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So viele Hunger: Die Hungersnot in Bengalen, 1943–1944

Der Naturbegriff enthält, freilich häufig unbemerkt, ein außerordentliches Maß an menschlicher Geschichte.
— Raymond Williams, „Ideas of Nature“ (1980)

Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern, das Selbe wie die Blockade und Aushungerung von Ländern, das Selbe wie die Fabrikation von Wasserstoffbomben.
— Martin Heidegger, „Das Gestell“ (1949)

 

Die Tüpfelhyänen von Harare, so vermutet man, streiften während der Hungersnot in Äthiopien 1888 durch die Stadt und ernährten sich von organischen Abfällen und menschlichen Überresten.1 Als Alexis de Tocqueville vor der Großen Hungersnot der Jahre 1845–1852 durch Irland reiste, berichtete er seinem Vater von verwüsteten Feldern und einem traumatisierten Land: „Es ist erschreckend, versichere ich Ihnen, mitanzusehen, wie eine ganze Bevölkerung dazu gezwungen ist, wie die Trappisten zu fasten und sich nicht sicher zu sein, ob sie bis zur nächsten Ernte überleben wird.“2 Wie der Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen festgestellt hat, kennt „die Weltgeschichte kein Beispiel für eine Hungersnot in einer funktionierenden Demokratie“; Hungersnöte sind ein Motiv, wann immer sich Imperien und repressive ideologische Kräfte ausbreiten, sei es in Ägypten, China oder Russland, in Äthiopien oder Indien; noch nicht einmal die Toten sind vor ihrem gnadenlosen Siegeszug sicher.3

Bis heute steht eine Politik der Hegemonie in direktem proportionalem Verhältnis zu den Bedingungen, die zu einer Hungersnot führen. Was die ländlichen Regionen Irlands unter der Verwaltung von Charles Trevelyan angeht – Trevelyan hatte zuvor in der Britischen Ostindiengesellschaft gedient und war vor seiner Rückkehr nach England im öffentlichen Dienst Bengalens tätig gewesen –, so führten die Umstrukturierung landwirtschaftlicher Flächen, niedrige Löhne und langsam anlaufende Hilfeleistungen zu über einer Million Toten. Stellen wir zwei Aussagen gegenüber, die im Abstand von einhundert Jahren fielen. 1861 erhob John Mitchel, der Anführer der revolutionären nationalistischen Bewegung Young Ireland, die Anschuldigung: „Der Allmächtige sandte die Kartoffelfäule, aber die Engländer schufen die Hungersnot“; im Mai 1997 bat der britische Premierminister Tony Blair im Zuge der Routineaufgaben, mit denen der imperiale Staat sein moralisches Ansehen zu wahren versucht, offiziell für die Große Hungersnot um Entschuldigung.4 Mit der komplexen Gemengelage einer Hungersnot beschäftigt man sich in den meisten Fällen erst im Nachhinein, und dennoch ist es den Menschen im Laufe der Geschichte nicht gelungen, rückblickend das durch Hungersnöte begangene Unrecht nachzuvollziehen.

Hunger ist eine strategische Größe beim Kernversagen der Staatsorganisation; er ist die aushöhlende Schwächung eines Staatswesens, das die Nation auf ihren bloßen Rumpf reduziert. In der düsteren Rhetorik dieses Ereignisses, das in der gesamten Menschheitsgeschichte zyklisch wiederkehrt, wimmelt es vor Ungleichheiten, während Landflucht die demografische Zusammensetzung und Eigentumsverhältnisse von Grund auf verändert und geradezu Kampfszenen gleichkommt. Die Hungernden sind die doppelt Unterdrückten – gefangen in einem grausamen Teufelskreis, in dem die herrschenden Matrizen die ungleich verteilte Kaufkraft weiter zugunsten der privilegierten Schichten verschieben.

Eine grausame Facette dieser Szenarien besteht darin, dass die aristokratische Elite, die in einem herrschenden Reich die geringste Bedrohung für den Status quo der Verhältnisse darstellt, relativ sicher vor Hunger geschützt ist, während die andersdenkende Arbeiterklasse von ihm niedergewalzt wird. Unter der diktatorischen Herrschaft von Mengistu Haile Mariam in Äthiopien zum Beispiel siedelte die Derg-Junta in den 1980er Jahren mehrere Tausend Menschen von den nördlichen in die südlichen Provinzen des von Hungersnöten heimgesuchten Landes um.5 Diese Umsiedlung, so wurde zur Begründung angeführt, schütze sie vor Nahrungsmangel; in Wirklichkeit wollte man jedoch „Konterrevolutionäre“ ausmerzen, indem man den von Rebellen kontrollierten Regionen im Land den Boden unter den Füßen entzog.

Die Hungersnot in Bengalen der Jahre 1943–1944, in deren Wirren nach der Invasion Burmas durch die Japaner Millionen Menschen ums Leben kamen, war bis in die jüngste Zeit ein versteckter Genozid – und ihre Struktur ein direktes Produkt der britischen Kolonialherrschaft während des Zweiten Weltkriegs, als der Ruf nach Freiheit auf dem gesamten indischen Subkontinent immer lauter wurde. Indien war das im Schatten stehende, kolonisierte Subjekt einer im Krieg befindlichen Insel, die parlamentarische demokratische Ideale verkündete. Der geistige Kern demokratischer Ordnung ist jedoch in Gefahr, wenn der Demos unter Bedingungen lebt, die wie etwa Krieg, Epidemien und massenhafter Tod nach einer Hungersnot das nackte Überleben gefährden.

