Editorial
This is waste wilderness.
— Susan Howe
I.
„Kunst ist kein Hobby – sie ist der Grund, warum wir jeden Morgen aufwachen.“ So erklärte der Künstler Naeem Mohaiemen vor Kurzem den Betreuern seiner Dissertation, warum er ein Jahr Auszeit nehmen und zwei Filme für die documenta 14 fertigstellen wollte. Die Professoren trauten ihren Ohren nicht und seufzten.
Während wir im Oktober 2016 diese dritte Ausgabe von South as a State of Mind fertigstellten, manifestierte sich die documenta 14 weiter in den beiden gastgebenden Städten Athen und Kassel. Aber was ist diese documenta? Was ist diese Ausstellung, in der – sehr zur Beunruhigung einiger, die etwas zu sehen einfordern, und zwar jetzt – noch immer nichts ausgestellt wurde? Seit das Projekt der documenta 14 vor zwei Jahren erste Formen annahm, ist viel geschehen. Wir haben im Zuge unserer Arbeit ein umfangreiches und historisch fundiertes, kritisches, theoretisches und künstlerisches Vokabular angesammelt. Damit können wir nun die abgenutzte, politisch und ästhetisch so kompromittierende wie kompromittierte Begrifflichkeit der Large International Exhibition (LIE) hinterfragen und uns dieses Formats irgendwann vielleicht ganz entledigen. Und anstatt andauernd zu erklären, dass die documenta 14 nicht nur eine weitere Readymade-Biennale, -Triennale, -Quadrenniale oder selbst -Quinquenniale ist (obwohl die documenta tatsächlich seit den 1970er Jahren in einem vorhersehbaren Fünfjahresrhythmus in Kassel stattfindet), richten wir unsere Aufmerksamkeit lieber auf Sprachen – fast ausgestorbene oder vergessene, unterdrückte oder aus dem Nichts erschaffene. Denn diese werden dem, worum es hier geht und was wir einlösen wollen, viel besser gerecht als das hinlänglich bekannte Vokabular der Kunst-Events, Spektakel, LIEs und anderen Warenformen. Zu unserem eigenen Erstaunen und mit großer Freude haben wir festgestellt, dass andere Herangehensweisen durchaus möglich sind. Von diesem Raum der Möglichkeiten in der Unterwelt der Oberwelt aus erarbeiten wir die documenta 14: Künstler_innen, Autor_innen, Kurator_innen, Redakteur_innen und all jene, die sich in verschiedenen Rollen und auf die eine oder andere Art an dem Unternehmen beteiligen und deren Namen Sie in dieser Ausgabe finden.
Die Begriffe, die wir uns hierfür genauer angesehen und als brauchbare Werkzeuge erkannt haben, stammen aus einem Fundus vielfältiger Traditionen und Widerstände – es sind Methodologien und Techniken des Selbst (oder seiner Aufgabe), mit deren Hilfe wir die Gegenwart anders denken und somit auch verändern können. Beispielsweise haben wir uns mit dem Werk der italienischen Künstlerin und politischen Aktivistin Tina Modotti (1896–1942) befasst, insbesondere mit einer Fotoserie, in der Modotti das Wirken des indischen Revolutionärs und Agronomen Pandurang Khankoje (1886–1967) dokumentierte, der im Mexiko der 1920er und 1930er Jahre neue Methoden der Maiszucht lehrte und mehrere freie, kooperative Landwirtschaftsschulen und Farmen gründete.
