L’autrice di quelle pagine si chiamava Carla Lonzi. Come è possibile, mi dissi, che una donna sappia pensare così? Ho faticato tanto sui libri, ma li ho subiti, non li ho mai veramente usati, non li ho mai rovesciati contro se stessi. Ecco come si pensa.
Die Autorin jener Seiten hieß Carla Lonzi. Wie ist es möglich, fragte ich mich, dass eine Frau so denken kann. Ich habe so hart an Büchern gearbeitet, doch ich habe sie durchgestanden. Ich habe sie nie wirklich benutzt und sie nie gegen sich selbst gewendet. Das heißt Denken.
— Elena Ferrante
Taci, anzi parla: „Schweig, oder sag’s besser“ betitelte die italienische Kunstkritikerin Carla Lonzi und spätere Aktivistin ihr „Tagebuch einer Feministin“ (Diario di una femminista) aus dem Jahr 1978. Der Titel deutete bereits auf eine zugespitzte Gemütslage kurz vor der öffentlichen Enthüllung ihrer privaten Notizen aus den Jahren 1972 bis 1977 hin, voller Zweifel darüber, was man mit Worten ausrichten kann. Ihr Tagebuch zeichnete persönliche Erfahrungen, Träume, Treffen und Reflexionen auf: das Protokoll eines Bewusstseinsstroms in ständiger Bewegung und des Versuchs, die geschriebene Sprache aus weiblicher Perspektive zu meistern. Gleichermaßen würde ich einige meiner jüngsten Erkundungen als eine „Sprachbewegung”, bezeichnen, sprich, eine Reiseroute, die mich in die Nähe einer Gruppe von italienischen Künstlerinnen und Kunstautorinnen aus den 1960er und 70er Jahren rückt, die durch ihre Neudefinition von Sprache als etwas Textuelles, Körperliches, Performatives, Politisches und Mittelbares verbunden waren. Auch wenn mir manchmal der Begriff der „Wiederentdeckung“ nicht ganz geheuer ist, fühle ich mich zunehmend zu dieser späten Phase des vorigen Jahrhunderts hingezogen, als in Italien der Boom der Massenmedien, kommerzieller Kommunikation und der Fetischismus der modernen Technologien in der visuellen Poesie und der sogenannten Nuova Scrittura (Neues Schreiben) ein subversives Gegenmittel fand. Eine solche Form des Schreibens verortete sich selbst an der Schnittstelle zwischen Bild, Wort und nonverbalen Codes und war für weibliche Autoren, Künstler und Aktivisten wie Lonzi, oder auch Carla Accardi, Mirella Bentivoglio, Tomaso Binga, Ketty La Rocca, Lucia Marcucci und Giulia Niccolai, um nur einige zu nennen, eine Phase der Artikulation. Man wollte sich mit neuen experimentellen Ausdrucksformen von den semiotischen und vom erdrückenden Erbe des Faschismus zum Schweigen verurteilten und mit katholischem Moralismus überlastenden Zwängen der patriarchalischen Ordnung frei machen.
Vielleicht ist meine Begeisterung für diese vergangene Ära eine unbewusste Reaktion auf die aktuelle neue Welle (oder Sintflut) der „technologischen Sprache“, die alle Bereiche von Kommunikation und Kontakt besetzt, soziale Regeln und Verhaltensmuster diktiert und zunehmend das Einzigartige in vorgefasste, schnell vermarktbare Erzählformen drängt: selbstbewusst, extrovertiert, geradeheraus. Allerdings ist die polare Sogwirkung dieser Nachkriegsarbeiten auf mich auch eine Reaktion auf meine besondere Situation, denn ich spreche Italienisch, schreibe aber meistens auf Englisch, meine Lingua Franca und mein ewig nebelhaftes Gelände, wo Bestimmtheit an so viele Grenzen stößt. Fragestellungen, wie man sich selbst sichtbar macht und Gehör verschaffen kann und wie man den Raum des-Sich-Hörbar-Machens erweitern kann, ohne den Bezug zur eigenen „peripheren“ Perspektive und Kultur zu verlieren, teile ich mit jener Gruppe von italienischen Frauen so viele Jahrzehnte vor mir. So wie ich auch ihr anhaltendes Bedürfnis nach Autorinnen und Künstlerinnen in allen Bereichen teile, um Ausdrucksmittel jenseits verkrampfter binärer Logik zu individuieren – und das Bedürfnis, zu Wort zu kommen, anstatt zum Schweigen gebracht zu werden.
Ich habe den Beginn dieser Reise in die Vergangenheit Künstlerinnen wie Binga, La Rocca und Marcucci zu verdanken, die sich selbst keineswegs als Feministinnen bezeichneten oder sich aktiv an der Bewegung beteiligten, doch deren Dekonstruktion der Kommunikationscodes eloquente Formen der „Differenz“ hervorbrachten, in denen weibliche Identität als ein Mittel des Widerstands ins Spiel gebracht wird. Häufig von der Mainstream-Kritik als „unbedeutend“ und marginal ignoriert oder abgestempelt, erschienen diese Künstlerinnen im selben Moment wie eine Generation von weiblichen Kunstkritikerinnen wie Lonzi, Lea Vergine, und Annemarie Sauzeau, denen ich gelernt habe zuzuhören. Trotzdem waren ihre Arbeiten bis vor Kurzem noch sowohl innerhalb als auch außerhalb der italienischen Grenzen kaum sichtbar und hatten nur kleine Auflagen. Eine Besonderheit des italienischen Kontextes ist, dass einige der wichtigsten Stimmen der Frauenbewegungen des 20. Jahrhunderts, etwa auch Lonzis, starke Verbindungen zur zeitgenössischen Kunst aufwiesen. Immer wieder lief ich im Geiste ihre Routen vom Visuellen zum verbal Artikulierten ab. Mich faszinierte es, wie diese Frauen einen Ausweg aus einem Zustand der Stummheit fanden: Die Künstlerinnen zweckentfremdeten die vorgefertigten Bilder der Populärkultur, wendeten sich unsemantischen Schreibweisen zu und erhoben in Performances, Lesungen und Live-Aktionen ihre Stimmen, während sich die Autorinnen einer Sprache bedienten, die ihr Verlangen behauptete, neu erfunden, neu verarbeitet und durch weibliche Subjektivität gefiltert zu werden.
Mirella Bentivoglio, Io (Ich, 1970er Jahre)
Tatsächlich spricht Julia Kristeva in ihrem Vorwort zu La lingua della nutrice: percorsi e tracce dell’espressione femminile (Die Sprache der Pflege-Mutter: Routen und Spuren weiblicher Ausdrucksformen, 1978), dem Buch der italienischen Kunsthistorikerin, Kritikerin und Autorin Elisabetta Rasy, ausdrücklich über weibliche „Texte des Schweigens“: „mit dem Ungesagten verwoben, von Wiederholungen durchzogen, wo Frauen sich artikulieren, mit ihren sparsamen Worten und ihrer elliptischen Syntax, einer angeborenen Lücke unserer mono-logischen Kultur: die Worte des Nicht-Seins.“ Kristevas Anmerkung zum Status der Frau und der Rede von ihrem „Nicht-Sein“ ist von zentraler Bedeutung. Vor dem Aufkommen von linken Studenten- und Arbeiterbewegungen im Jahr 1968 und im folgenden Jahrzehnt waren italienische Frauen, die erst 1945 das Wahlrecht erhalten hatten, weitgehend benachteiligt, hatten aber kaum das Recht, das auch zu artikulieren. Das faschistische seit den 1940er Jahren unveränderte Familiengesetzbuch positionierte sie in einer untergeordneten Stellung, hauptsächlich als Mütter und Pflegerinnen. Bis 1963 war es legal, Frauen zu kündigen, wenn sie heirateten, und ihnen wurde der Zugang zu ganzen Sektoren des öffentlichen Dienstes verweigert, etwa zur Justiz; der Schutz von weiblichen Arbeitskräften wurde erst 1972 gebilligt, ein Jahr nach der Einrichtung von öffentlichen Kindergärten. In der Zeit, die ich hier zurückverfolge, hatte der kurzlebige wirtschaftliche Aufschwung in Italien genderspezifische Auswirkungen: zwischen 1959 und 1965 verloren mehr als eine Million Frauen ihre Arbeit. 1969 war der Anteil der weiblichen Arbeitskräfte auf 25 Prozent gesunken. Die Frauen wurden in die häusliche Sphäre zurückgedrängt und in die traditionelle Rolle der Casalinga, der Hausfrau, die in den Illustrierten und Werbeanzeigen ihrer Zeit als manisch glücklich abgebildet wurde. Scheidung wurde 1970 legalisiert, eine Volksabstimmung zur Aufhebung des Gesetzes scheiterte 1974. 1975 billigte die Reform des Familiengesetzes die rechtliche Gleichstellung der Ehepartner. Nach hitzigen Debatten und Auseinandersetzungen wurde im Jahr 1978 schließlich Abtreibung ratifiziert.