Es ist daher von entscheidender Bedeutung, Hungersnöte als Funktion von Repression zu verstehen, wie Sen es in seiner Analyse getan hat. Hunger zeichnet sich dadurch aus, dass einige Menschen nicht genug Nahrungsmittel haben; es besteht jedoch kein Anzeichen dafür, dass es zu wenig Nahrungsmittel gibt.6 Hunger manifestiert sich durch Eigentumsverhältnisse und Anrechte (entitlement), welche die Frage von Zugangsrechten, materieller Souveränität und sozialem Schutz festlegen. Die Hungersnot in Bengalen war nicht einfach der Höhepunkt verschiedener Unfälle, sondern vielmehr ein Stück Zivilisationsgeschichte am Schnittpunkt von antikolonialem Widerstand und internationaler Kriegsführung – sie sollte daher als fundamentales gesellschaftliches Versagen und als unrechtmäßige Kriegskosten für die betroffenen Millionen verstanden werden. Es gibt Berichte von Menschen, die vor gut gefüllten, staatlich geschützten Lebensmittelläden starben, von Großstädtern, die Zugang zu spärlichen Rationen hatten und Essen horteten, da ihr Leben im Kriegsnarrativ höheren Wert fand, und es gibt Berichte von verarmten Opfern, denen der Zugang zum Krankenhaus verweigert wurde und die stattdessen auf monsundurchweichten Bürgersteigen an leerem Magen starben, weil eine Behandlung nach geltendem Gesetz Menschen mit bestimmbaren Krankheiten vorbehalten war.7

Zainul Abedin, Famine Sketch (1943), Tinte auf Papier, 65,6 × 42,5 cm


Im Ausland Kriege, im Inland Massengräber

„Kein größerer Teil der Weltbevölkerung wurde so effektiv vor den Schrecken und Gefahren des Weltkrieges bewahrt wie die Völker von Hindustan. Sie wurden auf den Schultern unserer kleinen Insel durch den Kampf getragen“,8 befand Winston Churchill. Die Hungersnot in Bengalen geriet damit zu einem blinden Fleck in den Aufzeichnungen der kolonialen Moderne. Als die nationalen Entscheidungsträger Indiens den britischen Premier aufgrund des gravierenden Ausmaßes der Hungersnot bedrängten und um staatliche Hilfe zur Aufstockung der Nahrungsmittelvorräte baten, konterte dieser: „Warum ist Gandhi dann noch nicht gestorben?“

Churchill wollte Britisch-Indien umstrukturieren, um so Großbritanniens Machtposition in einer globalen Nachkriegsordnung zu stärken. Durch Intrigen der Kriegsallianz bereicherte sich seine Regierung weiter auf räuberische Weise am wirtschaftlichen Wohlstand und den Verteidigungsressourcen der Kolonie: Im Juni 1945 beliefen sich die britischen Schulden gegenüber Indien auf 1,292 Millionen Pfund.9 Während die Armee des Empire mit indischen Truppen anwuchs – beim Kriegseintritt Großbritanniens 1939 kämpften 131.000 indische Soldaten gegen Deutschland –, verlangte der Freiheitskämpfer Subhas Chandra Bose ein Ultimatum zur vollständigen Befreiung seines Landes und drängte seine Landsleute, sich um jeden Preis aus den Fängen der fremden Macht zu befreien.10 Unterdessen gingen Scharen britischer Soldaten immer schärfer gegen abweichende Meinungen vor, hielten Truppenübungen ab und wahrten die innere Sicherheit. Der Indische Nationalkongress gab zur Erläuterung seines Standpunkts folgende Erklärung ab: „Wenn der Krieg den Status quo, imperialistische Besitztümer, Kolonien, Partikularinteressen und -privilegien verteidigen soll, kann Indien nichts mit ihm zu tun haben. Wenn es allerdings um Demokratie und eine demokratische Weltordnung geht, dann ist Indien sehr an ihm interessiert.“11

Inmitten dieses verwirrenden Szenarios sah sich ein unfreies Indien gezwungen, der Kolonialmacht durch den sich vom Nahen Osten nach Südostasien ausbreitenden Krieg beiseite zu stehen und zugleich brutalen Hunger auf heimischem Boden zu bekämpfen, da laufend Getreide und Waffen aus Kalkutta sowie Holz, Stahl, Eisenbahnwaggons und Zement aus anderen industrialisierten Städten außer Landes verfrachtet wurden. Die Textilfabriken in Bombay produzierten beispielsweise die Tarnuniformen und Fallschirme, die an die im Einsatz befindlichen Truppen gingen.12

Zainul Abedin, Famine Sketch (1943), Tinte auf Papier, 43 × 56,5 cm

Als japanische Truppen 1942 in Burma an der Ostfront einmarschierten, wurde die militärische Stärke des Landes einmal mehr auf die Probe gestellt, und es kam zu schweren Luftangriffen. Flüchtlinge aus Burma und im Rückzug befindliche Truppenkontingente zogen durch Bengalen. Ein Zyklon und eine Flutwelle taten das Ihre, um die bereits unter Luftangriffen leidenden ländlichen Regionen weiter zu verwüsten.13 Von Angst ergriffen, waren die Menschen in Kalkutta und in den ländlichen Gemeinden mehr und mehr davon überzeugt, dass unter diesen Bedingungen keine Befreiung gelingen könne und sich eine neue Ära der Gräuel von den benachbarten Kampfplätzen aus anbahne. Das Horten von Getreide nahm extreme Ausmaße an, und der Preis von Grundgütern stieg dramatisch. Während indische Panzerdivisionen rund um das Mittelmeer kämpften, blieb der Subkontinent schutzlos ausgeliefert. Trotz der Bitte von General Archibald Wavell, das Kriegskabinett möge Artillerie, Panzer und Kampfflugzeuge an die indischen Militärbasen entsenden, befürchtete Churchill weiter, eine Bewaffnung indigener Truppen könne zur Bedrohung für die Beamten von Britisch-Indien werden. Ein Schießen „in die falsche Richtung“ hatte man bereits beim Sepoy-Aufstand von 1857–1858 erlebt, dem ersten indischen Unabhängigkeitskrieg, der schließlich zur Auflösung der Britischen Ostindien-Kompanie führte.14

