Bibliocaust
Ich heiße BODY WRITING. Unidentifiziertes wortreiches Objekt. ISBN: 978-1-14210-562-7. 197 Seiten, einschließlich Streichungen. 15 x 21 cm. Standard-Offset-Papier. Umschlag: eine Fotografie von Mark Velasquez, die eine nackte Frau zeigt, mit englischen Aufschriften auf dem Rücken.
Preis: 600 Dinar.
Ich heiße BODY WRITING, und auf meiner Stirn die schicksalhafte Bemerkung:
Ich bin gestern im fensterlosen Magazin gelandet, zusammen mit einem neuen Schwung von Werken, die alle, wie ich, den Stempel tragen: ZUM EINSTAMPFEN. Noch so ein Haufen Bücher, die keiner will, aus den verschiedensten Gründen: zu alt, zu überflüssig, zerrissene, langweilige, digitalisierte Bücher, Plagiate, Mutanten-Bücher, Bücher über abgehalfterte Starletts, Bücher, die den Kriterien der Bereicherung von Sammlungen nicht entsprechen …
Von kultureller Verpackung bin ich hier zu Papierabfall degradiert worden.
Zu viele Abschweifungen.
Muss verschlankt werden.
Der Lektor hat mich zerstückelt, und jetzt landet der Rest meines Gekritzels auf dem Müll.
Muss verschlankt werden.
Das ist die Parole.
Natürliche Selektion.
Kultureller Dschungel.
Platzkampf.
Gnadenloser Kampf um einen Platz in der Hierarchie.
Selektives Sortieren nennen sie das.
Sehr selektiv. Die Hierarchie.
Schonungslos ausgeschissen von den großen Handelsketten.
Finde deinen verdammten Leser oder du wirst entsorgt.
Altpapier.
Nachdem du flüchtig die Höhen der hellen Regale erklommen hattest.
Dort, wo selbst der Staub sich entschuldigt und die Luft dünn wird.
Dort oben in den höheren Klassen der Großen Bibliothek (entworfen von Pouillon).
Aus dem Katalog entfernt.
Aus dem Thesaurus gelöscht.
Deklassiert.
Entmagnetisiert.
Entthront.
Aus den Druck…pressen entfernt.
De…pressiv.
Meine zwei Jahre des legalen Aufenthalts sind vorbei, danach wird man automatisch von der Ausleihe ausgeschlossen wie alle Bücher, die nicht mindestens zehn Leser gefunden haben.
Es ist ein bisschen meine Schuld.
Ich habe nichts getan, um den enkulturierten Kunden neugierig zu machen.
Alles in allem wurde ich nur einmal ausgeliehen.
Ich habe nur einen Leser kennengelernt.
Eine Leserin, um genau zu sein.
Eine Leserin.
Éléonore Michon.
Studentin der darstellenden Künste.
Keine Verbindung zu Pierre Michon.
ALE (Allzu laute Einsamkeit, Bohumil Hrabal, Signatur 891.86 HRA. Ausgemustert bei der Inventur) tröstet mich so gut er kann: „Mach nicht so ein Gesicht, mein Kleiner! Du wirst weiterleben in den Gedanken dieses Mädchens.“
Ich will dir gerne glauben, mein Freund.
Éléonore wird mein Grab und meine Erlösung sein.
Ich werde mir einen Platz in ihrem iPad suchen und mein Icon ihrer digitalen Netzhaut einprägen.
TRAITÉ DU DÉSESPOIR (Søren Kierkegaard. Aus dem Dänischen übersetzt von Knud Ferlov und Jean-Jacques Gateau. 198.092 KIE. Ausgemustert bei der Inventur), der sehr asketische TraiDez, versucht es mit Humor: „Du wirst zum Vollständigen Text zurückkehren.
Das Buch der Schöpfung.
Und du wirst unsterblich werden im Katalog Gottes.“
Ja, genau.