Zwischenzeitlich brachte das Nachkriegsbedürfnis, Bildung auf egalitäreren Grundlagen zu reformulieren – schließlich war Bildung einer der wenigen Bereiche, wo die Berufstätigkeit von Frauen eine entscheidende Rolle spielte – radikale pädagogische Praktiken hervor. Dazu gehörte die Scuola di Barbiana unter der Leitung des Priesters Don Lorenzo Milani, der seine Erfahrungen in dem berühmten Buch Lettera a una professoressa (Brief an eine Lehrerin, 1967) zusammenfasste, das die Ungleichheit eines italienischen Systems kritisierte, das die Kinder der Wohlhabenden bevorzugte und die Armen unbeachtet ließ. 1971 gründeten der Psychoanalytiker Elvio Fachinelli gemeinsam mit Lea Melandri und Luisa Muraro, zwei Führungsfiguren des italienischen Feminismus, das Magazin L’Erba Voglio, das sich auch für antiautoritäre Methoden in italienischen Schulen einsetzte. Die Pädagogin Elena Gianini Belotti, damalige Direktorin des Montessori-Zentrums in Rom, beschrieb den Effekt von genderspezifischer Konditionierung in ihrem bahnbrechenden Essay „Dalla parte delle bambine“ (1973). In der englischen Übersetzung, trat der Titel deutlicher hervor: „What are Little Girls Made Of? The Roots of Feminine Stereotypes“ (Woraus werden kleine Mädchen gemacht? Die Wurzeln weiblicher Stereotypen). Um etwas zu verändern, der Ausgrenzung entgegenzuwirken und die italienische Gesellschaft in ihren Grundfesten zu erschüttern, musste man zu dieser Zeit dort anfangen, wo die Unterdrückung jeglichen Anderseins ihren Anfang nimmt: in der Sprache.
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Im Jahr 1975 entstand eine Serie von grafischen Arbeiten, mit denen Künstler wie Accardi, Mirella Bentivoglio, Valentina Berardinone, Binga, Nilde Carabba, Dadamaino, Amalia Del Ponte, Grazia Varisco und Nanda Vigo die Eröffnung des Frauenbuchladens Libreria delle donne in Mailand unterstützten. Die Initiative wurde vom Kollektiv Milanese Via Cherubini promotet, dem Epizentrum der sogenannten „Gesprächsgruppen“, die auf Grundlage der praktischen autoscienza, die „perfekte gegenseitige Identifikation voraussetzten und förderten. Ich bin du, du bist ich, die Worte, die eine von uns verwendet, sind Frauen-Worte, ihre und meine“, so der Wortlaut des Kollektivs. Autocoscienza gründete auf der Psychoanalyse und Philosophie sowie auf der basisdemokratischen Idee des „partire da sé“ (von sich selbst ausgehen), um Les mots pour le dire (1975; dt. Schattenmund. Roman einer Analyse, 1977) zu finden, um mit dem Titel von Marie Cardinals großartiger Autobiografie zu sprechen, die ihren Heilungsprozess durch Analyse behandelt und im selben Jahr veröffentlicht wurde.
Die Libreria delle donne verkauft immer noch Bücher, und auch die Casa Internazionale delle Donne in Rom gibt es immer noch. Eine neue Generation von Kunsthistorikerinnen und Wissenschaftlerinnen, darunter Raffaella Perna, Elena Di Raddo und Giovanna Zapperi, arbeiten am Erbe des italienischen Feminismus, und Lonzis Texte erleben dank ihrer Neuauflage im Jahr 2010 eine neue Blüte. Trotzdem ließen die spärliche Verbreitung von Frauenforschungsstudiengängen in Italien und fehlende englische Übersetzungen vieler zentraler Texte des italienischen Feminismus der 1960er und 70er Jahre etliche weibliche Stimmen verstummen, die in diesem wichtigen Moment von integraler Bedeutung waren. Zu ihnen zurückzukehren, das heißt ihnen zuzuhören, hinzusehen, sie zu lesen, ist für mich zu einem Grundbedürfnis geworden: eine Genealogie der Dissonanz und des Widerspruchs, die tief in meiner Kultur verwurzelt ist. Keine Sprache der Affirmation, sondern eine des Suchens und der Individuation, der Destabilisation und Verweigerung. Voller Lücken, Schweigen, Pausen, Intervallen. Unsicherheiten, Außenseiten. Eine Sprache voller Fehlstellen und manchmal voller Körper.
Ich verdanke mein Verständnis von der Wichtigkeit der Fehlstellen dem Kunsthistoriker, Dichter und Kritiker Cesare Brandi und seinem bahnbrechenden und ins Deutsche übertragenen Buch Theorie der Restaurierung aus dem Jahr 1963, das den Begriff der (materiellen) Authentizität theoretisch neu definierte:
Was ist eigentlich eine Fehlstelle, die im Zusammenhang einer malerischen, plastischen oder auch architektonischen Darstellung erscheint? Wenn wir nach dem Wesen des Werkes suchen, werden wir sofort spüren, dass eine Fehlstelle eine unangemessene formale Unterbrechung darstellt, die wir als schmerzhaft empfinden könnten. Aber wenn wir uns in die Grenzen der Epoché zwingen, wenn wir also auf dem Feld der unmittelbaren Wahrnehmung bleiben, werden wir die Fehlstelle nach dem spontanen Schema der Wahrnehmung als Figur auf dem Grund interpretieren: Demnach werden wir die Fehlstelle als eine Figur empfinden, gegenüber der die bildnerische Darstellung der Malerei oder Skulptur oder Architektur zum Grund degradiert wird, während die Fehlstelle selbst zur Figur wird und sich in dieser Form dem Betrachter aufdrängt. Dieses Zurücktreten der tatsächlichen Figur in den Hintergrund, dieses gewalttätige Hineindringen der Fehlstelle als eigenständige Figur in einen bildnerischen Zusammenhang, der seinerseits wiederum versucht, die Fehlstelle aus diesem Zusammenhang auszustoßen, wird zum eigentlichen Störfaktor, und zwar in einem viel höheren Maße, als dies durch die formale Unterbrechung gegeben ist, welche die Fehlstelle mitten in der bildnerischen Darstellung verursacht.
Tomaso Binga, Senza titolo (ohne Titel, 1975), Poster-Edition, 100 x 70 cm. Edizione Libreria delle donne, Mailand
Carla Accardi, Senza titolo (ohne Titel, 1975), Poster-Edition, 70 x 100 cm.
Edizione Libreria delle donne, Mailand
Mirella Bentivoglio, Senza titolo (ohne Titel, 1975), Poster-Edition, 70 x 100 cm. Edizione Libreria delle donne, Mailand
Brandi riet, alle Einordnungen umkehrbar zu machen, alles sollte „auf den ersten Blick erkennbar sein, ohne besondere Dokumentation, eben als ein Vorschlag, der dem kritischen Urteil der anderen vorgelegt wird.“ Restaurierung als Wiederherstellung von Sichtbarkeit anstatt der willkürlichen Rekonstruktion eines verlorenen Originals, das einer fortwährenden Rekonfiguration von Bedeutung ausgesetzt ist. Den Beweis einer Geschlechterkluft in der neueren italienischen Kunst anzutreten „unterbricht“ die traditionelle Prozession von Vaterfiguren und lässt diese – ausnahmsweise – in den Hintergrund treten. Es erlaubt auch das Eindringen anderer Identitäten. Und bietet im Laufe des Prozesses den erstaunlichen Beleg, wie viele weibliche Stimmen immer noch vor allem von Frauen ausgegraben, erforscht, wiederholt und verstärkt werden.
Zur selben Zeit, als Brandi für Mittel zur Artikulation von Abwesenheit sorgte, fand in Italien eine sprachliche Revolution statt. Die Veröffentlichung der Lyrikanthologie I Novissimi (Die Neusten) im Jahr 1961 und die Gründung der Gruppo 63 zwei Jahre später markierte die Geburt der sogenannten Neoavanguardia. Poesie, Literatur und Semiotik gingen auf Angriffskurs gegen die alte Langue, während die Ausbreitung von Fernsehen, Beatmusik und die neue Technologiesprache im Zuge der schnellen Industrialisierung der nördlichen Regionen und der Entwicklung einer „modernen“ Mittelklasse weitere Turbulenzen verursachte. Eine der wenigen weiblichen Mitglieder der Gruppo 63 war Giulia Niccolai, die 1966 ihren ersten und einzigen Roman veröffentlichte, Il grande angolo (Der Weitwinkel), ein semi-autobiografischer Bericht über ihre Erfahrung als professionelle Fotojournalistin, die im Auftrag von Life, Paris Match, Der Spiegel und die Wochenschau La Settimana Incom regelmäßig in die Vereinigten Staaten reiste. Das Buch bedient sich der Form eines nicht-chronologischen Tagebuchs, um die persönliche Krise der Autorin zu reflektieren, die Unmengen von Bildern aufnimmt und bearbeitet, aber unfähig ist, sie zu ihren eigenen zu machen und Realität von Fiktion zu trennen. In einem symptomatischen Absatz steht die Protagonistin allein in ihrem Zimmer vor dem Spiegel: Wie ein Fotomodell verfällt sie unwillkürlich ins Posieren, aber ist unfähig, sich selbst in der Reflexion wiederzuerkennen. Der Erzählstil ist schnell und gebrochen, das Vokabular überwiegend visueller Natur, als wollte es die Bilderflut und ihre Dekonstruktion widerspiegeln.