Aus Angst, bengalische Gemeinschaften und die Anführer der Satyagraha-Bewegung, die Gandhis gewaltfreiem Widerstand folgten, könnten Sympathien für den Feind hegen, verfolgte die Regierung in Kolonien rund um den Indischen Ozean eine Politik der verbrannten Erde. Die vermeintlich doppelte Bedrohung aus lokalen Vergeltungsschlägen und terrestrischer Kapitulation vor den Achsenmächten führte zur brutalen Zerstörung von Bodenressourcen. Reife Felder und Speicher wurden vernichtet, lebenswichtige Infrastrukturen wie der Verkehr zu Wasser und zu Land zerstört. Politische Maßnahmen des Empire wie die Verweigerung von Booten und die Verweigerung von Reis führten dazu, dass frisch geerntetes Getreide verbrannt oder sogar in Flüsse gekippt wurde. Die Zerstörung von Booten durch Suchaktionen brachte das Navigationsnetz zum Erliegen, reduzierte die Zahl der Schiffe, die Fischer zu lokalen Märkten brachten, und führte zum Zusammenbruch des Handels in dem Delta, das den Transport von Agrarprodukten ermöglichte.15

In einem Roman von Amarendra Ghose aus dem Jahr 1944 gibt eine Figur ihrer Fassungslosigkeit angesichts der staatlich angeordneten Zerstörung von Booten so Ausdruck: „Sie werden Boote fangen! Sie werden Boote fangen! – sprecht diese bösen Worte nur nicht aus. Ist dies eine moger mulluck (Welt des heillosen Chaos)?“16

Diese Atmosphäre des Schocks entlarvt das wahre Wesen der Hungersnot als eine Realität von Extremen, sodass ihre gespenstische Erinnerung nur als verzerrte Figuration – als eine schaurige Welt des Chaos – ausgedrückt werden kann. Da diese systemischen Brüche nun offen zutage lagen, litten Tausende Familien an Arbeitslosigkeit und Hunger und blieben ihrem Schicksal überlassen, während die Hungersnot in Bengalen nur noch heftiger wütete. Dennoch versuchte eine wachsende Bevölkerung aus Flüchtlingen und Militärangehörigen beharrlich, sich auf dem betroffenen Gebiet in Sicherheit zu bringen.

Der russische Intellektuelle und Literaturwissenschaftler Dmitri Lichatschow, ein Überlebender der Leningrader Blockade und Hungersnot (1941–1944), hat diese Situation anschaulich beschrieben: „Im Hunger haben die Menschen sich offenbart, entblößt, sich frei gemacht von jeglichem Flitter: Die einen erwiesen sich als bemerkenswerte, unvergleichliche Helden, die anderen als Bösewichte, Schufte, Mörder, Menschenfresser. Dazwischen gab es nichts.“17 Der moralische Gesamtkomplex der Hungersnot verwickelt Opfer und Täter in einen toxischen Knoten. Dabei überleben die Gewieften in der Regel die anderen. Hungersnöte bringen die finsteren Konturen des Menschen ans Tageslicht und schaffen damit, um mit Cormac Ó Gráda zu sprechen, „ihre eigene Version dessen, was der Auschwitz-Überlebende Primo Levi als ‚Grauzone‘ bezeichnet hat, wo aller Wahrscheinlichkeit nach die Stärkeren und Gerisseneren, die weniger Skrupellosen und die Rücksichtsloseren und Boshaften die Überlebenden sein werden.“18 In Bengalen schuf die Hungersnot ein Geschlechtergefälle, da zahlreiche Frauen dem Hungertod überlassen und männliche Familienmitglieder bevorzugt behandelt wurden; auf dem Höhepunkt der Nahrungsmittelknappheit wählten Tausende den Weg in die Prostitution.19

Die Hungersnot in Bengalen produzierte einen gefährlichen Berg an Schulden. Abgesehen von den zur Deckung des britischen Kriegsbedarfs enteigneten Ressourcen knöpften abwesende Grundherren Farmpächtern, Landlosen und Tagelöhnern weiterhin hohe Zinssätze ab. Obwohl es im ganzen Land zu Bauernaufständen und Hungermärschen kam, verlangte man von Agrararbeitern, alte Schulden zu begleichen, weil es dem Markt an Liquidität fehlte. Familien brachen auseinander, als Verwandtschaftsbeziehungen Habgier, Diebstahl und Landflucht zum Opfer fielen. In einem Sammelbecken von sinkenden Erträgen verbanden sich Hunger und Verschuldung auf zersetzende Weise. Man fragt sich, was es bedeuten würde, Die Fabrik des verschuldeten Menschen des Soziologen und Philosophen Maurizio Lazzarato im Rahmen der von der Kolonialherrschaft aufgewühlten Ausbeutungsökonomie – und insbesondere im Kontext des finsteren Plans dieser Hungersnot – als die Erfindung einer Katastrophe mit völkermordähnlichen Konsequenzen zu lesen. Machtverhältnisse zwischen Kapitaleignern und Nicht-Eignern werden so lange manipuliert, bis die gesamte Gesellschaft verschuldet ist.20 Im Falle der Hungersnot in Bengalen wurde das Elend der Verschuldeten genau zu dem Zeitpunkt durch eine systemische Vernachlässigung von Mensch und Erde sichtbar, als der Begriff „Neoliberalismus“ erstmals geprägt wurde und der globale Kolonialismus damit rang, sein versklavtes Kapital während des Zweiten Weltkrieges zu „verwalten“.21