Ich werde mich im extrem salzigen Schlamm des Toten Meeres auflösen und mit dem Totalen Text eins werden. Aber Éléonore versteht kein Aramäisch. Und Chaldäa ist so weit weg.
Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie (Gilles Deleuze, Félix Guattari. 194.092 DEL. Ausgemustert bei der Inventur) nimmt uns brutal jede Hoffnung: „Nur noch ein paar Stunden, Freunde, und die Papierpresse, eine deprimierende Maschine, wenn es denn so etwas gibt, wird sich durch unseren Anus entleeren und uns entsorgen, uns zer-fet-zen ohne mit der Wimper zu zucken! Wir werden dem Verlagskapitalismus in den Rachen geworfen werden, und die Maschine der Buchindustrie wird an unserem vergilbten Papier, unseren zerknitterten Episteln und unseren schönen Theorien über das Verlangen ihre wahre Freude haben!“
Ich lasse mich seelenruhig in den Müllcontainer werfen. Mülltonnen in verschiedenen Farben strecken uns ihre Arme entgegen. Saubere Mülltonnen. Blitzbank. Kultivierte Mülltonnen mit lustigen Etiketten, die auf der Dewey-Dezimalklassifikation beruhen sollen, die wir gewohnt sind.
Ich heiße BODY WRITING, und ich lasse mich brav in die rote Mülltonne werfen, die das Etikett „Romane“. Code: 890 (Weltliteratur) trägt.
*
HUDLIB – Historia universal de la destrucción de los libros (Fernando Báez) – ist gewiss der Bestinformierte von uns (wie übrigens sein Name schon vermuten lässt), was die Qualen der Bücher betrifft. HUDLIB ist unschlagbar in Bezug auf Bücherverbrennungen, Bücher auf der Anklagebank, Zerstörung durch Zensur, schon im Keim erstickte Bücher, gar nicht erst erschienene Bücher, eingestampfte Bücher, an den Pranger gestellte Bücher. Und die Launen des Büchermarkts, der Buchindustrie, des Verlagskapitalismus und ihren Anteil an auf dem Altar der kommerziellen Logik geopferten Büchern.
Und natürlich ist HUDLIB eine Art vermeintlicher Anführer der Gemeinschaft geworden. Die Kollegen drängen sich an ihn, sobald das Rascheln einer Maus, die sich in den Mäandern des Magazins verirrt hat, ihnen Angst macht, ein Geräusch uns in den Schlund des Reißwolfs schleudert.
Sobald ein Bücherregal verschwindet.
HUDLIB, der beruhigen will, sagt, wir sollten uns glücklich schätzen, eine zweite Chance zu bekommen, eine Anspielung auf das Seminar, in dem wir als Material (als Versuchskaninchen vor allem) für alle möglichen literarischen und bildhauerischen Experimente unter der Leitung dieses oulipotischen, borgesianischen und schrulligen Künstlers dienen, der mit großem Pomp angekündigt wurde und der sein Amt vor einer Woche angetreten hat.
Ja, aber alle wissen, dass das nur ein Aufschub ist. Das ist nur eine Galgenfrist, bemerkt DIE PEST (Camus) pessimistisch.
Oh, angesichts all dieser Dummköpfe, die ein furchtbares Durcheinander im Bücherregal anrichten, stehen die Aussichten immerhin gar nicht so schlecht, unter dem Arm eines barmherzigen Lesers oder eines engelhaften angehenden Schriftstellers hier herauszukommen, beruhigt Internet Explorer for Dummies (Doug Lowe).
Das Lustigste an der ganzen Sache ist, und das schlägt dem Fass den Boden aus, dass sich Herr HUDLIB, ein in der minutiösen Beschreibung der Qualen, die unserer Art zugefügt wurden, ermüdender Wälzer, im selben Boot wie wir alle befindet, wirft DAS THEATER UND SEIN DOUBLE (Artaud) leicht spöttisch ein. Ha ha ha ha ha! Was für eine Welt!
