang, durch die ich meinen Körper (wieder) in der Welt einsetze und durch die ich mich selbst (wieder) in meinem Körper einsetze, durch die ich mich körperlich, fleischlich (wieder) in Bewegung bringe. Der Körper wird durch die Gewalt reanimiert, und das Subjekt erlangt auf diese Weise eine tagaktive Existenz zurück. Gewalt ist also nicht anderes als die ebenso schmerzhafte wie freudige Freisetzung einer muskulären Anspannung. Für Fanon ist diese Projektion-aus-dem-Selbst vor allem eine Kraft, die sich konträr zu dem entwickelt, was ich bin, oder anders gesagt, konträr zu dem, was ich für den Kolonisator bin – und letztlich für mich selbst. Dementsprechend nimmt die Gewalt den Platz der Hegel’schen Dialektik ein; das auf diese Weise erlangte Selbstbewusstsein ist nichts anderes als eine andere Form von Reflexivität, die aus muskulärer Immanenz entsteht, und dieser Nahkampf der Hände und Körper ist revolutionär. Fanon spricht im Stil des kolonisierten Intellektuellen, wenn er schreibt:
Dieser Stil, der seinerzeit den Westen in Erstaunen gesetzt hat, ist keineswegs, wie immer angenommen wurde, ein rassisches Merkmal, sondern gibt vor allem ein Handgemenge wieder, offenbart den Zwang, unter dem dieser Mensch steht: sich wehe zu tun, wirklich rotes Blut zu bluten, sich von einem Teil seines Wesens zu befreien, das schon die Keime der Fäulnis barg. Ein schmerzhafter, rascher Kampf, bei dem unweigerlich der Muskel an die Stelle des Begriffs treten mußte.15
Der Intellektuelle ist es sich also schuldig, gründlich und uneingeschränkt mit der Befreiung zu experimentieren, deren Prinzipien er für ein Volk im Kriegszustand herausarbeitet. Der Intellektuelle ist selbst ein Kämpfer, und indem er den Kampf mit sich selbst, den er begonnen hat, überlebt, bereitet er den bewaffneten Kampf, die erhaltenen Schläge und die ertragenen Torturen vor; er stimmt die Zerstörung eines dem Untergang geweihten Regimes an. Die Gewalt in Aktion, von der Fanon spricht, ist daher eine Gewalt, die er in der Intimität seines Körpers, in seiner eigenen Annäherung bereits erprobt hat. Darum hält er sie für den einzigen Weg, ein kollektives Bewusstsein zu bilden, das offen für die Zukunft ist.16
Körperlicher Humanismus
In ihrem Kommentar zur Beziehung zwischen Sartre und Fanon fordert Judith Butler eine Umkehrung der Reihenfolge von Fanons Werken.17 In philosophischer Hinsicht, bemerkt sie, sollte man Schwarze Haut, weiße Masken nach den Verdammten dieser Erde lesen. Es ist, als stellte der Schluss von Schwarze Haut, weiße Masken die „Nachwirkungen“ oder die einzige Möglichkeit einer befriedeten Gemeinschaft und Subjektivität dar, die schließlich über jene verheerende und erlösende Gewalt hinausgehen, welche ihnen durch die Kraft des körperlichen Humanismus eine Existenz verlieh.18
Diesen körperlichen Humanismus symbolisiert der letzte Satz von Schwarze Haut, weiße Masken, in dem Fanon schreibt: „O mein Leib, sorge dafür, dass ich immer ein Mensch bin, der fragt!“19 Auch hier folge ich Butlers Analyse, in der sie ausführt, dass dieses Gebet, das Fanon an seinen eigenen Körper richtet, kein simpler Moment der Introspektion ist, sondern eine Bewegung der Offenheit gegenüber dem Anderen und der Welt. Tatsächlich klingt in Butlers Analyse der letzten Seite von Schwarze Haut, weiße Masken das Kapitel „Außer sich“ in ihrem Buch Die Macht der Geschlechternormen (Undoing Gender, 2004) an (auf das sie in Gefährdetes Leben [Precarious Life, 2004] zurückkommen sollte), wie auch das Kapitel „Gefährdetes Leben, betrauerbares Leben“ in Raster des Krieges (Frames of War, 2010). Was mich hier interessiert, ist die Art und Weise, wie Butler die Beziehung zwischen der Gewalt – sofern sie ein produktives Element ist –, dem Körper und der Subjektivität neu entwirft. In „Außer sich“ entwickelt sie eine Konzeption der „Ekstase“ oder „meines Körpers“ als soziales Phänomen, als das, wodurch ich anderen ausgeliefert bin. „Ek-statisch“ zu sein ist die Bedingung unserer Existenz. Butler definiert diese Bedingung als etwas, das als eine politische Phänomenologie fungieren könnte: Selbstverständlich brauchen wir – vor allem rechtliche – Rahmenbedingungen, um die Autonomie unserer Körper („meinen eigenen Körper“) zu schützen;20 doch das bedeutet, dass wir noch in uns selbst sind.21 Von Anfang an „ek-statisch“ zu sein, impliziert hingegen eine gewisse Verletzbarkeit, die sich von unserer physischen sozialen Existenz herleitet. In Butlers Text erinnert Gewalt an die Gewalt, der wir auf unterschiedliche Weise ausgesetzt sind. Butler hält daher in einem gewissen Maße an Fanons neuer Definition von „Praxis“ fest: Die Gewalt verschmilzt mit dem praktischen Feld. Anders formuliert, ist Gewalt das, worin und wodurch wir als Subjekt