In Zeiten von Hunger entsteht eine neue Ikonografie des Elends, und doch ist Sprache im Grunde nicht in der Lage, dieses ultimative In-Verzweiflung-Geraten zu erfassen. (Die affektiven Fähigkeiten der Menschheit und die Erfahrung von endemischem Hunger sind eng miteinander verflochten: In reflektierenden Studien über die Auswirkungen von Hungersnöten wird dies kaum untersucht.) In der gesamten Geschichte der Neuzeit haben sich Künstler der darstellerischen Herausforderung gestellt und diese von Menschen verursachten Katastrophen als führende Chronisten mitverfolgt. Während der Großen Hungersnot in Irland veröffentlichte zum Beispiel James Mahony Sketches in the West of Ireland. In seiner Radierung Woman Begging at Clonakilty, veröffentlicht in der Illustrated London News vom 13. Februar 1847, nähert sich eine Frau mit verhülltem Kopf dem Vordergrund, ein knochendünnes Baby im rechten Arm. Dieser winzige Leichnam wird sorgfältig balanciert, während sie einer unsichtbaren Öffentlichkeit eine Bettelschale entgegenstreckt und um Almosen bittet, um einen Sarg für ihre tote Tochter kaufen zu können. Diese skizzenhaft umrissene Figur ist eine Art universelles Symbol, erinnert jedoch auch an die Hungersnot-Skizzen des führenden bengalischen Künstlers und Pädagogen Zainul Abedin (1914–1976), der zur Zeit der Katastrophe Ende zwanzig war. Er gab seinen Posten als Kunstlehrer an der Government School of Art in Kalkutta auf, um die ihn umgebenden Gräuel zu zeichnen, und reiste durch Geisterdörfer und die Straßen der Großstädte.22 Mit raschen Strichen, schwarzer Tinte und durch Trockenbürsten erfasst Abedin einen ausgemergelten Mann, der sich in eine überquellende Müllhalde beugt und mit anderen Überlebenden sowie Straßenhunden um Essensreste rangelt. In einer anderen „Hungersnot-Skizze“ sieht man eine alte Frau mit hervorstehenden Rippenknochen, die neben einer jungen Frau mit einem Baby im Arm geht. Sie sind barfuß und im Profil zu sehen, als suchten sie nach einem Ausweg. Der Blick der Frau ist vom Wetter gezeichnet und doch entschlossen; auf der Suche nach einer Armenküche oder vielleicht einer gespendeten Mahlzeit in der Nähe hält sie eine leere Schale. Häufig tauchen in Abedins Zeichnungen Krähen als bedrohliche Wesen auf und umzingeln ihre Opfer – Allegorien des „gemeinen Opportunisten“. Der Künstler selbst lebte damals von einem spärlichen Einkommen und fertigte diese historischen Zeichnungen auf dem billigsten ihm zur Verfügung stehenden Papier an, mitunter sogar auf Pappkarton. Ein materiell verarmter Augenzeugenbericht.

Sunil Janah, Frauen stehen während der bengalischen Hungersnot für Reis an, Lake Market, Kalkutta, 1943

Aufgewachsen in der beschaulichen Stille des Brahmaputra-Beckens, arbeitete Abedin zunächst als Landschaftsmaler und hielt das gewöhnliche und ländliche Leben im europäischen akademischen Stil fest. „Der Fluss war mein größter Lehrer“, wird er zitiert.23 Die Hungersnot verwandelte seine Einstellung radikal, da der Fluss nun zum Ort des Traumas wurde, vom Tode erstickt. Abedin verbrachte den Rest seines Lebens als Kulturvermittler und Lehrer-Aktivist und arbeitete auf dem gesamten, schon bald geteilten Subkontinent. Seine Arbeiten waren neben denen von Künstlergenossen wie Chittaprosad Bhattacharya und dem Fotografen Sunil Janah24 in der Zeitung der Kommunistischen Partei People’s War zu sehen; außerdem diente er als Mitglied der antifaschistischen Schriftsteller- und Künstlerverbands Bengalens.25


Der düstere Hunger

Was wäre, wenn wir das Paradigma der Moderne als einen Hungerindex betrachteten? Hunger und Freiheit sind als Teil einer abstrakten sozialen Konstellation menschlicher Prinzipien miteinander verflochten; Hungersnot und Politik wirken in Geschichten der Unterdrückung auf festerer, gemeinsamer Basis. Hunger ist eine Reduktion des Vernünftigen, eine Methode, aufsässiges Bewusstsein in Gefügigkeit zu verwandeln und den Staat und seine herrschende Klasse in Apathie zu versetzen. Weil Hunger ein Vakuum in menschlichen Fähigkeiten schafft, einen Riss in den strukturellen Bedingungen des Lebens – sodass allein die Vorstellung von Fortschritt in solchen Phasen sozioökonomischer Tyrannei konzeptionell aushungert.

Als der Staub des Hungers sich im ländlichen Bengalen auszubreiten begann, wurden Gerüchte über Versorgungsengpässe brutal unterdrückt; die Kolonialregierung setzte ihren gesamten administrativen Einfluss ein, um Gerüchte zum Verstummen zu bringen, Feldreportagen zu zensieren und so die Kriegswirtschaft zu schützen. In der Wochenzeitung Harijan warnte der Herausgeber Mohandas Karamchand Gandhi am 19. Januar 1942, die Engpässe würden mit fortgesetztem Krieg nur noch schlimmer werden: „Es gibt keine Einfuhren von außerhalb, weder von Nahrungsmitteln noch von Textilien.“ Den Bauern riet er, „Bananen, rote Beete, Süßkartoffeln und Kürbis anzubauen.“26