Entscheidend in der Vorbereitung der öffentlichen und pädagogischen Programme der documenta 14 waren antiautoritäre, disziplinenübergreifende Ansätze. Ein gutes Beispiel dafür ist der polnische Architekt, Stadtplaner, Künstler und Lehrer Oskar Hansen (1922–2005). Sein Arbeitsweise der „offenen Form“ eröffnete einen Weg, in dialektischer Auseinandersetzung mit der menschlichen und nichtmenschlichen Umwelt Kunst zu machen und Häuser zu bauen. Darüber hinaus ist die offene Form eine Übung zum Überwinden der eigenen Subjektivität in der Bezugnahme auf andere. Bei unseren Recherchen sind wir auch auf das mächtige Werk – mächtig, wie es nur die vermeintlich Ohnmächtigen hervorbringen können – des brasilianischen Theatermachers Augusto Boal (1931–2009) zurückgekommen, unter anderem auf sein Theater der Unterdrückten und seine Vorschläge zur Entschulung der Gesellschaft. Viel gelesen und gelernt haben wir außerdem vom mexikanischen Dichter und Künstler Ulises Carrión (1941–1989): über Strategien des Umgehens und Auslassens, über die Bedeutung des „guten Benehmens“ beim kritischen Einsatz von „Geschwätz und Skandal“ und über poetische Strenge als ein Mittel zur Entfremdung des Vertrauten.
Ein Roman, ob von einem genialen Schriftsteller oder einem drittklassigen Autor geschrieben, ist ein Buch, in dem nichts passiert.
Es gab und wird immer Leute geben, die gerne Romane lesen. es wird aber auch immer Leute geben, die gerne Schach spielen, schwätzen, Mambo tanzen oder Erdbeeren mit Schlagsahne essen.
Im Vergleich zu Romanen, in denen gar nichts passiert, passiert in Gedichtbänden manchmal etwas, wenngleich nur wenig.
„Nur wenig“ ist genau die Zeit und der Raum, die uns gegeben sind, die Zeit der documenta 14, die nicht zuletzt, wenn nicht zuallererst, mit dieser Zeitschrift begonnen hat. Denn South as a State of Mind ist nicht nur für „Leute, die gerne Romane lesen“, sondern für alle und für jeden. Wie Carrión schreibt:
In der neuen Kunst liebt man niemanden.
Die herkömmliche Kunst beansprucht für sich zu lieben.
In der Kunst kann man niemanden lieben. Nur im wirklichen Leben kann man jemanden lieben.Nicht daß es der neuen Kunst an Leidenschaften mangelt.
All ihr Blut fließt aus der Wunde, die die Sprache den Menschen zugefügt hat.
Und es ist ebenso die Freude daran, fähig zu sein, etwas mit allem, mit jedem, mit fast nichts, mit nichts auszudrücken.
Mit fast nichts, mit nichts haben wir uns entschieden, in dieser Ausgabe „die Wunde, die die Sprache den Menschen zugefügt hat“ genauer anzusehen. Diese Wunde beschäftigte uns beim Schreiben und Lesen (was nur zwei Arten des Herstellens von Food for Thought sind, wie Rasheed Araeen das in seinem Projekt für die documenta 14 auf den Punkt bringt). Die Gegenwart dieser Wunde im Leben der Leute ist das, worum es in der documenta 14 eigentlich geht. Immer wieder mussten wir an diese Sprache als Wunde denken, auch als wir vor Kurzem in Norwegen die zweite Ausgabe von South as a State of Mind vorstellten. Wir zeigten und sahen aus diesem Anlass Susan Hillers neuen Film Lost and Found (2016). Er handelt von der „unerkannten, unheimlichen Geisterhaftigkeit des aufgezeichneten Tons“, der, wie Hiller sagt, „nicht zwischen den Stimmen längst Verstorbener und noch Lebender unterscheidet“. Die Stimmen, zerbrechliche Denkmäler für Völker, Kulturen und Sprachen am Rand der gänzlichen Ausrottung, hüllten uns in ihre merkwürdige, zugleich stoffliche und spukhafte Gegenwart.