Giulia Niccolai, Macchina da scrivere oggetto (Schreibmaschienenobjekt, 1976), Druck und Insert auf Papier, 39 x 26 cm. Mart, Museo di arte moderna e contemporanea di Trento e Rovereto
Trotzdem zog Niccolai die Worte den Bildern vor: ihr zweites Buch, Humpty Dumpty (1969), bestand aus einer Sammlung visueller Poesie, ein Spiel mit Lewis Carrolls Alices Abenteuer im Wunderland (1865), bei dem sie ihre bilingualen Fähigkeiten mittels Humor und Nonsens zum Einsatz bringt. 1972 zog Niccolai mit ihrem Partner, dem Lyriker Adriano Spatola, aufs Land, in den Apennin bei Mulino di Bazzano in Parma, eine „Republik der Poeten“, wo sie gemeinsam die Zeitschrift für Lyrik Tam Tam gründeten. Im Jahr 1980 präsentierte der Autor und Freund Giorgio Manganelli schließlich Niccolais mit Harry’s bar e altre poesie betitelte Lyrik-Anthologie mit einem Wortwitz, der auf ihre ungezügelte Vorliebe für Pastiche anspielte und eigentlich unübersetzbar ist: „Come Carroll, la sciura Giulia sa che è tutta una faccenda di parole, e che le parole si scrivono e scrivendole si possono incrociare, innestare, tagliare, topsyturvare, tailare, addietrare, disavanzare.“ Ich werde trotzdem den Versuch einer holprigen Übersetzung wagen: „Wie Carroll weiß auch Gnä’ Frau Giulia, dass alles eine Frage der Wörter ist, dass Worte geschrieben und beim Aufschreiben überkreuzt, okuliert, geschnitten, auf den Kopf gestellt, kupiert, zurückgesetzt und entavanciert werden.“
Als neues Mittel zur Befreiung des Ausdrucks, losgelöst vom Konformismus der literarischen Sprache, versessen auf Parodierung und Untergrabung des neoliberalen Jargons und offen für die Kontamination durch Fremdsprachen, wurde die Lyrik zum Leitmedium der Ära, ob geschrieben und in Druckform verteilt, aber auch laut gelesen, inszeniert, aufgeführt, herausgeschrien und mit Musik, Aufnahmen und bewegten Bildern kombiniert, alles in einer Linie mit Fluxus. Die 1963 gegründete Florentiner Gruppo 70 bereiteten als Erste den Weg für „intermediale“ Lesungen und für eine protofeministische Guerilla-Semiotik. Einer der Mitbegründerinnen war Lucia Marcucci. 1965 war Marcucci gerade auf dem Weg nach Neapel, um dort ihre Poesie e no 3 (Gedichte und Nicht-Gedichte 3) aufzuführen, als sie ein rundes Schild fand, auf dem im Zentrum einer Wahlscheibe ein Telefon abgebildet war. Sie ließ sich mit dem Schild in den Händen abfotografieren und versah das Bild mit dem Titel La ragazza squillo: das Callgirl, aber in einer ironischen Rollenumkehrung auch das Mädchen, das selbst anruft, die Klappe nicht halten kann und Beachtung und Engagement einfordert. Ein Jahr später, während einer Tagung der Gruppo 63 in La Spezia, las Marcucci ihr Gedicht “Ti Ex-Amo” (Ich ex-liebe dich) vor, eine Mischung aus linguistischen Registern und Stilen (Werbe- und Journalismus-Jargon, Umgangssprache, Tagebuchnotizen, Juristenfachsprache und Literatur), einschließlich Fragmenten auf Englisch, die aneinandergefügt ein sarkastisches Bild der damaligen Situation der italienischen Frau zeichnen:
Löwendame des Zodiaks,
zieh deine Klauen ein – diesen Monat
spielst du die Rolle der Passiven.
Vordergründiger als einen
Pfad zum Erfolg zu bahnen, ist jetzt
die Selbstverwöhnung:
neue Frisuren ausprobieren,
Make-up, Klamotten, und dann
den Erfolg deine Tür
einrennen lassen. Am Monatsende
wirst du dir deinen ganz eigenen
gelben Zauberweg gepflastert haben, aber erst wenn
du alle Hürden beseitigt hast.
Lucia Marcucci, I segreti della stampa (L’arma universale) (Pressegeheimnisse [Die Universalwaffe], 1971), Collage auf Karton, 66 x 48 cm
Weibliche Identität als ein von anderen vorgeschriebenes artifizielles Konstrukt bestimmte Form, Ton und Thema vieler experimenteller Gedichte dieser Zeit, darunter auch La Roccas Gedicht „Una buona idea“ (Eine gute Idee), das 1966 in Letteratura erschien. La Rocca hatte sich den Reihen der Gruppo 70 bereits in ihren Anfängen angeschlossen, und wie zuvor Marcucci produzierte sie Collagen aus Magazinfotos von jungen Frauen, die sie mit anstößigen Werbeslogans kreuzte, um Medium und Botschaft kurzzuschließen. La Rocca las Roland Barthes, Umberto Eco, Claude Lévi-Strauss und Marshall McLuhan und arbeitete als Grundschullehrerin in der Umgebung von Florenz: Sprache war für sie Arbeitsalltag, auf allen Ebenen.
Mit der Reihe „Lettere-Scultura“ (Buchstaben-Skulptur, 1969–1970) drang La Rocca in die dritte Dimension ihrer Sprachforschung, das Alphabet, die (Selbst-)Abbildung und Affirmation, vor. Sie verwandelte die Buchstaben “i” (I) und “j” (ausgesprochen wie französisch je, Ich) in große menschenähnliche Skulpturen aus schwarzem PVC, die aussahen wie lange, schlanke „Körper“ mit einem runden „Kopf“. 1970 stellte sie diese Figuren im Rahmen einer öffentlichen Kunstausstellung gruppenweise, wie kleine Familien, in einem Park in Modena auf. In einem Foto aus derselben Zeit taucht La Rocca unter Bettlaken direkt neben einem sich zurücklehnenden „j“ auf: Sie ist, buchstäblich, im Bett mit sich selbst. Nach und nach begann La Rocca mit der „Reduktionen“-Serie (Riduzioni, 1972–1973), Familienschnappschüsse und Fotos von Kunstwerken, Filmplakaten und Politikern auf neue Weise wiederaufzubereiten. Minuziös kritzelte sie (auf Englisch) „I/You“ am Profil der Figuren entlang und fügte so der binären Positiv/Negativ-Konstruktion der Fotografie eine neue persönliche Bedeutungsebene hinzu, der sie die individuelle Spur des eigenen Unbewussten einschrieb. Im Jahr 1974 notierte La Rocca:
(Es ist nicht die Zeit für Deklarationen von Frauen. Sie sind zu beschäftigt und sie müssten eine Sprache verwenden, die nicht die ihre ist, innerhalb einer Sprache, die ihnen fremd und feindlich gesinnt ist. Daher lässt sich nur eines sagen – mit ungewöhnlicher Intimität – in einem großzügigen und kahlen und doch freien Raum – und der richtigen Nummer zur Hand:) Was mich anbetrifft, habe ich alle Mängel der Frau, ohne ihre Qualitäten zu besitzen; eine negative Weiblichkeit, wie alle anderen aller Dinge beraubt, außer den Dingen, die keinen interessieren, wovon es viele gibt, auch wenn man sie erst in Ordnung bringen müsste. Hände, zum Beispiel, zu spät für weibliche Handarbeit, zu schwach und unfähig, um noch zuzupacken. Lieber mit Worten sticken …
Trotz der Forderung, es sei besser „mit Worten zu sticken“, wandte sich La Rocca der Körperlichkeit und der durch und durch (zum Klischee gewordenen) italienischen Körpersprache der Hände zu. In ihrem Schwarz-Weiß-Fotoband In principio erat (1971), „unterhalten“ sich Hände miteinander, indem sie Gesten und wortlose Botschaften austauschen. In Appendice per una supplica (Anhang für eine Bittschrift, 1972), übersetzte die Künstlerin diese Konversationen in ein Video, das auf der Biennale in Venedig in der von Gerry Schum kuratierten „Performance and Videotape“-Reihe ausgestellt wurde. Als im Folgejahr der öffentlich-rechtliche Sender RAI La Rocca einlud, zum Nuovi Alfabeti, dem experimentellen Fernsehprogramm für Gehörlöse, beizutragen, beschloss La Rocca, Zeichensprache nicht nachzuahmen oder für sich zu beschlagnahmen, sondern dieselben Ausdrucksbereiche beziehungsweise eine emotionalere, freiere und authentischere Seite von Kommunikation zu erforschen. Das Ergebnis war eine kurze Episode mit dem Titel Le mani (Die Hände), die am 19. Juni 1973 ausgestrahlt und deren Choreografie aus abstrakten Gesten von einem Pantomimen gedolmetscht wurde. Und noch ein Jahr später veröffentlichte sie in einem unbetitelten Künstlerbuch ihre eigene Mimik als einziges Kommunikationsmittel, ein Gesichtsausdruck pro Seite, und kreierte damit faktisch ein „Face“-Book. „Das Gesicht ist eine Pantomime, von der Sprache geschaffen“, schreibt La Rocca in You, you (1973).
