Man hat gesagt, wir lebten in „folgenreichen Zeiten“1 – in Zeiten also, die von tiefgreifender Bedeutung für die gelebte Geschichte der Menschheit sind. Diese Wendung leihe ich mir von einem kuratorischen Projekt mit gleichlautendem Titel, das im Jahr 2013 in Nordirland realisiert wurde. Es erinnerte an den „Dublin Lockout“ im frühen 20. Jahrhundert und sollte den Arbeitskampf als ein zusammenhängendes Ganzes betrachten, das sich von 1913 bis 2013 und dann weiter bis ins Jahr 2113 erstreckte. Das Narrativ, das die Kuratoren entwickelt hatten, behauptete demnach keineswegs, dass unsere folgenreichen Zeiten einem singulären Ereignis entsprungen seien, sondern legte nahe, dass sie durch die Geschichte des Kapitalismus mit seinen seriell und wiederholt stattfindenden Konfrontationen mit der Arbeiterschaft entstanden seien; und auf diese Weise wurde eine Geschichte der Kunst im Zusammenhang mit diesen Arbeitskämpfen legitimiert. Zwei wichtige Aspekte sollten hierbei in den Blick genommen werden. Erstens: Die Substitution einer Chronologie der Kunst (was man in der Kunstgeschichte Periodisierung nennt) durch eine Chronologie gesellschaftlicher Kämpfe weist darauf hin, dass sich die von Claire Bishop im Jahr 2006 entwickelte Formulierung2 des social turn in der Kunst eben nicht nur auf eine spezielle Art und Weise der Kunstproduktion bezieht, sondern auf einen breiter wirksamen Schwerpunktwechsel im Feld der Kunst insgesamt. Zweitens: Für die so vorgeschlagene Geschichte ist kein Ende abzusehen. Das Narrativ der irischen Kuratoren stellte eine weit entfernte Zukunft – das Jahr 2113 – vor, in der derlei Kämpfe weiterhin ausgefochten würden, und bekräftigte damit die Ansicht, dass man sich in unseren folgenreichen Zeiten kein Ende des Kapitalismus vorstellen könne, das nicht einem Weltuntergang gleichkäme.3
Geht man davon aus, dass es sich bei diesem speziellen kuratorischen Projekt bloß um eines auf der langen und immer länger werdenden Liste länderübergreifender Ausstellungen, Diskursplattformen, Workshops und Kunstwerke handelt, die sich seit Mitte der 1990er Jahre und inmitten von Bezugnahmen auf die Globalisierung mit der Kritik von Arbeit, Produktion, Klasse und dem Kapitalismus in seiner Gesamtheit auseinandersetzen, dann erscheint das so gewonnene große Bild als ein widersprüchliches.4 Ganz besonders dann, wenn wir uns den Umstand vergegenwärtigen, dass die Auseinandersetzungen der zeitgenössischen Kunst mit der Ökonomie parallel zu den omnipräsenten Bezugnahmen auf die Wirtschaft in anderen Kontexten verlaufen, wobei man in letzter Zeit beinahe allem – sei es Liebe, Angst, Subjektivität, Migration, Klimawandel oder Selbstmord – mittels ökonomischer Begrifflichkeiten beizukommen versucht. Was man früher als ökonomischen Reduktionismus begriff und verurteilte, ist heute das maßgebliche Merkmal eines vielschichtigen, tagtäglich stattfindenden Diskurses, der sich gleichwohl nicht einheitlich gegen das Kapital stellt oder ausschließlich subversiv geführt wird. Und dennoch: Obwohl es zutrifft, dass die Wirtschaft nicht länger bloß Wirtschaft ist; dass eine ganze Reihe von Diskursen, von der Medizinwissenschaft bis hin zur Kunsttheorie, die Ökonomiediskussion als den Hauptvermittler gesellschaftlicher Verhältnisse betrachtet; dass sich dies einem immer breiter werdenden Abgrund zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen verdankt; dass die Vergesellschaftung von Schulden im Dienste der Privatisierung von Profiten Methode geworden ist – trotz alledem ist der echte Massenwiderstand gegen die Fortpflanzung des Kapitalismus bislang noch immer ausgeblieben. Es stellt sich die Frage, warum das so ist.