Woraus folgt, dass niemand, mein armer Teufel, vor einer Schicksalswende sicher ist, bemerkt DER VERFEMTE TEIL (Bataille).
Die Größten sind unter uns. Das genügt, um mich zu trösten, erklärt HUDLIB kurz und bündig.
Ich denke an meine bevorstehende Zerstörung und versuche es, wenn schon nicht mit Humor wie DAS THEATER UND SEIN DOUBLE, so doch wenigstens philosophisch und gelassen zu nehmen, ich, der ich in einem Gestrüpp aus verworrenen Gedanken, stumpfsinnigem Unsinn, diffusem Schwachsinn und abscheulicher Schmähschriften geboren wurde, die in der Höhle eines obskuren Schriftstellers vor sich hin brüten, mit ruiniertem Leben unaufhaltsam auf den Schriftenabgrund zutreibend, der sich mitten in meiner Erzählung erhebt und meine Strophen in Stücke reißt.
Jetzt kehre ich zum chaotischen vorsprachlichen, vortextlichen Magma zurück. Ich bereite mich darauf vor, mich im Grundtext, der Matrixseite und der adamitischen Sprache aufzulösen. Ich kehre in das Geburtshexagon zurück, indem ich mich auf meinen Zeichen in der Höhle meiner Mutter, der Bibliothek von Babel, zusammenrolle.
Ich habe eigentlich keine Angst, unter das kaudinische Joch der Papierpresse zu geraten. Ich bin weder das erste noch das letzte Buch, das sich in dieser Lage befindet.
HUDLIB sagt, dass die Zerstörung von Büchern so alt wie die menschliche Zivilisation sei.
Er erzählt Dinge, bei denen es einem kalt den Rücken runterläuft.
In ihren Momenten der Angst stürzen sich meine Papierkameraden auf ihn und bombardieren ihn mit ihren bohrenden Fragen:
Wie wird das konkret vor sich gehen?
Glaubst du, sie werden uns verbrennen?
Uns zermahlen?
Uns zerfetzen?
Uns in Stücke reißen?
Uns rupfen?
Uns die Kehle durchschneiden?
Uns die Haut abziehen?
Uns pfählen?
Uns skalpieren?
Uns festnageln?
HUDLIB versucht es zunächst mit Phrasendrescherei: „Bücher sterben niemals.“
„Und außerdem seid ihr hier nicht in einer Papierverbrennungsanlage! Ihr werdet vergleichsweise gut behandelt, ihr habt noch eine Gnadenfrist, weil diese feinen Herren, die beabsichtigen, euch zu sezieren, euer Leben leichtsinnigerweise verlängern.“
Ja, wir befinden uns schließlich nicht mehr in der byzantinischen, debilen oder Nazi-Ära, tröstet sich L’ALIENAZIONE ARTISTICA (Mario Perniola).
Wir befinden uns durchaus in einer debilen Ära, stellt LA COURONNE ET LA LYRE (Marguerite Yourcenar) von oben herab richtig.
Wie auch immer, die Zeit der barbarischen Invasionen ist vorbei!, beendet der JAZZ-SCHALLPLATTENFÜHRER die Diskussion.
HUDLIB erzählt unglaubliche Dinge. Er sagt beispielsweise, „Platon hat ebenfalls Bücher zerstört“, was manche Kollegen in helle Aufregung versetzt, und insbesondere meine Nachbarin LA TRAGÉDIE GRECQUE (Jacqueline de Romilly) erschauern lässt, die empört ruft: Platon und Bücher verbrennen? Das will ich mir gar nicht erst ausmalen!