Eines von La Roccas letzten Projekten (sie starb 1976 mit 38 Jahren) war die Performance Le mie parole e tu? (Meine Worte und du?), die 1975 an verschiedenen Orten präsentiert wurde und eine weitere bemerkenswerte Auseinandersetzung mit Schweigen darstellt. Damals las sie laut aus ihrem Text Dal momento in cui … (1971) und forderte das Publikum auf, einzelne Textbruchstücke und das Wort „Du“ immer lauter zu wiederholen, bis ihre Stimme nicht mehr zu hören war und sie sich ihre Ohren zuhaltend herunterbeugte, um sich vor dem Druck zu schützen.
Bei dieser Aktion, die ich Konjugation nenne,
bin ich für mich und andere ein Beispiel von absoluter Unterwerfung
unter die Sprache und ihre verlockendsten Infrastrukturen,
ich zwinge mich selbst dazu, mich mittels eines präzisierten Beispiels
auszudrücken,
die anderen an der Aktion Beteiligten konjugieren ein Drama,
das real und zugleich mein inneres Drama ist, meine Beziehung zu dem
Medium:
fesselnd, aber steril: Sprache bestimmt keine Freiheiten
nicht einmal
die illusorischen, aber sie ist ansteckend produktiv, sie schafft sich Opfer, die
ihre eigene Situation konjugieren,
die sie dann „du” nennen.
Nach jahrelangen vergeblichen Anläufen bekam ich die Le mani endlich im November 2015 am Istituto Svizzero in Rom in die Hände. Zu verdanken hatte ich das dem The Ketty La Rocca Research Project, das von der Künstlerin Sally Schonfeldt ins Leben gerufen worden war, die ihre Arbeit über La Roccas Leben und Werk während ihres Studiums an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) im Jahr 2011 begonnen hatte. Schonfeldts Projekt ist inzwischen zu einem umfassenden Archiv herangewachsen, das der Öffentlichkeit als „Research Center” und Lesesaal zugänglich gemacht wurde. Es stellt Originalarbeiten, Bücher und Magazine zur Verfügung, die auch leicht (sogar am hauseigenen Kopierer) reproduziert, mit nach Hause und in Umlauf gebracht werden können. Einer der dicksten Bände zur Ansicht ist das Tagebuch und „Reisejournal“, das Schonfeldt zu Beginn ihrer Untersuchungen führte, um ihre Funde und ihre persönlichen Reaktionen zu dokumentieren und den Eindruck zu vermeiden, dass, wie sie schreibt, „dieser Prozess der Rückkehr mit Wiederentdeckung verwechselt wird.“
Fasziniert von den Gesten des Pantomimen in dem RAI-Video auf dem kastenförmigen Bildschirm und überwältigt von fernen Schwarz-Weiß-TV-Erinnerungen aus meiner frühen Kindheit, verbrachte ich eine gefühlte Ewigkeit im Istituto Svizzero und wühlte mich durch das Material. An jenem Nachmittag sprachen Schonfeldt und ich über La Rocca, die uns zusammengebracht hatte, und gaben uns der süßen Sünde des Fan-Daseins hin. Bei der Vernissage mixte Künstlerin und DJane Anna Frei Auszüge aus Schonfeldts Tagebuch mit frühen Kompositionen elektronischer Musik von Frauen und präsentierte den Sound live und mit viel Echo. Später führten wir unseren Austausch über La Rocca in E-Mails und Briefen weiter. Und einmal schrieb Schonfeldt etwas, das für mich einen weiteren Schritt in Richtung Ankommen bedeutete:
Als ich zum ersten Mal mit La Roccas Werk in Berührung kam, war ich einerseits von seinem kraftvollen Ausdruck erstaunt, andererseits verwirrte mich die Tatsache, dass ich nicht schon vorher auf ihre Kunst gestoßen war. Ihre Arbeiten waren von unglaublicher Tiefe und in so vieler Hinsicht wegweisend (zum Beispiel die Dekonstruktion von Sprache und die Erforschung der nonverbalen Kommunikation), dass ihre Wirkung bis heute nicht nachgelassen hat. Deshalb wurde es für mich als Gegenwartskünstlerin immer wichtiger, alternative Wege zu finden, um mich ihrer und der Schattenposition vieler anderer Künstlerinnen im vorherrschenden Kanon der Kunstgeschichte anzunähern. Ich wollte mich an ihre Abwesenheit nicht aus der traditionellen akademischen Position der Kunstgeschichtsschreibung, sondern über eine ästhetische Mediation ihres Werkes herantasten, die sich aus meiner subjektiven künstlerischen Recherche ergab. Mein Ziel war, einen über die Generationen hinwegreichenden Dialog zu schaffen, der diese Abwesenheit von der Gegenwart aus adressiert. Ich spürte ein überwältigendes Verlangen, La Roccas Werk wieder sichtbar zu machen und es mit den Augen einer Künstlerkollegin neu zu betrachten.
Lucia Marcucci, La ragazza squillo (Das Callgirl, 1965), photograph mounted on board, 29,7 x 21 x 0,5 cm. Mart, Museo di arte moderna e contemporanea di Trento e Rovereto
In den 1960er und 70er Jahren war die institutionalisierte Kunstkritik das Reich der „anderen“. Damals war es in Italien noch „unglaublich schwierig“, Künstlerin zu sein, wie La Rocca 1975 an Lucy Lippard schrieb. La Rocca verband die Aufführung ihrer Riduzioni häufig mit dem grammatikalisch korrekten, aber sonst unsinnigen Text Dal momento in cui …
Beginnt man in dem Augenblick, wenn jede Entwicklung aus einem praktischen Blickwinkel aus fortschreitet, schafft man die Voraussetzung, eine konkrete Forderung, die im Rahmen einer vom nicht objektiven Urteil befreiten Perspektive akzeptabel wäre, in ein Feld hinein, das so weit ist, dass es unausweichlich auf die Behauptung stößt, die nicht wirklich zutrifft ...
Sprache also als bedeutungslose, leere Hülse.
*
In einem Gespräch mit Carla Lonzi, das 1966 im Magazin Marcatré veröffentlicht wurde, machte die Malerin Carla Accardi folgende Bemerkung:
Kunst war schon immer ein männliches Königreich. Wenn wir dieses Feld jetzt betreten […], müssen wir das Prestige enttarnen, das es umgibt und unzugänglich gemacht hat. […] Denn Frauen […] sind nach dieser ersten Welle, in der sie sich wie Männer aufführen mussten […], vorgetreten und haben sich zu Wort gemeldet: „Hey, was habt ihr uns denn so lange erzählt? Schaut her, wir sind schon längst drin, ist nicht so schwierig, ihr könnt es auch sehen, wenn ihr mal hingucken würdet.“
Nach ihrem Abschluss in Kunstgeschichte in Florenz arbeitete Lonzi überregional als Kunstkritikerin und Kuratorin. 1963 veröffentlichte sie einen Angriff auf Giulio Carlo Argan, den „Vater“ der italienischen Kritik und Kunstgeschichte. Der „La solitudine del critico“ (Die Einsamkeit des Kritikers) betitelte Artikel erschien in der Zeitung Avanti! und bestritt Argans Idee vom Kritiker als Ideologen und Aufseher künstlerischer Bewegungen, der aus selbstrefenziellen Gründen Gebrauch von seiner Macht macht. Einige Jahre später, im Jahr 1969, brachte sie ihr Schlüsselwerk Autoritratto (Selbstporträt) heraus. Auf einer Linie mit dem französischen nouveau roman und seiner Ablehnung traditioneller Erzählformen, unterwanderte das Buch die Codes des Schreibens über Kunst mit einem nahtlosen Bewusstseinsstrom, der die fragmentierten Aufzeichnungen von Gesprächen der Autorin mit vierzehn Künstlern, außer Accardi alle männlich, miteinander vermischte. Anstelle einer linearen Interview-Reihe komponierte Lonzi eine horizontale, chorische und polyphone Skizze, bei der die Autorin Teil des Subjekts bildet. Auch die Illustrationen waren non-kanonisch: Die Künstler wurden zu Hause oder in anderweitig privatem Umfeld gezeigt. Lonzi fügte auch ein Bild von sich, an ihrem Schreibtisch sitzend, bei, doch erst einige Jahre später, nachdem sie in Taci, anzi parla endgültig das Tagebuchformat angenommen hatte, würde sie einsehen, dass sie sich eigentlich nie als Autorin gesehen hatte. Sie erlaubte sich selbst als Subjekt nur dann hervorzutreten, wenn sie der Verwirklichung anderer die Anerkennung und eine Stimme gab. Sich der „Kultur zu verweigern“, schreibt sie, machte sie zwar stärker, aber dennoch unfähig, „den schöpferischen Moment“ für sich zu beanspruchen.