Die Sprache als Wunde, als sture und undurchsichtige Präsenz, war auch Thema der ersten von 34 Freiheitsübungen, mit denen im September 2016 das Parlament der Körper der documenta 14 im Athener Parko Eleftherias (Freiheitspark) eröffnete. Der spanische Künstler und Aktivist Daniel García Andújar stellte ein kleines, eigens für den Anlass geschaffenes Buch vor. Es schließt an die Hermeneutik des Verdachts an, die Victor Klemperer in seinem Buch LTI – Lingua Tertii Imperii: Notizbuch eines Philologen (1947) kunstvoll betrieben hat, um die Sprache des Naziregimes in der Zeit ihres Aufkommens und nach ihrem Sturz zu verstehen und unschädlich zu machen. Andújar entwickelte seine eigene LTI – Lingua Tertii Imperii (2016), um den Knoten aus Sprache, Bildern und Architekturpolitik unter der griechischen Militärdiktatur (1967–1974) zu lösen. In der Einleitung zu seinem Buch schreibt er: „Sprache ist nie unschuldig. Architektur ist nie unschuldig. Bilder sind nie unschuldig. Sie führen ganz offen einen Nahkampf mit der Geschichte.“ Und weiter: „Nimm Diogenes’ Lampe und geh am helllichten Tag durch den Park auf die Suche nach einer ehrlichen Sprache.“
Diogenes’ Spaziergang mit einer Lampe bei Tag, auf der Suche nach einem ehrlichen Menschen (oder, wie Andújar abwandelt, einer ehrlichen Sprache) begegnet uns auch in der Lehre und in den Texten von Lucius Burckhardt (1925–2003), einem Schweizer Landschaftstheoretiker und kritischen Stadtplaner, dessen Aquarellmalerei die eigene Reflexion über die menschengemachte Umwelt und die künstliche (also: jegliche) Landschaft begleitete. Burckhardt unterrichtete von 1973 bis 1997 an der Universität Kassel nach den Grundätzen der von ihm selbst erfundenen „Spaziergangswissenschaft“, einer aktiv eingreifenden und peripatetischen Philologie unserer Umwelt und unserer Zeit. Er arbeitete eng zusammen mit der Künstlerin und Autorin Annemarie Buckhardt (1930–2012), seiner Ehefrau, deren Werk Der falsche documenta-Katalog von 1991 – ein Buch in der Form eines Kissens, beziehungsweise ein Kissen in Buchform – die Anwälte der documenta gänzlich humorlos aus dem Verkehr ziehen ließen. Gemeinsam sind Annemarie und Lucius Burckhardt für die documenta 14 auch heute noch eine Inspiration.
Im Januar 1970 notierte der griechische Komponist Mikis Theodorakis in seinen Tagebüchern des Widerstands: „Der Komponist Jani Christou kam bei einem Unfall ums Leben. Die Nachricht erschüttert mich. Ein blinder, irrer Tod.“ Christous Partitur für Epicyle (1968) führt als Strukturprinzip das Kontinuum ein, das unterschiedliche Mitwirkende eines Stücks über einen gewissen Zeitverlauf einbezieht. Im März und April 2016 fanden im Prevelakis-Saal der Hochschule für Bildende Künste Athen die ersten Arbeitstreffen mit den zur Teilnahme an der documenta 14 eingeladenen Künstler_innen statt. In halböffentlichen Sitzungen auf dem Campus der Nationalen Technischen Universität Athen arbeitete das Team der documenta 14 mit den Künstlern an deren Projekten. Es gab auch Präsentationen zum Stand der Arbeiten in Form mündlicher Vorträge und Darbietungen vor Studierenden und Lehrern der Fakultät. Und der gesamte Prozess lief nach Christous Regeln für das Kontinuum im Sinne einer orchestrierten Improvisation ab.
Diese und andere Persönlichkeiten führen uns im Zuge der Arbeit an der documenta 14 komplexe und disparate Seinsweisen vor Augen. Mit ihrer Hilfe finden wir uns in der Dunkelheit und Verworrenheit der Erfahrungen, auf die wir uns stolpernd, umherirrend, tastend einlassen, besser zurecht.
II.