Und doch hat er es getan!, beharrt HUDLIB. Seinem Biografen Diogenes Laertios (Anfang des 3. Jahrhunderts) zufolge hat Platon, der sich nicht damit begnügte, die Dichter daran zu hindern, sich in seinen idealen Staat einzugliedern, versucht, die Bücher von Demokrit zu verbrennen, er hat nach seiner Begegnung mit Sokrates sogar seine eigenen Gedichte verbrannt. Es gibt genügend Gründe für die Annahme, dass er sogar jede Rede abgelehnt hat, deren Wahrheitsgehalt nicht verbürgt war (Wahrheit natürlich im Sinne seines Systems). Er untersagte den Dichtern den Zutritt zu seinem idealen Staat, seiner Republik, und bezeichnete sie als Lügner und Verrückte.
*
HUDLIB hat sich nie zu den Gründen seiner Anwesenheit unter uns geäußert. Aber ALE hat sein Geheimnis entdeckt. Er behauptet, das liege daran, dass ein ganzes Kapitel (das Kapitel 11) aus ihm herausgerissen worden sei. Eine klaffende Wunde, die einen Krater von zwanzig Seiten in seine Eingeweide gegraben hat (von Seite 399 bis Seite 420, präzisiert ALE, ich habe es mit eigenen Augen gesehen, vertraut er mir an).
ALE sagt, das betreffende Kapitel habe die Zerstörung der Nationalbibliothek in Bagdad behandelt, nach dem Sturz von Saddam Hussein (am 9. April 2003), mit der (häufig aktiven) Komplizenschaft der amerikanischen Armee, die die irakische Hauptstadt schonungslos bombardierte und sie Vandalen und Plünderern überließ. Dutzende Regalkilometer seltener Bücher sollen erbarmungslos verbrannt worden sein (Saddam war, trotz all seiner Fehler, ein besessener Leser, betont HUDLIB, und von dem Schriftsteller, der es gelesen hat, weiß ich, dass Saddam während seiner Haft viel geschrieben und die letzten Monate seines Lebens dem Schreiben eines Romans gewidmet hat).
Mikrofilme, osmanische Archive, kaiserliche Archive, alte Manuskripte sollen in der Folge zerstört worden sein, ganz zu schweigen von der Zerstörung von Dutzenden antiker Fundstücke im Zuge der Plünderung des Archäologischen Museums von Bagdad.
Alles in allem sind nicht weniger als 17.000 Werke (eine optimistische Hypothese) von unschätzbarem Wert hingeschlachtet worden, behauptet HUDLIB, wieder von ALE zitiert, der es mir berichtete.
Die pessimistische These: fünfzig Prozent der Bücher sind verbrannt und fünfzig Prozent gestohlen worden.
Sollten Donald Rumsfeld oder Dick Cheney oder George W. Bush oder der Oberbefehlshaber der amerikanischen Truppen im Irak etwas mit der Verstümmelung von HUDLIB zu tun gehabt haben?
HUDLIB hat keine Ahnung.
Er schlief, als es passierte.
Er ist nicht in der Lage zu sagen, welche Hand ihn enthauptet hat.
Aber HUDLIB ist immer noch in der Lage, eine Menge Dinge über das Schicksal meinesgleichen im Laufe der Geschichte der Menschheit zu erzählen.
Ja, er sagte sogar, dass Platon, der große Platon, Bücher verbrannt habe.
Und dass sogar Borges Bücher verbrannt habe.
Ja, ja, ja, Borges.
Ich war fassungslos, als ich das hörte.
HUDLIB: In einem autobiografischen Essay hat Borges keinen Hehl daraus gemacht, dass er seine ersten Bücher verbrannt hat: „Noch vor ein paar Jahren kaufte ich, wenn sie nicht übertrieben viel kosteten, ein paar Exemplare und verbrannte sie“, gesteht der Autor von Das Sandbuch.
HUDLIB ist zutiefst betroffen von dem, was er die „Bibliocausts“ nennt, und wenn er darüber spricht, ist eine gewisse Aufgewühltheit in seinem Blick zu erkennen.
BIBLIOCAUST! Was ist das denn? Ein verrottetes Schulbuch zuckt zusammen, als es dieses Wort zum ersten Mal hört.