In dieser Phase hatte sie die Kunstkritik und die Kunstwelt im Großen und Ganzen längst hinter sich gelassen, dem Feminismus zuliebe; ein Schritt, den einige Jahre später auch Lippard nachvollziehen würde, weg von der kollektiven, hybriden und non-linearen Kritik in Six Years: The Dematerialisation of the Art Work from 1966 to 1972 (1973) hin zu feministischen Essays über Frauenkunst in From the Center: Feminist Essays on Women’s Art (1976).
1970 gründete Lonzi gemeinsam mit Accardi und der Aktivistin Elvira Banotti die separatistische Gruppe und den Verlag Rivolta Femminile, die ein gleichnamiges Manifest veröffentlichte. 1971 folgte ein neues Manifest mit dem Titel „Assenza della donna dai momenti celebrativi della manifestazione creativa maschile“ (Über die Abwesenheit der Frau bei den feierlichen Ausdrucksformen männlicher Kreativität), das ein dringendes Bedürfnis verteidigte, sich der öffentlichen, bis ins Innerste von Männern dominierten Kultur zu verweigern und die klassische Rolle der passiven Zuschauerin oder Künstlermuse über Bord zu werfen – die mindestens zwei der Teilnehmerinnen aus eigener Erfahrung kannten. Accardi gehörte zu den Mitbegründerinnen von Forma 1, die 1947 gegründet, Italiens wichtigste Gruppe von abstrakten Malern und Bildhauern der Nachkriegszeit formte. Obwohl sich die Gruppe offiziell zum „Formalismus und Marxismus“ bekannte, wurde sie von der etablierten Kommunistischen Partei beschimpft, sie würden sich dem Sozialistischen Realismus verweigern. Von 1949 bis 1964 war Accardi mit einem anderen Mitglied der Gruppe, Antonio Sanfilippo, verheiratet, und 1964, im Jahr ihrer Trennung, auf der Biennale in Venedig mit einem eigenen Raum für ihre Arbeiten vertreten.
Ketty La Rocca, Il Mio Lavoro (Meine Arbeit, 1974), Kontaktbogen und Tinte auf Papier, 35 x 35 cm
Mittlerweile war Lonzi mit dem Bildhauer Pietro Consagra, einer anderen Schlüsselfigur der Gruppe Forma 1, liiert. Ihre Beziehung und kreativen Bestrebungen widersprachen sich auf vielen Ebenen, vom Privaten bis zum Politischen. Lonzi trieb ihre persönliche und radikale Suche nach Authentizität bis an die Grenzen und machte sogar die Aufzeichnungen ihrer Diskussionen in Vai pure (Geh doch, 1980) öffentlich, was schließlich zur Trennung von Consagra führte. Auch mit Accardi, die ihre Arbeit und Identität als Malerin nicht aufgeben wollte, hatte sie gebrochen. Accardi hatte interessanterweise während ihrer militanten Jahre begonnen, mit Sicofoil-Blättern zu arbeiten, einem transparenten Plastikazetat, das ihr erlaubte, die Hierarchie zwischen Recto- und Verso-Seite aufzuheben und die Malerei ins Räumliche auszudehnen. Sie überzog ihre Rauminstallationen mit leuchtend fluoreszierenden Zeichen, die sie „Zelte“ nannte. Nach dem Weggang von der Rivolta Femminile im Jahr 1976 beschloss Accardi, ihre erste Arbeit in der Cooperativa Beato Angelico zu installieren. Der von Künstlern betriebene Ausstellungsort in Rom organisierte später auch Ausstellungen zu Artemisia Gentileschi, Elisabetta Sirani und der Regina (Königin). Und wieder griff Accardi auf Sicofoil zurück, diesmal in Form von an den Wänden herunterhängenden Streifen, die mit Origine (Ursprung) betitelt waren und eine Reihe von Fotos der Mutter der Künstlerin und einer entfernt verwandten Großtante zeigten. Die Kombination von Neuem und Altem, Figuration und Abstraktion stellte den Versuch dar, ihre Herkunft nachzuerzählen, um schließlich zur abstrakten Malerei und der Ausformung ihrer eigenen Sprache zurückzukehren.
Eine weitere Zeitgenossin und Protagonistin, die über weibliche Kreativität reflektierte, war Annemarie Sauzeau. Sie teilte mit Lonzi und Accardi die Erfahrung, mit einem bekannten Künstler zusammenzuleben: Sie war die Ehefrau von Alighiero Boetti (sie heirateten 1964, bekamen dann zwei Kinder und trennten sich Anfang der 1980er Jahre wieder). 1974 gründete Sauzeau gemeinsam mit Elisabetta Rasy, Manuela Fraire und Maria Caronia das wegweisende Verlagshaus Edizioni delle donne (Fraueneditionen) in Rom, inspiriert vom Pariser Verlag Éditions des femmes, der nur ein Jahr zuvor entstanden war. Zeitgleich widmete sie sich den Recherchen für das konzeptuelle Künstlerbuch I mille fiumi più lunghi del mondo (Die tausend längsten Flüsse der Welt), für dessen Publikation im Jahr 1977 sie gemeinsam mit ihrem Ehemann verantwortlich zeichnete, der wiederum häufig als alleiniger Autor angegeben wird. Ich glaube, es wäre stimulierend, den Einfluss von Sauzeau und dem pensiero della differenza, der Philosophie der Differenz, auf Boettis anhaltende Faszination für „Dualität“, Alterität und Pluralität erneut in Betracht zu ziehen; seine Verdopplung als Alighiero & Boetti und sein Fokus auf non-kanonische Alphabete und die Pausen der Sprache, etwa die Punkte und Kommata in Ononimo (1975), der Serie von Kugelschreiber-Arbeiten, die in mühevoller Kleinarbeit von anonymen Händen ausgeführt wurden.
1975 veröffentliche das italienische Magazin Data Sauzeaus tiefgehende Auseinandersetzung mit den Zusammenhängen zwischen amerikanischem Feminismus und der New Yorker Gegenwartskunst unter dem Titel L’altra creatività (Die andere Kreativität). Darin entwirft sie eine Chronik der Genese von Künstlerinnenkollektiven und frauenzentrierten Ausstellungen, deren Ausarbeitung sie laut eigener Aussagen den Treffen mit „Lucy R. Lippard und den Künstlerinnen Agnes Denes, Nancy Spero, Joyce Kozloff, Blythe Bohnen, May Stevens, Howardena Pindell“ verdankt. Ein Jahr später übersetzte Sauzeau Valerie Solanas’ SCUM-Manifesto ins Italienische (was die Kult-Prog-Rockband Area und sofort zu einem Hit anregte und dessen Bandleader Demetrio Stratos dazu, Auszüge aus der Eröffnung des Manifests vorzulesen) und verfasste einen absolut zeitgemäßen Artikel über „Italian Art Now“ (Italienische Kunst heute) für eine Spezialausgabe des Studio International. Der von kurzen individuellen Texten über Accardi, Iole de Freitas, La Rocca und Marisa Merz begleitete Text trug den Titel „Negative Capability as Practice in Women’s Art“ und begann mit einer Negation:
In Italien, wie auch überall sonst, verneinen viele Künstlerinnen das Konzept einer Frauenkunst. Sie fühlen sich entweder angegriffen oder eingeschüchtert von einer Hypothese, die einen bewussten Rückfall ins Gynaeceum zu implizieren scheint. Wenn das Wort „weiblich“/„feminin“ diesen Künstlerinnen Angst macht, liegt es daran, dass sie kein Vertrauen in die Möglichkeit haben, es mit einer Wirklichkeit zu füllen, die sich von der von Männern erfundenen metaphorischen Weiblichkeit unterscheidet. Sie sagen und sind überzeugt davon, dass Kunst gut oder schlecht sei, aber kein Geschlecht habe.