Im August 2016 reisten wir in den Norden Norwegens, um vor dem Parlament der Samen South as a State of Mind vorzustellen. Die Dichterin und Künstlerin Synnøve Persen führte uns durch das kleine Haus in dem winzigen Dorf Máze, in dem sie mit anderen Aktivist_innen und Künstler_innen der Sámi Artist Group von 1978 bis 1983 lebte und durch ihren politischen Kampf Berühmtheit erlangte. In einem der engen Ateliers im Untergeschoss füllte ein schmaler Stapel Bücher ein staubiges Regal. Ein Buchrücken stach daraus mit schwarzen Lettern hervor: Dam a River, Damn a People? („Einen Fluss stauen, ein Volk verdammen?“). Übervorsichtig zogen wir den dünnen Band heraus (auch das eine Art Antwort). Der Einband zeigte das verblasste Schwarz-Weiß-Foto eines samischen Rentierhirten beim Einfangen der Rentierbullen mit dem Lasso vor dem Frühjahrsauftrieb. Autor des Buchs war Robert Paine, und sein Untertitel lautete: Saami (Lapp) Livelihood and the Alta/Kautokeino Hydro-electric Project and the Norwegian Parliament. Das schlanke Buch mit dem kämpferischen Titel hatte die International Work Group for Indigenous Affairs (IWGIA) im Jahr 1982 als Rundbrief verschickt.
Etwa um dieselbe Zeit, als Persen und ihre Künstlerkollegen Ende der 1970er Jahre in Máze ankamen, um hier eine Kunst der Samen zu schaffen und nach Art der Samen auf uraltem Land der Samen zu leben, beschloss die Regierung Norwegens, den nahe gelegenen Fluss Alta zu stauen. Die Talsperre hätte die gesamte Region überflutet, einschließlich samischer Dörfer und Siedlungen und des Landes, das die Samen für ihre Rentierherden und damit für alles, was ihre Lebensweise ausmacht, benötigen. Das Staudammvorhaben machte aus samischen Künstlern samische Aktivisten: Es kam zu großen Demonstrationen gegen den Bau und, auf deren Höhepunkt im Jahr 1979, zu einem Hungerstreit vor dem norwegischen Parlament in Oslo. Dieser politische Moment und die Ereignisse, die ihm vorausgegangen waren, verbanden erstmals samische Aktivisten und norwegische Umweltschützer und gaben beiden Auftrieb. Obwohl das Wasserkraftwerk am Fluss Alta tatsächlich gebaut wurde, wenn auch in viel kleineren Dimensionen als geplant, mündete das politische Erwachen der Sami direkt in der Gründung des Samenparlaments in Kárášjohka ein Jahrzehnt später, sanktioniert durch den König von Norwegen.
Damals wie heute, in der Arktis wie überall, war die Ausbeutung der Umwelt eng mit kolonialer Gewalt, Unterdrückung, Vertreibung und Enteignung der indigenen Völker verbunden. „Daraus kann man etwas lernen“, schreibt Linda Hogan, eine Autorin aus dem nordamerikanischen Volk der Chickasaw: „Was den Menschen geschieht und was dem Land geschieht, ist ein und dasselbe“. In der neokolonialen, neoliberalen Gegenwart setzt der globale Kapitalismus sein (gleichermaßen gegen Land und Menschen gerichtetes) Werk der Gewalt, das mit dem langen 16. Jahrhundert des Kolonialismus begann, im Wesentlichen ungemindert fort. Immer noch und immer schon ist die kapitalistische Produktionsweise auf billige oder kostenlose Arbeitskraft – bereitgestellt durch Machtgefälle der Klasse, der Ethnie und des Geschlechts – und auf ökologische Gewalt angewiesen.