Louis Althussers Theorie der Ideologie und der Verteilung dieser Ideologie durch eine Reihe von „Apparaten“ bleibt eine plausible Antwort.5 Seine Sicht der Ideologie als (Bild-)Schirm, der notwendigerweise die rohen gesellschaftlichen Verhältnisse filtert, während der unmittelbare Zugang zu ihnen den Realitätssinn auflösen würde, sorgt jedoch seit Jahrzehnten für Kontroversen (auch innerhalb des Marxismus), vor allem deshalb, weil hier eine Negierung der Möglichkeit individueller oder kollektiver Akteure impliziert wird. Der Status eines Akteurs setzt selbstverständlich Bewusstsein voraus – was ja auch Formulierungen wie „ein Bewusstsein entwickeln“ (im Feminismus etwa) oder „falsches Bewusstsein“ (im Marxismus) nahelegen. Ungeachtet dessen aber ist der Ausgangspunkt für die Überlegungen, die hier nun folgen sollen, die Annahme, dass die Aufmerksamkeit, die wir derzeit der Ökonomie schenken, Ausdruck eines immer schon historischen „politischen Unbewussten“ ist, wie es Fredric Jameson postuliert, und nicht eines vollständig entwickelten politischen Bewusstseins, das gesellschaftliche Bewegungen traditionell zu befördern trachten.6 Das bedeutet: Obwohl die materiellen Umstände Sensibilität erzeugen, gibt es beträchtliche Blockaden, die den Übergang von der Sensibilisierung zum Status als Akteur erschweren. Statt diese Übergänge zu vollziehen, bleiben wir in einer Lücke stecken. Hier wird nun eine zweite Annahme möglich. Diese Lücke – zwischen dem politischen Unbewussten, das einen ökonomischen Reduktionismus generiert, und dem politischen Bewusstsein, das eine massenweise unbeugsame, vom Volk ausgehende Opposition herauszubilden vermöchte – hängt eng damit zusammen, wie Demokratie verwirklicht wird, und weniger damit, inwieweit sie unvollendet bleibt, wie es im Rahmen der documenta 11 vor etwa dreizehn Jahren diskutiert wurde.7
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Der Operationsradius überstaatlicher Körperschaften, welche die Kapitalflüsse (zu denen auch das Humankapital gehört) regulieren, beweist, dass in der unzweideutigen Wirklichkeit der „folgenreichen Zeiten“, in denen wir leben, der Kapitalismus ganz offen, institutionell und administrativ global geworden ist. Schon vor fünfzehn Jahren als „Empire“8 beschrieben, hat der globale Kapitalismus sich alle „frei flottierenden“, „unbereinigten“ und „unabgeschlossenen“ postmodernen Bruchstücke der 1970er und 1980er Jahre einverleibt und sie in eine einzige bedeutungstragende, ungleichmäßige und bislang noch nicht kartierte Totalität verwandelt. Diese Totalität bleibt ein dunkler Kontinent, weil sie ihrerseits dem „Mysterium des Kapitals“ entspringt.9 Und trotz der Allgegenwart des Begriffs „Globalisierung“ seit den 1990er Jahren, sogar noch vor seiner Fassung als Empire, sind die Punkte, aus denen sich dann ein Narrativ ergeben soll, immer noch nicht zur Gänze miteinander verbunden. 2008 brachte der Kapitalismus dann ein cleveres politisches Manöver zustande und erklärte seine eigene Krise. Der Kapitalismus brauchte Hilfe. Über Nacht war plötzlich nichts mehr normal. Das Verständnis seiner Normalität musste vertagt werden, da es nun erst einmal galt, die Krise zu verstehen und die Welt, so wie wir sie kennen, zu retten, da sich historische Subjekte, die vom Kapital beherrscht werden, keine andere vorstellen können. Man ließ daher das Projekt, die Punkte zu verbinden, fallen. Der Teufel hatte der Welt, oder zumindest großen Gruppen der Weltbevölkerung, weisgemacht, dass er nicht existierte. Nur die Krise existierte, und die musste um jeden Preis und mit allen Mitteln gemeistert werden.
Am Ende brachte man sogar das Konzept des Opfers ins Spiel. In Anspielung auf die damit assoziierte Vorstellung von den braven Bürgern, die ihr Land auf dem Schlachtfeld verteidigen, wurde es diesen Bürgern nun schmackhaft gemacht, in der „Epoche neoliberalistischer Austeritätspolitik“ Opfer zu bringen, was, wie die Polittheoretikerin Wendy Brown festgestellt hat, sich „deutlich von dem Diskurs, der die Ökonomie des ,Durchsickerns‘ der 1980er Jahre begleitete“,10 unterschied, der die Hegemonie des Postmodernismus gestützt hatte. Kurz gesagt: Die „Krise“ des Kapitalismus lenkte die Aufmerksamkeit von der „Normalität“ des Kapitalismus ab. Will man also die Punkte weiterhin verbinden, dann ist es zuallererst wesentlich und wichtig, damit aufzuhören, den gegenwärtigen Zustand der politischen Unzufriedenheit als Moment der Krise zu betrachten – das heißt als ernste, aber nichtsdestotrotz zeitlich nur begrenzte Erschütterung des ansonsten akzeptierten und akzeptablen Gangs der Dinge oder eines brauchbaren Gesellschaftsvertrags, den man aus der Asche heben würde, nachdem man den Schutt weggeräumt hätte, der durch die Erschütterungen der Austerität entstände. Einem solchen Diskurs zufolge ist es die Unterbrechung der Normalität des Kapitalismus wie die außerordentliche Artikulation als Krise, was unsere Zeiten zu „folgenreichen“ macht. Indem er also ökonomische und politische Gebote vermischt, führt ein solcher „Schuld ist die Krise!“-Diskurs grundsätzlich in die falsche Richtung; und doch ist gerade er es, der das Wahlverhalten der Menschen in den heutigen demokratischen Gesellschaften bestimmt.