Trotzdem legte Sauzeau drei Hauptarbeitsbereiche fest: Erstens, „die Neuentdeckung und Erforschung des Körpers.“ Zweitens, ein Ansatz, der sich mit „der ererbten zweiten Natur der Frau auseinandersetzt: mit der Unterdrückung und Verneinung, die auch Selbstunterdrückung und Selbstverneinung impliziert. […] Frauenkunst nimmt manchmal auf dieser Pilgerfahrt der Wiederentdeckung und Verteidigung traditioneller Gesten ihren Anfang […], sobald ihre Tatsachen schaffende Funktion ausgedient hat und ihr Wert als Spur einer tiefen Intimität zwischen Körper und Geist wiederhergestellt worden ist.“ Drittens, der konzeptuelle Bereich, wo Veränderung stattfindet, wenn eine Frau „den Punkt erreicht, an dem ihre Fähigkeit zur Anwendung kommt, Lebensbereiche zu symbolisieren, die in der Geschichte so lange unausgesprochen (und abgeschirmt) blieben. In diesem Fall betritt sie den Doppelraum der INKONGRUENZ, und damit meine ich, dass sie immer noch anhand kultureller Kriterien der Avantgarde, formaler Qualitäten usw. gelesen und geschätzt werden kann, ABER auch durch ein anderes Raster: als ein Meilenstein einer FREMDEN Kultur.“ Schließlich fasste Sauzeau ihre These ganz klar zusammen:
Das eigentliche kreative Projekt der Frau als Subjekt setzt den VERRAT an den Ausdrucksmechanismen der Kultur voraus, um sich durch diesen Bruch in den Lücken zwischen den systematischen Räumen der künstlerischen Sprache selbst zum Ausdruck zu bringen. Das ist keine Frage der Anklage oder der Verteidigung, sondern der ÜBERSCHREITUNG.
Diese Überschreitung würde sowohl als Sprache als auch im Körper an sich Form annehmen. 1974 veröffentlichte eine andere wichtige Stimme dieser Zeit, Lea Vergine, in einer zweisprachigen Ausgabe unter dem Titel Body Art and Performance: The Body as Language die erste internationale Übersicht über Performance-Kunst. In ihrem einleitenden Essay analysierte Vergine in psychoanalytischen Begriffen den durch den neuen Trend ausgelösten Ausdrucksdrang und „das ungestillte Bedürfnis nach Liebe, das sich ohne zeitliche Begrenzung ausdehnt.“ Sie betonte auch, dass einige der beteiligten Künstlerinnen versuchten, „beim Herauskristallisieren von Geschlechterrollen eine Krise auszulösen“. Sie schrieb: „Wie wir wissen, gibt es ein gewisses Maß an anatomischem Hermaphroditismus in uns allen: Aber bei den meisten von uns hat das dominante Geschlecht die psychische Repräsentation des besiegten Geschlechts verdrängt.”
Carla Accardi, Triplice tenda (Dreifacher Vorhang, 1969–1971), Lack auf Sicofoil auf Plexiglasrahmen, 550 cm Durchmesser. Sammlung Centre Georges Pompidou, Paris
Das umfassende Fotobuch dokumentiert nicht nur La Roccas Werk, sondern, unter vielen anderen, auch Arbeiten von Urs Lüthi, Gina Pane, Joan Jonas, Gilbert & George, Dan Graham, Luigi Ontani, Rebecca Horn und Annette Messager. Interessanterweise erschien Body Art im selben Jahr wie Luce Irigarays Speculum of the Other Woman (1974), ein weiterer Meilenstein der feministischen Literatur, dessen erster Teil den schönen Titel „The Blind Spot of an Old Dream of Symmetry“ trägt.
Body Art war auch einer Zeit geschuldet, in der die italienische LGBT-Bewegung allmählich ihren Ausdruck fand. The Fuori!, Fronte Unitario Omosessuale Rivoluzionario Italiano, oder auch Unitary Italian Revolutionary Homosexual Front, deren Akronym „Raus!“ ergibt, wurde 1971 mit Gruppen in Mailand, Rom, Padua und Turin gegründet. In Elementi di critica omosessuale (1977), einem wegweisenden Werk italienischer Gender Studies, schrieb Mario Mieli, eine junge Führungsfigur innerhalb der Fuori!: „Der Begriff ‚Transsexualität‘ ist meiner Meinung nach am besten dazu geeignet, die vielfältigen Richtungen von Eros und auch den ursprünglichen und angeborenen Hermaphroditismus jedes Individuums auszudrücken.“ Und weiter: „Als ‚Transsexuelle‘ definiere ich alle Erwachsenen zusammen, die bewusst ihren eigenen Hermaphroditismus leben und in sich selbst, ihrem Körper und Geist, die Präsenz des ‚anderen‘ Geschlechts anerkennen.“
Tomaso Binga, Oggi spose (Just married, 1977), Schwarz-Weiß-Fotografien in Vintage-Rahmen, Diptychon, je 19 x 13 cm
1977 gab die Lyrikerin Bianca Pucciarelli, damals Ehefrau des einflussreichen Kunstkritikers Filiberto Menna, in der Galleria Campo D im Zentrum von Rom ihre die Gendergrenzen überschreitende Ehe zu Tomaso Binga bekannt, der seit 1971 ihr männliches Alter Ego und ihre künstlerische und literarische öffentliche Persona darstellte. Zwei kleine Schwarz-Weiß-Fotografien in altmodischen Rahmen hießen die Gäste willkommen: links das Bild der jungen Bianca, mit einem offenen Lächeln und ganz in Weiß auf ihrer tatsächlichen Hochzeit im Jahr 1959; und rechts ein älterer Tomaso mit Kurzhaarschnitt, eckiger Brille, dunklem Anzug und ernstem Blick, in der charakteristischen Pose eines arbeitenden Mannes in „seinem“ Büro. Während Vergine in Body Art De Sades Juliette heraufbeschwor, „die zweimal pro Tag heiraten möchte, erst als Frau gekleidet und beim zweiten Mal als Mann,“ verspottete Bingas Übung in Drag und Mimikry die Stereotypen von männlicher Überlegenheit ebenso sehr wie auch die Lyriklesungen, Installationen und Performances, die bis zum heutigen Tag unter dem Namen Binga stattfinden, die Rechte der Frau und ihren Zugang zur Rede sondierten.
Für die Installation Casa Malangone von 1976 kleidete Binga einige Zimmer eines Privathauses mit einer verschiedenfarbigen kitschigen Tapete aus und kritzelte sie mit geordneten Zeilen „entsemantisierter“ (so ihr Begriff) Schrift voll, wie stumme, in die häusliche Sphäre eingezwängte Worte. Zwischenzeitlich wurde ihre Performance Io sono una carta (Ich bin Papier), die sie 1977 in der Galleria d’Arte Moderna in Bologna inszenierte hatte, zu einem Tableau vivant aus drei tapezierten und mit unlesbaren Kalligrafien ausgeschmückten Wänden. Dazu trug die Künstlerin ein Kleid in Camouflage-Muster aus derselben Tapete, sodass sie mit dem Hintergrund verschmolz und unsichtbar wurde, sobald sie stillstand. Nachdem sie ein Gedicht laut rezitiert hatte, befreite sich Binga aus dem Kleid und ließ es auf einem Schaukelstuhl zurück. Das Gedicht lautete:
Io sono una carta velina
Io sono una carta piegata
Io sono una carta assorbente
Io sono una carta vetrata
Io sono una carta da parato
Io sono una carta da lettera
Da imballaggio
Sono una cartuccia
E va sparata
Bum.
Ich bin ein Seidenpapier
Ich bin ein gefaltetes Papier
Ich bin ein Löschpapier
Ich bin eine Tapete
Ich bin ein Schmirgelpapier
Ich bin ein Briefpapier
Braunes Packpapier
Ich bin eine Patrone
Die geschossen werden muss
Bumm.
Mit einem ironischen Bums hatte sie sich geoutet.
*
So, jetzt bin wohl ich dran, aus dem Hintergrund hervorzutreten und zu erklären, warum ich, wie Sally Schonfeldt, das Bedürfnis verspüre, zu diesen Stimmen zurückzukehren und sie heute, Jahrzehnte später, wieder „anzuwenden“. Diese Ära von feministischen Autorinnen und Künstlerinnen in Italien trug zu meinem Verständnis bei, wie man die Sprache des Unterdrückers, sozusagen, infrage stellen und sie gegen sich selbst wenden kann, indem man sie mit Misstrauen infiltriert. Ich habe diese ältere Generation italienischer Frauen und deren Ge- und Missbrauch sowie deren Misstrauen gegenüber der Sprache gebraucht, um einzusehen, dass das, was wir zensieren, verschweigen und aussprechen, immer noch konditioniert ist, und welche Narrative uns „gefallen“ sollen und welche wir selbst produzieren sollen, um zu gefallen. Außerdem erlaubten mir diese Autorinnen und Künstlerinnen, mir die feministische Erziehung wieder anzueignen, die ich als Mädchen von einer Mutter genossen hatte, die nicht besonders an die Macht von Worten und Abstraktionen glaubte. Und auch wenn ich einige Jahre brauchte, um zu verstehen, dass im Kern meines gegenwärtigen Puzzles, als Kunstautorin und -lehrende, die Frage nach der Sprache lag, kamen meine ersten Antworten vom Rande.