Unter Gandhis Experimenten mit gewaltfreiem Widerstand blieb der Hungerstreik ein wichtiges Instrument. Als der indische Widerstandskämpfer als Mitglied der Bewegung zivilen Ungehorsams mit verschiedenen Anführern des indischen Nationalkongresses gegen die britische Herrschaft protestierte und inhaftiert wurde, begann er erneut zu fasten. Am 18. Februar 1943 titelte der Spectator „Mr. Gandhis Fastenzeit“ und berichtete über Mahatmas erste acht Tage Hungerprotest sowie seine Korrespondenz mit Lord Linlithgow, dem Vizekönig von Indien.27 Linlithgow äußerte seinen Unmut über die Aktion und beschrieb das Hungern als „eine Form politischer Erpressung“; würde man den vorgebrachten Forderungen nachgeben, so werde dies die Kolonialregierung in einem schwächeren Licht erscheinen lassen. Für den Sozialanthropologen Arjun Appadurai dagegen ist Gandhis Politik des Hungers eine spezifische Genealogie, die sich auf die Moral der Verweigerung und ein fundamentales Kultivieren von Zurückhaltung als symbolischer Befreiung gründet.28

Die britische Presse stellte Gandhis Vorgehen nicht so sehr als Konfrontation mit dem imperialen Staat auf Leben und Tod, sondern vielmehr als „Luxusfasten“ dar und porträtierte Gandhi als einen kafkaesken „Hungerkünstler“, derweil ganz Bengalen unfreiwillig hungerte.29 Selbst in dieser katastrophalen Situation befürwortete die Mehrheit der Bevölkerung weiterhin Mahatmas Protest.

Körper, die gestern um Freiheit kämpften und heute im wahrsten Sinne des Wortes von Hunden und Geiern gefressen werden. Ist das der Tribut, den ein Land seinen Kämpfern zollt?
—Chittaprosad Bhattacharya, Hungry Bengal (1943)

Chittaprosads Hungry Bengal, ein Reisebericht durch den von Hungersnot geplagten Distrikt Midnapur im November 1943, wurde von der britischen Regierung zensiert und aus dem Verkehr gezogen. Seine flammenden Bild-Wort-Sequenzen hallen bis heute als Zeugnis der sich immer weiter zuspitzenden Gräuel nach. Obwohl die meisten Exemplare verbrannt wurden, erschien jüngst ein neu aufgelegtes Faksimile. Chittaprosads epische Erzählung über das Wirken von Hungerkatastrophe und kolonialer Knechtschaft beginnt auf einem Bahngleis:

In dem überfüllten Eisenbahnabteil auf dem Weg nach Midnapur kamen mir die täglichen Szenen auf den Bürgersteigen Kalkuttas immer wieder in den Kopf – die Prozession aus ausgehungerten, hilflosen lebenden Skeletten, die einst die bengalische Dorfgesellschaft bildeten – Fischer, Schiffer, Töpfer, Weber, Bauern, ganze Familien von ihnen; die fünf Leichen, die ich eines Morgens auf dem kurzen Abschnitt zwischen der Amherst Street und dem Bahnhof Sealdah zählte.30

In diesen Rückblenden der ersten Seiten von Hungry Bengal werden das Dorf und die Straßen der Stadt mit dem dringenden Wunsch nach Flucht in Verbindung gebracht. Doch „auf der anderen Seite“ war die Lage verheerend, da überbevölkerte Stadtgebiete aus Angst vor Epidemien und nur noch weiter sinkenden Ressourcen sich der Opfer der Hungersnot zu entledigen versuchten. Die Bahnlinie war nach wie vor von entscheidender Bedeutung für die öffentliche Verteilung von Reis- und Mehlrationen, doch in dieser verzweifelten Lage wurden sogar Nothilfevorräte auf halbem Wege abgeschöpft, während private Hamsterer weiter spekulative Manöver verfolgten, die nur noch schlimmere Ausfälle herbeiführten; nur eine winzige Menge erreichte die Bevölkerung über die Notunterkünfte und Kantinen der Hilfsorganisation Bengal Relief Committee.

In seiner einführenden Zeichnung Humanity Dehumanised porträtiert Chittaprosad einen jungen Vater mit Kind, der teilnahmslos und unterernährt am Rand seiner Seite sitzen. Eine Bildunterschrift fordert den Leser auf, an das Leben derer zu denken, die nahe Familienangehörige und ihr angestammtes Land verloren haben. Hungry Bengal verströmt ein Gefühl von Verlorenheit, da der Künstler-Aktivist die persönlichen Geschichten von Menschen am Rande ihrer Existenz untersucht. Auf seiner dokumentarischen Reise entdeckte Chittaprosad eine Gestalt, die sich in einem Kornfeld versteckte und die er als „eine kleine schwarze Puppe aus Knochen“ beschreibt – dieses Kind namens Ananta hatte seine Familie an die Cholera verloren und seine Bewältigungsstrategien aufgegeben. Der Künstler rettete ihn und setzte sich dafür ein, dass der Junge wieder gesund wurde. Chittaprosad entwarf sogar ein Poster für den berühmten Film Do Bigha Zamin (Zwei Hektar Land, 1953) des Regisseurs Bimal Roy, der das Schicksal eines Bauern und seinen Kampf um ein Stück Land zu Zeiten der Hungersnot schildert. Roys im Stil des italienischen Neorealismus gedrehter Film dokumentiert das verzweifelte Leben eines Bauern, der weniger als einen Morgen angestammten Landes vor dem Zugriff eines örtlichen Geldverleihers verteidigt; Letzterer möchtet dieses Land jedoch für den Bau einer Fabrik verkaufen.