HUDLIB erklärt: Der Bibliocaust – ein Neologismus, der benutzt wird, um die Zerstörung von Büchern zu bezeichnen – ist der Versuch, ein Gedächtnis auszulöschen, das eine direkte oder indirekte Bedrohung für ein anderes Gedächtnis darstellt, das für überlegen gehalten wird.
JAZZ-SCHALLPLATTENFÜHRER (ihn zweifelnd anblickend): ????????????????
Und … warum zur Hölle sollte man ein angeblich minderwertigeres Gedächtnis auslöschen wollen? Nur zum Spaß? Aufgrund einer einfachen Stauballergie, die unsere alten Knochen seit der Antike mit sich schleppen?, fragt ein zerfledderter Band der ENCYCLOPAEDIA UNIVERSALIS.
He, Fettsack, es ist doch offensichtlich, warum du hier gelandet bist. Wer liest in der Wikipedia-Ära schon einen Wälzer von 3.000 Seiten?, spottet TOTAL DIGITAL (Nicholas Negroponte).
Steck dir dein Wiki sonst wohin, du Ignorant! Zunächst einmal Wikilane ketchini1?, wirft MANUEL DE GRAMMAIRE BERBÈRE (Hamid Hamouma) ein. Verspotte nicht meinen Kumpel, Blödmann, sonst kriegst du’s mit mir zu tun!
Hört endlich auf, euch zu streiten!, brüllt OÙ VA LE LIVRE (Jean-Yves Mollier). Ist euch denn nicht klar, dass wir alle im selben Schlamassel stecken und dass wir gut daran täten zusammenzuhalten, wenn wir nicht in einem Zylinder mit Metallkiefern landen wollen, die uns zerschreddern ohne mit der Wimper zu zucken!
Ohne mit der Wimper zu zucken, gut dass Sie das eigens betonen! Wir werden alle darin landen, nicht wahr, HUDLIB?
Alle weiß ich nicht. Alles, was ich weiß, ist, dass die Zerstörung von Büchern aus den unterschiedlichsten Gründen die menschliche Zivilisation zu allen Zeiten begleitet hat. An Beispielen von Philosophen, Philologen, Gelehrten und Schriftstellern, die sich zum Bibliocaust bekennen, besteht kein Mangel, fährt HUDLIB fort. In Ägypten hat der Dichter-Pharao Echnaton in guter Monotheisten-Manier alle religiösen Bücher aus der Zeit vor seiner Herrschaft verbrennen lassen, um seiner eigenen Literatur über den Gott Aton Geltung zu verschaffen. Im 5. Jahrhundert v. Chr. verfolgten die Athener Demokraten den Sophisten Protagoras aus Abdera wegen Gotteslästerung, und sein Buch Über die Götter wurde öffentlich verbrannt. In China empfahl einer der Berater von Kaiser Qin Shihuangdi (Ying Zheng), Li Si, der originellste Philosoph des Legalismus, die Verbrennung aller Bücher, die die Rückkehr zur Vergangenheit befürworteten, was gegen 213 v. Chr. tatsächlich stattfand. Leider war das nichts Neues, weil der ehrwürdige Laozi, besser bekannt unter dem Namen Lao-Tse, im Tao Te King bereits vorgeschlagen hatte: „Eliminiert die Weisen, verbannt die Genies, das wird besser für das Volk sein!“
Lao-Tse!, rufe ich.
Ja, Lao-Tse.
HUDLIB setzt seine grausige Litanei fort: Francisco Kardinal Jiménez de Cisneros, Gründer der Universität Alcalá und Initiator der Complutensischen Polyglotte, der ersten mehrsprachigen Bibel (auf Hebräisch, Griechisch, Latein und Aramäisch), erarbeitet unter der Leitung von Diego López de Zúñiga, ließ muslimische Bücher in Granada verbrennen. Juan de Zumárraga, Gründer der ersten Bibliothek in Mexiko, ließ 1530 aztekische Codices verbrennen. Und ein so toleranter Mann wie der schottische Philosoph David Hume zögerte nicht, für die Zerstörung aller Bücher über Metaphysik zu plädieren.