Tomaso Binga, Io sono io, io sono me (Ich bin ich, ich bin mich, 1977), Tinte auf Schwarz-Weiß-Fotografie, Diptychon, je 40 x 30 cm
Allerdings wäre ich auf viele dieser Geschichten, Arbeiten und Künstler(innen) nie gestoßen, wenn ich nicht von Lorenzo Giusti, dem Direktor des MAN Museo d’arte provincia di Nuoro, eingeladen worden wäre, mich mit Maria Lais Werk zu beschäftigen, die der Ausgangspunkt für so viele neue Verknüpfungen war und mir einen guten Grund lieferte, meine Notizen, Bücher und Bibliografien zum Thema Feminismus aufzufrischen. Ich begann diese Materialien in den 1990er Jahren in einer Art Selbststudium zu sammeln, als ich glückliche Stipendiatin des John D. Calandra Italian American Institute der City University New York (CUNY) wurde. Und eben auch in CUNYs Bibliothek begegnete ich zum ersten Mal Jean Rhys und ihrer essenziellen Verteidigung der verrückten Frau auf dem Dachboden in ihrem Roman Wide Sargasso Sea (1966, dt. Die weite Sargassosee, 2015), einmal mehr ein Datum, das in die Chronologien dieses Textes passt.
Lai war in Sardinien geboren und selbst Bildhauerin und hatte in Venedig bei Meister Arturo Martini, seines Zeichen Modernist (und Frauenhasser), studiert, bevor sie sich Mitte der 1950er Jahre in Rom niederließ, wo sie viele Jahre, still und nahezu heimlich, vor sich hin arbeitete. In den frühen 1970ern tauchte sie mit der Werkserie „Looms“ (Webstühle) wieder aus der Versenkung auf. Die Arbeiten bestanden aus umgedrehten Gemälden, bei denen sie die Rückseite des Rahmens als Webstuhl umfunktioniert und mit Fundstücken, Farben, Stroh und Faden durchzogen hatte. Im Jahr 1977 lernte Lai die Lyrikerin, Künstlerin und Kritikerin Mirella Bentivoglio kennen, die ihre in der Il Brandale Gallery in Savona ausgestellte Arbeit I pani (Brote, 1977) besprach. Die Arbeit zeigte kleine Skulpturen aus Brot, das nach alter sardischer Volkstradition gefertigt war und während einer stillen Performance als Geschenk an die Zuschauer verteilt wurde.
Maria Lai, Diario di sei giorni (Sechs-Tage-Tagebuch, 1979), Papier und Faden, 6 Seiten, je 30 x 20 cm
In diesen Jahren begann Lai auch Bücher und Leinwandgemälde zu schaffen, auf denen mit einer Nähmaschine Textzeilen „aufgeschrieben“ worden waren. Gewiss trifft das Motto „mit Worten zu sticken“ wunderbar auf ihre unlesbaren Scritture (Schriftstücke) zu, die eine Sprache voller Schweigen verkörpern, wie Emanuela De Cecco feststellte. Mein persönlicher Favorit ist eine Serie aus kleinen Leinwänden, die Lai mit der Vorderseite zur Wand installierte, sodass die Betrachter mit den Holzrahmen konfrontiert wurden und die eingenähten Texte nur von der Rückseite „lesen“ konnten, von der lange, verhedderte Fäden wie ungebändigte Haare herunterhingen. Der Titel der Arbeit, Autobiografia (Autobiografie, 1979–1982), ruft so viele Assoziationen hervor. Doch erst eine weitere Reihe von Textilarbeiten unter dem Titel Lavagne (Schultafeln, 1980) setzt sich mit Lais Erfahrungen als Gymnasiallehrerin und mit ihren eigenen Schwierigkeiten als Schülerin auseinander. Lai wurde als Neunjährige eingeschult und lernte erst in der zweiten Klasse fließend lesen und schreiben, was sie ihrem Lehrer und späteren Freund, dem Lyriker Salvatore Cambosu verdankte, der sie ermutigte, Gedichte vorzutragen. In den Lavagne-Arbeiten reproduziert Lai das streng strukturierte Schachbrettmuster der Schultafel, Schwarz auf Weiß, lässt aber die Linien schräg verlaufen, sich öffnen und sich in Unordnung und Unvollkommenheit vereinigen.
Lais künstlerischer Wendepunkt kam mit Legarsi alla montagna (Sich an einem Berg festbinden), einer kollektiven Aktion, die 1981 mit der Beteiligung ihres ganzen Dorfes, Ulassai, realisiert wurde. Von der Gemeinde beauftragt, ein Denkmal für die Kriegsopfer zu gestalten, beschloss sie, stattdessen eine Arbeit für die Lebenden zu schaffen: Sie knüpfte ihre Gemeinde aneinander, indem sie jeden davon überzeugte, ein blaues Band herzustellen, das in 26 Kilometer Länge von Haus zu Haus und über die Straßen verlief, bis es einem Kletterer anvertraut wurde, der es schließlich auf dem Gipfel eines Berges befestigte, der das Dorf überragt. Damit hatte Lai nicht nur eine überraschende soziale Plastik, sondern auch ein zeitgenössisches Ritual geschaffen, und eine Gelegenheit, die Gegenwart zu zelebrieren.
Lai war mit Filiberto Menna und Tomaso Binga befreundet, die sich 1982 an einem neuen von Lai organisierten Festival in Ulassai beteiligten, das mit einem abenteuerlichen „poetischen Striptease“ auf dem dörflichen Marktplatz endete. Und durch Bingas Stimme, die mir jenen Tag voller Performances weitab von allen Kunstzentren vergegenwärtigte, erfuhr ich von Lais Entschlossenheit, mithilfe einer poetischen Geste die „Kluft zu überbrücken“ und für einen Kontext, wo Italienisch kaum gesprochen wurde und Analphabetismus noch recht verbreitet war, eine für alle zugängliche Sprache zu finden. Legarsi alla montagna markierte den Beginn einer neuen Reihe von öffentlichen Aktionen, Performances und Workshops und Arbeiten, die Lai schließlich eine Stimme und ein beachtliches Maß an Sichtbarkeit in den größeren Zusammenhängen der zeitgenössischen Kunstwelt verschafften.
Maria Lai, Legarsi alla montagna (Sich an einen Berg binden, 1981–2013), Fotografien von Piero Berengo Gardin anlässlich von Legarsi alla montagna 1981, Intervention von Maria Lai mit blauem Stift 2003. MAN, Museo d’arte provincia di Nuoro
Bei meinen Recherchen über Lai stieß ich auch auf Materializzazione del linguaggio, den Katalog einer Ausstellung, zu dem ich immer und immer wieder zurückkehre. Als ein von Mirella Bentivoglio organisierter Beitrag zur Biennale di Venezia 1978 stellt er den krönenden Abschluss einer sieben Jahre andauernden, internationalen Untersuchung dar, die auf dem umstrittenen Terrain der „Getto-Ausstellung“ durchgeführt wurde, die ausschließlich Frauenkunst vorbehalten war. Die kurze englische Zusammenfassung erklärte: „Offensichtlich werden diese Probleme nicht nur von Frauen diskutiert, aber für Frauen sind sie doppelt begründet. Die neuen Formen der Lyrik sind die Wiederaneignung dessen, was sie, gemeinsam mit Männern, den Primärquellen der Existenz abgewonnen haben: durch die männliche Hemisphäre nach den Codes der Spaltung desinfiziert.“ Seite 7 listet Cathy Berberian, Mirella Bentivoglio, Tomaso Binga und Irma Blank auf. Auf Seite 29 sind Lais Volume Oggetto (filo) (1978) und La Rocca’s You, you (1973) Seite an Seite abgebildet. Auf der letzten Seite befindet sich unter den Performances, die für den Anlass angekündigt waren, auch eine von Giulia Niccolai.