Während dem Neoliberalismus, Imperialismus und Kolonialismus, der westlichen Expansion, Ressourcenausbeutung und Umweltzerstörung so gut wie immer Gewalt gegen indigene Völker vorausging (die selbst oft keine klare Grenze zwischen sich selbst und dem Land ziehen, auf und von dem sie leben), haben sich die Umweltbewegungen umgekehrt ebendiese Völker zum Vorbild genommen. Oft verbindet ihr Engagement und vorausschauendes Handeln soziale mit ökologischer Gerechtigkeit. Ein Beispiel dafür ist der erwähnte Widerstand der Samen gegen ein geplantes Wasserkraftwerk, ein anderes das riesige Zeltlager der Standing-Rock-Sioux in ihrem Reservat in North Dakota, mit dem sie zurzeit gegen den Bau der Dakota Access-Pipeline protestieren. Diese Leitung würde unter ihrem Land verlaufen, uralte Gräberfelder zerstören und ihre Trinkwasserreserve gefährden. Bei LaDonna Brave Bull Allard (einer Nachfahrin von Mary Big Moccasin, die das Whitestone-Massaker in North Dakota von 1863 überlebte) klingt der Titel der IWGIA-Publikation von 1982 nach: „Wir sind der Fluss, und der Fluss ist wir.“ Hunderte Volksstämme und Umweltinitiativen widersetzen sich in der Protestbewegung von Standing Rock gemeinsam diesem weiteren Gewaltakt in einer auf Gewalttaten begründeten Nation. Dieser Widerstand ist in seinem Kern ebenso ökologisch wie antikolonial.
„Waren Auschwitz und Hiroshima Manifestationen genozidaler Tendenzen, die sich in der Logik der Moderne entwickeln, dann steht der ökozidale Charakter des globalen sozialen Prozesses heute ebenso außer Zweifel“, schreibt Gene Ray in seinem Beitrag zum „Ökozid-Genozid-Komplex“ in dieser Ausgabe. Rays sorgfältiges, feinfühliges Durchdenken des Verhältnisses zwischen ökologischem und kolonialem Genozid und seine Erweiterung und Vertiefung des theoretischen Diskurses durch das indigene Wissen kommt auf so schlichte wie poetische Art unseren inhaltlichen Leitlinien bei der Redaktion dieses Bandes von South as a State of Mind entgegen, nämlich dem Versuch, Natur, Kapital, Macht und Sprache konsequent zusammenzudenken.
Zwar ist auf den Gebieten der zeitgenössischen Kunst und der politischen Theorie in den letzten Jahren durchaus ein Bewusstsein für das aufgekommen, was mit dem Begriff „Anthropozän“ lose umschrieben wird. Doch auch dieser Begriff ist nicht frei von imperialistischen blinden Flecken und Unzulänglichkeiten (auch dies eine Art von Gewalt). Wie Nabil Ahmed in seinem Aufsatz zur politischen Geologie in dieser Ausgabe schreibt: „Zu den epistemologischen Trugschlüssen – und Gefahren – des Anthropozän-Konzepts gehört, dass es den Menschen als Abstraktum behandelt, indem es die menschliche Tätigkeit zu einem geologischen Faktor macht; Donna Haraway würde dies als Beispiel für den ‚Gottestrick‘ bezeichnen. Der aus Kamerun stammende Philosoph und Historiker Achille Mbembe definiert einen ‚negativen Moment‘ als den Zeitpunkt, an dem ‚neue Antagonismen auftauchen, obwohl die alten noch nicht beseitigt sind‘. Heute steht die ökologische Krise, die sich vor dem Hintergrund der noch bestehenden, dunklen Paarung von Kapitalismus und Kolonialismus entfaltet, paradigmatisch für einen solchen negativen Moment.“
Und es ist diese „dunkle Paarung“, auf das wir unser Hauptaugenmerk legen. Der Inhalt dieser Ausgabe von South ist Ausdruck einer Sprache oder eines Hungers oder beider zugleich. Warum „Sprache oder Hunger“? Betrachten wir den Mund als eine Grenze, eine Schwelle: Schlucken oder Sprechen. Leere oder Sprache. Auf der einen Seite, innen, spürt man körperlichen Hunger, eine Leere; auf der anderen Seite, außen, stößt man Sprache aus (vielleicht in eine andere Leere). Erinnern wir uns an diese Zeilen aus dem Buch Hesekiel. „Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, iß, was du vor dir hast! Iß diese Schriftrolle und gehe hin und rede zum Hause Israel! Da tat ich meinen Mund auf, und er gab mir die Rolle zu essen.“ Im Psalter werden die Worte Gottes „süßer als Honig“ genannt: „Sie sind köstlicher als Gold und viel feines Gold. Sie sind süßer als Honig und Honigseim.“
Also kann Sprache – da man mit ihr geboren wird, oder sie wiederfindet, oder eine neue schafft, eine Art Lexikon – ein Nährmittel sein, Hunger dagegen eine Art von Widerstand: der Hungerstreik zum Beispiel, den so viele aus politischen Gründen verfolgte Menschen beginnen: die Samen in Oslo 1979, die irischen Hungerstreiker 1980 und 1981, der Manipuri-Dichter und Aktivist Irom Chanu Sharmila, dessen langer Hungerstreik von 2000 bis 2016 gegen den indischen Armed Forces (Special Powers) Act gerichtet ist, oder Chelsea Mannings jüngster Hungerstreik in einem amerikanischen Gefängnis, mit dem sie eine geschlechtsangleichende Operation durchsetzte. Die Liste ist endlos.