konstituiert werden und worin und weshalb wir als Subjekt geschehen müssen. Gewalt ist – jenseits aller Normen, die stets auf das Subjekt einwirken – allgegenwärtig: Sie prägt und formt das Subjekt als solches. Und für Butler – wie für Fanon – tritt diese Gewalt, die das praktische Feld und die sozialen Normen charakterisiert, die uns binden, formen und prägen, nie ein für alle Mal auf. Gewalt ist keine ursprüngliche Feuerprobe, die alle sozialen Beziehungen determiniert. Gewalt wirkt, und darum setzt sie einen wiederkehrenden Prozess in Gang, in dem und durch den sich das Subjekt (trotz allem) immer in einer Position der Selbstbefragung befindet: „Wie lebe ich die Gewalt meiner Entstehungsgeschichte? Wie lebt sie in mir fort? Wie trägt sie mich voran, gegen meinen Willen, selbst wenn ich es bin, der sie in sich trägt?“22
So verstehen wir Butlers Interpretationsvorschlag für den letzten Satz von Schwarze Haut, weiße Masken: „O mein Leib, sorge dafür, dass ich immer ein Mensch bin, der fragt!“ Dieses Fragen ist das Zeichen, das weder durch ertragene noch durch ausgeübte Gewalt jemals endgültig ausgelöscht wird; es ist vielmehr das, was ständig einen Beweis für meine Handlungsmacht verlangt. In einer ethischen Tour de Force rückt Butler die Frage der Gewaltlosigkeit – auf die wir Fanons Antwort bereits kennen – wieder ins Zentrum seines Gebets (und dies ist selbstverständlich auch der Grund, warum Butler die Chronologie von Fanons Werk umkehrt). Butler zufolge garantiert Gewaltlosigkeit unsere Integrität als „ek-statische“ Subjekte, die in eine Reihe von Antagonismen mit anderen Subjekten verwickelt sind; wir sind per definitionem verletzbar und sind es darum wert, nicht verletzt zu werden („ne pas être violentés“), ganz gleich, zu welchem Zweck sie diese Gewalt gebrauchen können. Für Butler ist dieses Aussetzen des Gewaltakts, diese Weigerung zu agieren (dieses Fuck you!) der Gründungsakt eines neuen Bezugsrahmens, eines neuen Schemas für unser Selbstverständnis und auch für eine beispiellose Politik: „In diesem Sinne ist Gewaltlosigkeit kein friedlicher Zustand, sondern ein sozialer und politischer Kampf, um den Zorn auszudrücken und ihm Wirkung zu verleihen, um auf wirksame Weise sagen zu können: ‚Fuck you!ʻ“23 Außer-sich-Sein bedeutet, die Gewalt unserer Handlungsmacht auszusetzen; es bedeutet, nicht auf die gewaltsame Interpellation unserer Handlungsmacht zu reagieren. Gleichwohl betrachtet Butler Gewaltlosigkeit weder als einen absoluten ethischen Imperativ noch als eine offenkundige politische Haltung (weil dieser Imperativ oder diese Haltung der Gewaltlosigkeit am stärksten diejenigen zu beinträchtigen scheint, die unter Gewalt leiden und von denen wir erwarten, sich ihr zu ergeben). Mit „Gewaltlosigkeit“ bezeichnet Butler gleichzeitig die Entwicklung anderer Arten des Tuns und folglich des Seins, anderer Arten zu handeln und folglich zu leben, und, was noch grundlegender ist, die Wiederherstellung von Konflikten in der Praxis, indem man diese Bezugsrahmen und Koordinaten zum eigentlichen Gegenstand sozialer Kämpfe macht.
Fanon und Butler schlagen zwei „ek-statische“ historische Ontologien des Selbst vor. Was ich für Fanon aufzuzeigen hoffte, ist die muskuläre, körperliche Projektion in einer immanenten Welt, das „Außer-sich-Sein“ („hors de soi“), das allein in der Lage ist, mich in die Geschichte hineinzustürzen und eine Zukunft zu eröffnen, in der meine Praxis, das heißt in der ich Geschichte mache. Meine Interpretation von Fanon zielt darauf ab, zu zeigen, dass Gewalt in erster Linie ein Versuch ist, etwas zu zerstören, das mich erstarren lässt, das mich aus meinem Körper und damit aus meiner historischen Existenz verstößt. Unter solchen Bedingungen gibt allein die Gewalt meinem Selbst einen Körper – Gewalt ist das, worin sich Subjektivität materialisiert. Für Butler hingegen ist „être hors de soi“ eine materielle Bedingung der Existenz, und der gesamte enjeu, der gesamte Einsatz ihres Vorschlags besteht darin zu zeigen, dass dies eine unauflöslich und gemeinschaftlich geteilte Bedingung ist. Das, was sie dann als Verletzbarkeit bezeichnet, beruht auf einer verkörperten, fortwährenden Subjektivierung, die ständig durch (meine, deine, unsere, ihre) Gewalt in Bewegung versetzt wird, weil sie immer wieder von einem „Wir“ infrage gestellt wird. Für Fanon ist Außer-sich-Sein ein conatus, ein élan; für Butler ist es eine Bedingung, eine Situation. Letztlich werfen diese beiden Gedankengänge, die sich beide mit der Welt auseinandersetzen, mit politscher Dringlichkeit die Frage auf, der es sich mutig zu stellen gilt: Wie sollte ich durch Gewalt für mich Sorge tragen? Oder, umgekehrt: Wie trage ich Sorge für meine Gewalt?
Aus dem Englischen von Barbara Hess