Sunil Janah, Waisen vor einem Hilfszentrum während der Hungersnot in Orissa, 1944

Hungry Bengal beschrieb darüber hinaus das staatliche Verbot, die Nahrungskrise bei öffentlichen Versammlungen zu erörtern, und zeigte, wie die Plakate und Broschüren der Kommunistischen Partei Indiens, die zur Bekämpfung der Hungersnot zu Solidarität aufriefen und die Freilassung inhaftierter nationaler Führer verlangten, systematisch abgerissen oder von der Polizei konfisziert wurden. Zusammen mit Chittaprosad verfolgte Sunil Janah die Hungersnot durch die Linse einer Rolleiflex-Kamera. Er war zu diesem Zeitpunkt Mitglied der Studentenvereinigung und beschloss, sein Studium abzubrechen, um auf Drängen von Puran Chand Joshi durch die ländlichen Gebiete zu reisen (Joshi war Generalsekretär der Kommunistischen Partei Indiens; unter seinem Einfluss schloss sich die Partei der Dritten Internationale an und bezog eine antifaschistische Position).31 Janahs eindrucksvolle Schwarz-Weiß-Studien erfassten den durch das ungeteilte Bengalen – das heißt den heutigen Bundesstaat Odisha (vormals Orissa) und Bangladesch – fegenden Genozid und verdeutlichten die Zersetzung der Zivilgesellschaft infolge der Hungersnot. Seine Bilder begleiteten als Illustrationen einen Text von Joshi in People’s War und wurden später als Postkarten verbreitet, um Soforthilfegelder gegen die Tragödie zu sammeln. Die erneute Veröffentlichung seiner Fotodokumentation in kommunistischen Zeitungen weltweit kündete im Ausland von dem Unglück. Es ist gespenstisch, Janahs Darstellungen der Opfer der Hungersnot neben denen von Holocaust-Überlebenden zu betrachten und so das globale Wirken von Faschismus und Kolonialismus als das zweier Netzwerke ausgeprägter Gewalt miteinander in Verbindung zu setzen.

Chittaprosad Bhattacharya, Seite der einzigen noch existierenden Ausgabe der selbstverlegten Buches Hungry Bengal (Bombay, 1945; Faksimile-Reproduktion von DAG Modern, Neu-Delhi, 2011)

Diese humanistischen Entwürfe füllten ein von der kolonialen Presse und offiziellen Zahlen hinterlassenes Vakuum, in dem die Zahl der Todesopfer drastisch heruntergespielt wurde. Anschaulich wurde der düstere Realismus, als Chittaprosad durch verlassene Dörfer und kahle Felder reiste und überall auf verstreute Schädel, Knochenreste und geplünderte Häuser stieß. In einem Filminterview erklärte er viele Jahre später: „Ich vertrete die Tradition der Moralisten und politischen Reformer. Menschen zu retten bedeutet, die Kunst als solche zu retten. Die Tätigkeit eines Künstlers bedeutet, den Tod aktiv zu leugnen.“32

Der Demograf und Ökonom Thomas Malthus beharrte weiter darauf, Hungersnöte seien ein natürliches Phänomen und der Fluch „schlechter Jahreszeiten“ für eine rasch wachsende Bevölkerung. 1798 bezeichnete Malthus sie als „die letzte, die entsetzlichste Ressource der Natur“ und interpretierte sie als notwendiges Korrektiv, um den Bevölkerungsquotienten mit den auf der Welt verfügbaren Nahrungsmitteln auszugleichen.33 Die Vorstellung der Unvermeidbarkeit von Hunger hielt sich weiter durch die Jahrhunderte hindurch und wurde durch Mythen noch unterfüttert. In der XI. Tafel des babylonischen Gilgamesch-Epos intervenieren die Götter, um die Bevölkerung zu dezimieren: „die Menschen wurden zahlreich, das Land brüllte wie ein Wildstier.“34 Schon allein das Konzept von Apokalypse beinhaltet die Geschichte einer Hungersnot – von Darstellungen in der Bibel, die die Struktur göttlichen Zorns verraten, bis zu hinduistischen Gottheiten, die die Gesellschaft vor Naturkatastrophen bewahren. Verglichen mit anderen Katastrophen – Überschwemmungen, Erdbeben, Vulkanausbrüchen – sind der zeitliche Umfang und das Ausmaß einer Hungersnot jedoch äußerst schwierig zu messen und zu kontrollieren. Hunger entzieht sich der Messung und geht mit einer entschiedenen politischen Verantwortung einher. Er lässt sich vielleicht nie wirklich in Form von Ernährung erfassen. Die subjektive Konstruktion von Hunger findet auf der Ebene des Bauchs – der Darmarchitektur und den Hirnimpulsen des menschlichen Körpers – statt; in der Erfahrung von Appetit und Sättigung als elementaren Empfindungen, die den Grad an verleiblichter Freiheit des Individuums bestimmen, geht sie jedoch auch über Körperlichkeit hinaus. Es gibt keinen einheitlichen Index, der die umfassenden Folgen einer Hungersnot aufzeichnet; menschliche Erfahrung und Formen der Regierungsführung verbinden sich hier auf integrale Weise.35 Die frühen Warnsignale einer Hungersnot können nicht durch ein einzelnes Instrument erfasst oder in Wellenform grafisch dargestellt werden; sie können jedoch möglicherweise durch die Beobachtung eines Volkes erkannt werden – anhand ihrer Gelassenheit, ihrer Kaufkraft und ihres Grades an Emanzipation.

