Die These vom Anthropozän geht davon aus, dass die Menschen – als seien sie eine undifferenzierte Ganzheit – eine auf den Planeten einwirkende geophysikalische Kraft geworden sind. Aber um genau zu sein: Um welche Menschen handelt es sich? Zu den epistemologischen Trugschlüssen – und Gefahren – des Anthropozän-Konzepts gehört, dass es den Menschen als Abstraktum behandelt, indem es die menschliche Tätigkeit zu einem geologischen Faktor macht; Donna Haraway würde dies als Beispiel für den „Gottestrick“ bezeichnen. Der aus Kamerun stammende Philosoph und Historiker Achille Mbembe definiert einen „negativen Moment“ als den Zeitpunkt, an dem „neue Antagonismen auftauchen, obwohl die alten noch nicht beseitigt sind“. Heute steht die ökologische Krise, die sich vor dem Hintergrund der noch bestehenden, dunklen Paarung von Kapitalismus und Kolonialismus entfaltet, paradigmatisch für einen solchen negativen Moment. Da aber das Anthropozän-Argument vor allem die Umweltfolgen im Blick hat und weniger die Wechselbeziehungen von Kapital, Macht und Natur, entgeht ihm das politische Problem, wonach der Ursprung der Krise nicht im Menschen selbst zu suchen ist, sondern im Kapitalismus und in der Produktion kapitalistischer Subjektivität, von deren Kräften er geformt wird. Und wie so viele antihegemoniale, für alternative Globalisierung eintretende Bewegungen zum Ausdruck gebracht haben: Wir können nicht die „Menschheit“ als solche verantwortlich machen; es sind die herrschenden politischen und ökonomischen Klassen sowohl des Globalen Südens wie Nordens, die wir zur Verantwortung zu ziehen haben.
Der indische Ökologe Madhav Gadgil und sein Landsmann, der Historiker Ramachandra Guha, stellen zwei Typen sozio-ökologischer Klassen gegenüber. „Ökosystem-Menschen“ sind jene, die von natürlichen Ressourcen in ihrer unmittelbaren Umgebung abhängen, während zu den „Omnivoren“ jene gehören, die die politische und ökonomische Macht besitzen, Ressourcen im nationalen oder globalen Maßstab zu verbrauchen. Die Autoren behaupten, dass bei Ressourcen-Konflikten die Omnivoren dominieren, und, da sie die staatlichen Zuschüsse, Subventionen und technologischen Innovationen kontrollieren, die Kosten wie Ressourcen-Schwund, Umweltzerstörung oder Artensterben an die Ökosystem-Menschen weiterreichen. Während der Gebrauchswert der natürlichen Ressourcen für die Ökosystem-Menschen hauptsächlich dem Lebensunterhalt dient, sind sie für die Omnivoren kommodifiziert.
Nehmen wir die Kohlenstoffdioxid-Emissionen als Form der globalen Gewalt gegen die Umwelt. Kohlenstoffdioxid-Emissionen stellen externalisierte Kosten des Kapitalismus dar, die gleichwohl in der Atmosphäre verbleiben. Mitten im Deltagebiet Bangladeschs lebende Dorfbewohner_innen haben wohl kaum zur globalen Erderwärmung beigetragen, sie leben jedoch an vorderster Front in einem vom Anstieg des Meeresspiegels besonders betroffenen Gebiet. Das ist genau das Szenario, das Anil Agarwal und Sunita Narain in ihrem Manifest Globale Erwärmung in einer ungleichen Welt als „Umweltkolonialismus“ beschreiben. Der Emissionshandel, der die Symptome und nicht die Ursachen des Klimawandels behandelt, ist vielleicht der letzte, verzweifelte Akt des Homo oeconomicus. Wir sind zwar für die Umweltverschmutzung durch unser (als kapitalistische Subjektivität verinnerlichtes) Konsumverhalten mit verantwortlich, doch die ultimative Verantwortung liegt im globalen Kapitalismus, der die Natur in Besitz nimmt und sein Herrschaftsgebiet vom langen 16. Jahrhundert an bis in die Gegenwart stetig ausweitet.