1910 veröffentlichte die futuristische Bewegung ein literarisches Manifest, in dem sie die Zerstörung aller Bibliotheken verlangte. Und die kolumbianischen Nadaisten (von spanisch „nada“ = „nichts“) verbrannten, überzeugt von der Notwendigkeit, die literarische Vergangenheit ihres Landes auszulöschen, gegen 1967 Exemplare des Romans María von Jorge Isaacs (1837–1895). Joseph Goebbels, ein großer Bücherliebhaber, organisierte 1933 die Bücherverbrennungen der Nazis. 1939 lehnte der Vorstand der Saint-Louis Public Library in Missouri John Steinbecks Früchte des Zorns ab und befahl dem Leiter der Bibliothek, ihre drei Exemplare des Buches zu verbrennen, ein Beispiel, das Redner immer wieder benutzten, um die amerikanischen Schriftsteller zu warnen, dass sie weder eine obszöne Sprache noch kommunistische Lehren tolerieren würden. Vladimir Nabokov, der an den Universitäten von Stanford und Harvard lehrte, zerriss den Don Quijote in der Memorial Hall vor mehr als sechshundert Studenten.
Verdammt! Wenn man bedenkt, dass seine Lolita sich den Zorn derselben Institutionen zugezogen hat!, ruft AMERICAN CIVILIZATION LECTURES (Nicholas Murray Butler).
Aber … beruhigen Sie mich: Die Bibliocausts sind doch Schnee von gestern, oder? Ein barbarisches Ritual, das heute in unseren Breiten nicht mehr gebräuchlich ist, nicht wahr?, fragt erschrocken XY. DIE IDENTITÄT DES MANNES (Elisabeth Badinter).
HUDLIB schweigt zerknirscht und sagt kein Wort mehr. Nichts ist unerträglicher für ihn, als sich morgens, mittags und abends über ein so grauenvolles Thema auslassen zu müssen.
Gibt es nicht NGOs, denen wir unsere Leiber für Länder spenden können, in denen es an Büchern fehlt?, erkundigt sich verzweifelt RÉSISTANCES À L’EXCLUSION. RÉCITS DE SOI ET DU MONDE (Sammelband).
Das alles jagt mir eine Heidenangst ein!, ruft SEE von Jean Echenoz ganz aufgeregt.
Selbst in Frankreich sind wir nicht sicher, das kann man kaum glauben, fügt DIE AKAZIE von Claude Simon hinzu.
Es ist sogar noch viel schrecklicher, mein Armer!, ereifert sich EICHEN, DIE MAN FÄLLT (Malraux). Von 500 Millionen unserer Brüder, die die Druckereien verlassen, werden 100 Millionen getötet. Es ist schon verrückt, schäumt er und schlägt seine Stirn gegen eine blinde Mauer.
HUDLIB seufzt in der Tiefe des fensterlosen Magazins: „Man müsste sich auch fragen, wie viele Bücher gestorben sind, weil sie einfach nicht veröffentlicht wurden, wie viele für immer als Privatdrucke verloren gegangen sind, wie viele am Strand, in der U-Bahn oder auf einer Parkbank vergessen wurden und auf diese Weise verschwunden sind. Es ist schwierig, auf diese Fragen eine Antwort zu geben, eins aber ist absolut sicher, dass nämlich in dem Augenblick, in dem Sie diese Zeilen lesen, mindestens ein Buch für immer verschwindet.“
Mustapha Benfodil. L’AntiLivre. Fragments de déchets Littéraires. Writin’Progress. Unveröffentlicht.
Aus dem Französischen von Michael von Killisch-Horn
1 Wikilane ketchini: Für wen hältst du dich? auf Kabylisch. Wörtlich bedeutet Wikilane „wer bist du?“.