Obwohl die Briten darauf bestanden, Indien vor dem „immerwährenden Hunger“ gerettet zu haben, versetzte es einigen Beamten einen Schrecken, als indische Nationalisten aus einer Studie aus dem Jahr 1878 zitierten, die im Journal of the Royal Statistical Society erschienen war. Sie stellte den 31 schwerwiegenden Hungersnöten in den 120 Jahren britischer Herrschaft nur 17 registrierte Hungersnöten in den zwei Jahrtausenden zuvor gegenüber.36 Das viktorianische Armenrecht, nach dem Arme arbeiten mussten, um im Bengalen des 19. Jahrhunderts Anrecht auf humanitäre Hilfe zu haben, stand in radikalem Widerspruch zur traditionellen Kultur Bengalens, Menschen in Not als wichtigen Akt und Säule des Anstands Essen zu geben: „Essen soll großzügig gegeben werden, wie ein Vater seinen Kindern zu essen gibt.“37 Der Bericht der indischen Hungersnot-Kommission (1880) enthält Überlegungen zur Dürre und Hungersnot während des Mogulreichs im Jahr 1661. Noch immer ist wenig bekannt, dass der Großmogul Aurangzeb, der heute keinen guten Ruf genießt, eine beispielhafte Hilfskampagne startete: Er öffnete die königliche Schatzkammer und gewährte Marktliquidität, indem er Getreide zu ermäßigten Preisen verkaufte und kostenlose Nahrungsmittel an die Ärmsten verteilte. Durch Steuersenkungen und das Überweisen von Pachtzinsen konnte der Souverän das Leben von Millionen Menschen in den betroffenen Provinzen retten.38


Knappheit und das koloniale Imaginäre

Wo ist der allmächtige weiße Mann heute? Er kam, er aß und er ging. Wir hingegen sind noch da. Das Wichtige ist also, am Leben zu bleiben […]. Außerdem, wenn Du überlebst, wer weiß? Vielleicht bist du dann morgen an der Reihe zu essen. Vielleicht bringt dein Sohn deinen Anteil mit nach Hause.
—Chinua Achebe, A Man of the People (1966)

Keine Hungersnot gleicht der anderen, obwohl ihre Symptome, Merkmale und ordnungspolitischen Maßnahmen als mimetische Realität kursieren und über historische Epochen hinweg verbunden sind; sie wirken sich auf das Leben des gesamten Planeten sowie auf den künftigen Kurs der Staatskunst aus. Obwohl manche behaupten, derartige Ungeheuerlichkeiten würden im Zuge des Entwicklungsfortschritts der Moderne abnehmen, lohnt es sich, daran zu erinnern, dass diese Form von Desaster als Mittel der Regierungsführung weiterlebt und ein doppeltes Spiel spielt. Die neoliberalen Forderungen und imperialistischen Strategien der Staatspolitik schaffen mit anderen Worten die sozialen Voraussetzungen von Hungersnöten ewig neu. Planetarischer Hunger bleibt ein kollektives Schreckensbild, mit dem wir nie ganz abschließen können, das nie ganz beendet ist. Wenngleich sich seine Etymologie und seine Namen von Sprache zu Sprache unterscheiden, definierte der römische Redner Cicero die folgenden universellen Stadien: praesens caritas (gegenwärtige Teuerung) führt zu futura fames (künftigem Hunger) und deinde inopia (Mangel danach).39

Als das Elend sich während der russischen Hungersnot 1921/22 über das Gebiet der Wolga und des Uralflusses ausbreitete, war in zutiefst bewegenden Berichten von Kannibalismus und Enteignung die Rede, die nach der Kollektivierung durch die Bolschewiki Tausende in den Wahnsinn trieben. Der sowjetische Schriftsteller Maxim Gorki wandte sich angesichts dieser unmenschlichen Situation an die Welt: „Düstere Tage sind für das Land Tolstois, Dostojewskis, Mendelejews, Pawlows, Mussorgskis, Glinkas und anderer weltbekannter Männer angebrochen.“ Als Gorki schließlich auf Veranlassung des Ökonomen und ehemaligen Ministers Sergei N. Prokopowitsch an Lenin appellierte, wurde das Allrussische Komitee für die Hungerhilfe gegründet.40 Ein ums andere Mal hat sich die Weltgemeinschaft auf ihre Intellektuellen verlassen, um sich inmitten von Hunger und bedrohten Freiheiten für eine zivilisierte Antwort einzusetzen. Die systemische Ungerechtigkeit von Hunger haben Künstler, Aktivisten, Anthropologen, Journalisten und Autoren – einschließlich der in diesem Aufsatz genannten – als anschauliches Bild genutzt, um dem kollektiven Imaginären eine Mahnung an „das Vernünftige“ einzuprägen.

Abschließend möchte ich an den Künstler und Bildhauer Somnath Hore erinnern, der während der Hungersnot in Bengalen aktives Mitglied der Kommunistischen Partei Indiens wurde und Chittaprosad als seinen Mentor ansah. Hores Serie „Wounds“ (Wunden) aus den 1970er Jahren mit ihrer von Narben übersäten, verbrannten Papiermasse weist die Oberflächenstruktur von Jahrzehnten unsäglichen Leids auf – von der Hungersnot in Bengalen bis zur blutigen Teilung des Subkontinents, dem Kampf in Vietnam und dem Befreiungskrieg in Bangladesch. Sie ist eine Gedächtnistafel des Verlusts und ein Palimpsest der verflochtenen Strömungen der Moderne. Es sind Kunstwerke, die der Auslöschung entgegentreten, Geschichte als Wunde markieren. Hunger ist schließlich der intimste Feind.

 

Aus dem Englischen von Claudia Kotte

Chittaprosad Bhattacharya, Seite der einzigen noch existierenden Ausgabe der selbstverlegten Buches Hungry Bengal (Bombay, 1945; Faksimile-Reproduktion von DAG Modern, Neu-Delhi, 2011)

Die Autorin möchte Mainul Abedin, Arjun Janah und Kishore Singh für Bild- und Textmaterial danken, ohne das dieser Aufsatz nicht hätte geschrieben werden können; sie dankt ebenso Madhusree Mukerjee für ihr hervorragendes Buch Churchill’s Secret War sowie für den Verweis auf Mukerjees Aufsatz „The Imperial Roots of Hunger“, der die Wurzeln des Hungers im britischen Empire beleuchtet.

Dieser Titel lehnt sich in Teilen an Bhabani Bhattacharyas im Stil des Sozialistischen Realismus geschriebenen Roman So Many Hungers!, London: Victor Gollancz 1947, an, der vor dem Hintergrund des indischen Unabhängigkeitskampfes und der Hungersnot in Bengalen während des Zweiten Weltkrieges spielt.