Weder als Studentin der Kunstgeschichte war mir dieses Buch jemals untergekommen, noch später in meiner Forschung und Arbeit, was ich zutiefst bedaure. Das Buch dokumentiert und materialisiert, durch sich selbst, eine Sprache, die ich gerne früher schon erlernt hätte, um sie als Werkzeug zu verwenden und mit den Mainstream-Kunstgeschichten zu verweben, darauf zu reagieren, und sie – warum auch nicht – zu überschreiten. Als Sauzeau gebeten wurde, bei der Biennale in Venedig 1993 einen Raum als Hommage an Lonzi zu kuratieren (Lonzi starb 1982), reproduzierte sie ein Foto der Autorin in Lebensgröße, über die Schreibmaschine gebeugt, in den langen Wollsocken, die sie häufig zu Hause trug; das Foto wurde von Consagra im Winter 1967/68 in Minneapolis aufgenommen. Außerdem rekonstruierte Sauzeau Lonzis private Kunstsammlung, deren Werke häufig im Zusammenhang der Künstlertreffen während der Arbeit an Autoritratto entstanden waren. Irgendwie schien es mir, als ob Sauzeau Lonzi und ihren entschiedenen Rückzug aus dem öffentlichen Raum mit dieser Hommage verraten hätte, um Lonzis Vorreiterrolle als Kunstkritikerin neu zu etablieren. Nur einige Tage nach Sauzeaus Tod im September 2014 veröffentlichte das Magazin Arte e Critica unter dem Titel „Una presenza alle mie spalle“ (Eine Anwesenheit hinter meinem Rücken) einen langen Artikel über Lonzi, den Sauzeau im Sommer davor beendet hatte. Darin schreibt Sauzeau:
Nach ihren frühen Gedichten aus den Jahren 1958–1963 (erst posthum erschienen) suchte und fand Carla erst in der Kunstkritik eine Sprache und ihr eigenes Schreiben; diese besondere, polyphone, semiotische, körperliche, musikalische „Zunge“ in Symbiose mit ihren Künstlerfreunden. Meiner Meinung nach erlaubte sich Carla Lonzi nicht Schriftstellerin zu werden, […] sie bestrafte sich selbst und zwang sich selbst, ausschließlich ideologische Texte zu liefern beziehungsweise gemeinsam mit anderen weiblichen Händen zu unterschreiben. Ein ministerielles und militantes Schreiben.
Das war der perfekte Ratschlag, dachte ich, um die Angst davor zu bekämpfen, das Schweigen zu brechen: das der anderen und unseres. (Oder um Sauzeau noch einmal zu zitieren: „Das eigentliche kreative Projekt der Frau als Subjekt setzt den VERRAT an den Ausdrucksmechanismen der Kultur voraus, um sich durch diesen Bruch selbst zum Ausdruck zu bringen.“) Damit wir (paradoxerweise) den Mund halten und aufmachen können, müssen wir unsere Geschichte immer wieder neu schreiben und, ja, auch verraten.
Aus dem Englischen von Christine Richter-Nilsson
Maria Lai, Senza titolo (ohne Titel, 1979), Fotografie einer Intervention mit Metall in einem Erdbebengebiet. Mart, Museo di arte moderna e contemporanea di Trento e Rovereto
Elena Ferrante, Those Who Leave and Those Who Stay, übers. v. Ann Goldstein, New York: Europa Editions 2014, S. 77.
Vgl. Claire Fontaine, „We Are All Clitoridian Women: Notes on Carla Lonzi’s Legacy“. Online: http://www.e-flux.com/journal/we-are-all-clitoridian-women-notes-on-carla-lonzi’s-legacy/.
Insbesondere meine Forschung in Vorbereitung für die Essays „1966 e dintorni: Ragazze squillo, riot grrrls in evoluzione, poesia e ‚lingua mancata‘. Ketty La Rocca, Lucia Marcucci, Giulia Niccolai“, in: Ennesima: An Exhibition of Seven Exhibitions on Italian Art, Ausst.-Kat. La Triennale di Milano, Mailand: Mousse Publishing 2015; „The Imitation Game“, in: La Grande Madre, Ausst.-Kat. Palazzo Reale, Mailand: Fondazione Trussardi/Skira 2015; „Nuovi Alfabeti“, in: Shannon Ebner: Strike, Mailand: Mousse Publishing, 2015.
Julia Kristevas Einleitung zu Elisabetta Rasy, La lingua della nutrice: percorsi e tracce dell’espressione femminile, Rom: Edizioni delle donne 1978, S. 9.
Linda M. G. Zerilli, Feminism and the Abyss of Freedom, Chicago: University of Chicago Press 2005), S. 103.
Carla Lonzi, Autoritratto, Mailand: et al./Edizioni 2010.
Cesare Brandi, Theorie der Restaurierung (ICOMOS Hefte des Deutschen Nationalkomitees, Bd. 41), hrsg, übers. und komm. v. Ursula Schädler-Saub und Dörthe Jakobs, München 2006, S. 103–104.
Giorgio Manganellis Einführung zu Harry’s bar e altre poesie, Mailand: Feltrinelli 1981, S. 7–15.
Später als Ergänzung veröffentlicht in dem Magazin Tèchne, 5–6 (May 1970). „Ich ex-liebe dich“ ist eine Replik des Protagonisten in „Il Nuovo Mondo“ von Jean-Luc Godard, der zweiten Folge des Films Ro.Go.Pa.G. (Rossellini, Godard, Pasolini, Gregoretti, 1963).
Le presenze alfabetiche e lo spazio parlato, Palazzo dei Musei, Modena, 1970, kuratiert von Achille Bonito Oliva.
Leslie Cozzi, „Notes on the Index, Continued: Italian Feminism and the art of Mirella Bentivoglio and Ketty La Rocca“, in: Cahiers d’études italiennes, 16, 2013, S. 220.
Über La Roccas Verhältnis zur Fotografie, vgl. Raffaella Perna, „Ketty La Rocca e la fotografia“, in: Ketty La Rocca. Nuovi studi, hrsg. V. Francesca Gallo und Raffaella Perna, Mailand: Postmedia 2015; siehe auch: Raffaella Perna, Arte, fotografia e femminismo in Italia, Mailand: Postmedia 2013.
Lucilla Saccà, Ketty La Rocca. I suoi scritti, Turin: Martano Editore 2005), S. 96.
Ebd., S. 103.
„Discorsi: Carla Lonzi e Carla Accardi“, in: marcatré, 23–25, 1966, neu veröffentlicht in Carla Lonzi, Scritti sull’arte, Mailand: et al./Edizioni 2012, S. 477.
Giorgio Zanchetti, „Premessa e profezia. Crisi della creatività, crisi della critica e relazione secondo Carla Lonzi“, in: Anni ’70: l’arte dell’impegno, hrsg. v. Cristina Casero und Elena Di Raddo, Mailand: Silvana Editoriale 2009, S. 41–43.
Die Arbeit wurde von Accardi anlässlich einer späteren Ausstellung 2007 überarbeitet und enthielt auch Fotos von ihr selbst.
Nach Boettis Tod im Jahr 1994 brachte Sauzeau Alighiero e Boetti: Shaman/Showman, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 2004 heraus, meine absolute Lieblings-Künstlerbiografie.
Carla Subrizi, Azioni che cambiano il mondo, Mailand: Postmedia Books 2012, S. 15.
Erst später, mit der Neuauflage, wurde der Artikel ein kleiner Klassiker. Nachdruck in: Framing Feminism, Art and the Women’s Movement 1970–1985, hrsg. v. Rozsika Parker und Griselda Pollock, London: Pandora Press 1987. Kürzlich verwendete Cornelia Butler den Text als Ausgangspunkt einer Untersuchung und machte ihn damit erneut sichtbar. Vgl. Cornelia Butler, „The Feminist Present: Women Artists at MoMA“, in: Modern Women, hrsg. v. Cornelia Butler und Alexandra Schwartz, New York: The Museum of Modern Art 2010, S. 13–27, S. 13.
Lea Vergine, Il corpo come linguaggio (La “Body-art” e storie simili), Mailand: Giampaolo Prearo Editore 1974, S. 29. Im Jahr 1980 kuratierte Vergine L’altra metà dell’avanguardia. 1910–1940, eine Befragung von hundert Künstlerinnen der Avantgarden, die am Palazzo Reale in Mailand, am Palazzo delle Esposizioni in Rom und am Kulturhuset in Stockholm durchgeführt wurde.
Mario Mieli, Elementi di critica omosessuale, Mailand: Feltrinelli 1977, S. 14–15. Englische Übersetzung unter dem Titel Homosexuality and Liberation: Elements of a Gay Critique, London: Gay Men’s Press 1980.
Vergine, Il corpo come linguaggio, S. 29.
Martina Corgnati, Artiste, Mailand: Paravia Bruno Mondadori 2004, S. 295.
Vgl. Marta Serravalli, Arte e femminismo a Roma negli anni Settanta, Rom: Regione Toscana, Società Italiana delle Storiche, Collana del Premio Franca Pieroni Bortolotti 2013, S. 82.
Wir ko-kuratierten die Ausstellung Maria Lai. Ricucire il mondo. Dagli anni Ottanta al Duemila am MAN Museo d’arte della Provincia di Nuoro im Sommer 2014.
Emanuela De Cecco, Maria Lai. Da vicino, vicinissimo ..., Mailand: Postmedia 2015.
Mirella Bentivoglio (Hrsg.), Materializzazione del linguaggio, Biennale di Venezia, Magazzini del Sale alle Zattere 1978.
Annemarie Sauzeau, „Carla Lonzi. Una presenza alle mie spalle“, in: Arte e Critica. Online: http://www.arteecritica.it/onsite/ANNE%20MARIE%20SAUZEAU-VERSO%20CARLA%20LONZI%20E%20RITORNO.html.