Vergessen wir auch nicht, dass bei der kolonialen Gewalt zwei bestimmte Formen der Enteignung häufig den Anfang machen: der Raub indigenen Landes und das Verbot indigener Sprachen. In der Einleitung zu ihren Gedichten in dieser Ausgabe schreibt Synnøve Persen, dass sie im Alter von sieben Jahren ihrer Familie weggenommen und in ein norwegisches Internat verschickt wurde – wie fast alle Kinder der Samen und viele indigene Kinder in der gesamten kolonisierten Welt von Kanada über Norwegen bis Australien – und dass sie dort bei Strafe ihre Muttersprache, das Nordsamische, nicht sprechen durfte:
Wir wurden in Internate weit weg von der Sprache und Kultur der Samen gesteckt und durften dort nur das Norwegische gebrauchen. Es war eine skrupellose Assimilationspolitik, die unsere Identität und Selbstwahrnehmung auslöschte. Während meiner zwanzig Jahre im norwegischen Bildungssystem habe ich meine Muttersprache weder lesen noch schreiben gelernt. […] Das erzeugte in uns ein Gefühl der Leere, einen namenlosen Innenraum, ein Gefühl, Fremde im eigenen Leben zu sein. Erst als ich mir meine Muttersprache selbst aneignete und zögerliche Schreibversuche unternahm, war ich in der Lage, Gedichte zu schreiben. Plötzlich hatte ich etwas zu sagen. Es war wie eine Forschungsreise ins eigene Ich. Ich lauschte den dort verwahrten Worten und den unmitteilbaren Mitteilungen, wie sie jeder Kultur eigen sind.
Die Ökologie hat eine griechische Wurzel: oikos bedeutet Lebensraum, Haus oder Familie – ein Ökosystem gegenseitiger Abhängigkeiten (die Ökonomie hat dieselbe Wurzel.) Wir verstehen unter Ökologie heute die Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen Organismen und ihrer Umwelt beziehungsweise der Interdependenz von Menschen und Institutionen. Darin liegt das Gewicht der auf den folgenden Seiten versammelten Arbeit. Ob poetisch, kritisch, allegorisch oder all das zugleich – die Texte und Kunstprojekte in diesem Band von South as a State of Mind artikulieren die Notwendigkeit von Sprache und Vokabular, während sie zugleich Konsum und Hunger als politische und ästhetische Tatsachen und Felder betrachten. „Will man mit der Gewalt gegen die Umwelt zurande kommen, braucht die Rede von Ansprüchen und Rechten einen neuen Rahmen, da die Opfer der Gewalt Ozeane, Flüsse und Wälder sowie Tote und Arme sind, deren Zugang zum Recht beschränkt ist“, schreibt Ahmed. Wenn die „Ausbildung einer antikapitalistischen politischen Ökologie, die strukturell, sozial, psychisch und umweltbezogen zugleich ist“, Aufmerksamkeit für die Gewalt gegen die Umwelt voraussetzt, so ist das Bewusstsein für die Bedeutung der Sprache in diesem Prozess, ob als Mittäterschaft oder Widerstand, ob psychisch oder strukturell, ebenso wichtig. Sprache oder Hunger – zweierlei Grenzen. Eine Frage auch (für Sie).
Aus dem Englischen von Herwig Engelmann