1 Richard Pankhurst, „The Great Ethiopian Famine of 1888–1892: A New Assessment“, in: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences, 21, 1, April 1966, S. 95–124.

2 Alexis de Tocqueville, Journey in Ireland: July–August 1835, hrsg. und übers. von Emmet Larkin, Washington, DC: Catholic University of America Press, 1990, S. 14.

3 Amartya Sen, Development as Freedom, Oxford: Oxford University Press 2001. Deutsch erschienen als Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München: Hanser 2000, S. 27.

4 Brenden Graham, „Historical Notes: God and England Made the Irish Famine“, in: Independent, 03.12.1998, Abschnitt 3. Online: www.independent.co.uk/arts-entertainment/historical-notes-god-and-england-made-the-irish-famine-1188828.html.

5 William A. Dando, Food and Famine in the 21st Century, Bd. 1, Santa Barbara, CA: ABC-CLIO 2012, S. 222.

6 Amartya Sen, Poverty and Famines: An Essay on Entitlement and Deprivation, Oxford: Oxford University Press 1983, S. 11–15.

7 Amartya Sen, „Ingredients of Famine Analysis: Availability and Entitlements“, in: The Quarterly Journal of Economics, 96, 3, August 1981, S. 433–464.

8 Lawrence James, Churchill and Empire: A Portrait of an Imperialist, New York: Pegasus Books 2014.

9 Ebd., S. 302.

10 Madhusree Mukerjee, Churchill’s Secret War: The British Empire and the Ravaging of India During World War II, New York: Basic Books 2010.

11 Viceroy Linlithgow’s Congress statement in The Indian Annual Register (1939), zit. in: Devendra Panigrahi, India’s Partition: The Story of Imperialism in Retreat, New York: Routledge 2004, S. 113.

12 Mukerjee, Churchill’s Secret War, S. 5.

13 Iftekhar Iqbal, The Bengal Delta: Ecology, State and Social Change, 1840–1943, New York: Springer 2010, S. 161–170.

14 Ebd.

15 Iftekhar Iqbal, „The Boat Denial Policy and the Great Bengal Famine“, in: Journal of the Asiatic Society of Bangladesh 56, 2011, S. 271–282.

16 Ebd., S. 273.

17 Anna Reid, Leningrad: Tragedy of a City under Siege 1941–44, London: Bloomsbury, 2011, o. P. Dmitri S. Lichatschow, Hunger und Terror. Mein Leben zwischen Oktoberrevolution und Perestroika, hrsg. von Igor P. Smirnov, übers. von Thomas Wiedling, Stuttgart: edition tertium 1997, S. 283.

18 Cormac Ó Gráda, Eating People Is Wrong and Other Essays on Famine, Its Past, and Its Future, Princeton: Princeton University Press 2015, S. 2.

19 Thomas Keneally, Three Famines: Starvation and Politics, New York: Public Affairs 2011, S. 55.

20 Maurizio Lazzarato, The Making of the Indebted Man: An Essay on the Neoliberal Condition, übers. von Joshua David Jordan, Los Angeles: Semiotext(e) 2012, S. 8–10. 
Deutsch erschienen als Die Fabrik des verschuldeten Menschen.
Essay über das neoliberale Leben, übers. von Stephan Geene, Berlin: b_books 2012.

21 George Monbiot, „Neoliberalism: The Ideology at the Root of All Our Problems“, in: The Guardian, 15.04.2016. Online: www.theguardian.com/books/2016/apr/15/neoliberalism-ideology-problem-george-monbiot.

22 Nazrul Islam, Zainul Abedin: Art of Bangladesh, Dhaka: Bangladesh Shilpakala Academy 1997, S. 16–21.

23 Ebd.

24 Weitere Besprechungen der Arbeiten von Sunil Janah sind auf der Webseite des Künstlers zu finden: www.suniljanah.org.

25 Ebd.

26 Mohandas Karamchand Gandhi zit. in: Madhusree, Churchill’s Secret War, S. 69.

27 Vgl. den Eintrag „Mr. Gandhi’s Fast“ im Spectator, 19.02.1943. Online: http://archive.spectator.co.uk/article/19th-february-1943/1/mr-gandhis-fast.

28 Nalini Malani und Arjun Appadurai, The Morality of Refusal, dOCUMENTA (13): 100 Notizen – 100 Gedanken, Bd. 23, Ostfildern: Hatje Cantz 2011.

29 James Vernon, Hunger: A Modern History, Cambridge, MA: Harvard University Press 2007, o. P.

30 Chittaprosad Bhattacharya, Hungry Bengal: A Tour Through Midnapur District in November, 1943, Neu-Delhi: DAG Modern 2011.

31 Ram Rahman, Sunil Janah: Photographs 1940–1960. Vintage Prints from Swaraj Art Archive, New Delhi: Vijay Kumar Aggarwal 2014, S. 9.

32 Interview mit Chittaprosad Bhattacharya im Film Confession, Regie Pavel Hobl (1972). Zit. in: Chittaprosad: Art as Rebellion, Ausst. Kat. Delhi Art Gallery, Mumbai 2011.

33 Ó Gráda, Famine: A Short History, S. 3.

34 Ebd., S. 8.

35 Ebd., S. 13.

36 Cornelius Walford, „The Famines of the World: Past and Present“, in: Journal of the Royal Statistical Society, 41, 1878, S. 434–442.

37 Keneally, Three Famines, o. P.

38 Wallace Ruddell Aykroyd, The Conquest of Famine, London: Chatto and Windus 1974, S. 51.

39 Ó Gráda, Famine: A Short History, S. 4.

40 Keneally, Three Famines, S. 287.