In dem Wort Gerechtigkeit klingen sowohl Assoziationen auf das Recht als auch auf das Gesetz an. Wenn wir, Edward Said folgend, uns in einem „Kampf um Geographie“ befinden, suchen wir eine ökologische Gerechtigkeit, die die Geografie gerechter macht. Zunehmende Gerechtigkeit oder entsprechend abnehmende Ungerechtigkeit heben auf strukturelle Ungleichheit und Ungleichgewichte von Macht und Wissen ab, die stets mit Enteignung und Auslöschung einhergehen. Bill McKibben hat es deutlich formuliert: „Eine Idee, ein Verhältnis zu etwas kann genauso aussterben wie Pflanzen und Tierarten“, besonders wenn diese Idee von einer unberührten und außerhalb der menschlichen Geschichte stehenden Natur handelt. Heute sind Sprache und Gesten der Solidarität – so wie jede andere lebende Spezies auch – in Gefahr auszusterben: eine Solidarität, die aus der Geschichte des Antikolonialismus und der internationalen Arbeitsrechte lernt und statt von einer Politik des Mitleids für die Besitzlosen von dem Mitleid für jene motiviert ist, die entlang der tödlichen Vektoren einer gegen die Umwelt gerichteten Gewalt gefangen sind.
Es gibt ein unveräußerliches Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und das Recht, die Zerstörung angestammter Wälder und Ländereien durch die Gier internationaler Unternehmen zu stoppen. Weil aber die Umweltfaktoren und -materialien aufgrund ihrer physikalischen Eigenschaften dieser erweiterten Definition von Gewalt zugerechnet werden können, werden sie in Debatten, die über die räumlichen Grenzen souveräner Territorialstaaten hinausgehen, als Alibi und Zeugen herangezogen. Im Viktorianischen Zeitalter Englands operierten die Kriminellen verdeckt unter einer Suppe aus industriellem Smog und Nebel. Heute sind in den Tropen, den wolkenreichsten Gebieten der Erde, die Bergbaugesellschaften dabei, unter dichten Wolkendecken die Umwelt zu verschmutzen und das Klima der Erde als Alibi einzusetzen. Aber wenn man Umweltfaktoren Handlungsmacht gewährt, steht der Mensch nicht weniger, sondern umso dringlicher in der Verantwortung. Will man mit der Gewalt gegen die Umwelt zurande kommen, braucht die Rede von Ansprüchen und Rechten einen neuen Rahmen, da die Opfer der Gewalt Ozeane, Flüsse und Wälder sowie Tote und Arme sind, deren Zugang zum Recht beschränkt ist. Wenn sich die Begriffe des Opfers, des Täters und des Verbrechens in einem solch düsteren Feld bewegen, sind in der Tat neue, kämpferische Forschungsmethoden in der Architektur, in der Stadtplanung, in Politik und Ästhetik vonnöten, um jene zur Rechenschaft zu ziehen, die von dieser Gewalt profitieren, und auch jene, die wir damit betrauen, uns gesellschaftlich zu schützen. Bei einer diffusen Gewalt kann auch die Beweiserhebung ins Diffuse geraten, weshalb zudem neue juristische Verfahren erforderlich sind. Verfahren, die dazu beitragen, einer Gewalt Kontur zu geben, die sich sichtbar und unsichtbar, hörbar und unhörbar in mannigfachen Dimensionen und Territorien auffächert.
Die bestehenden internationalen Gesetze sind nicht auf grenzüberschreitende Umweltverbrechen zugeschnitten, deren Täter auch nichtmenschlicher Natur sein können. Das Kriegsrecht, die Genfer Konvention, die Schutzverantwortungsdoktrin definieren Umweltzerstörung nicht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wir müssen neue Foren ins Leben rufen, die Regelwerke für politisches Handeln innerhalb und außerhalb der globalen Gesetzgebung liefern, um gemeinsam, viele Stimmen einbeziehend, gesetzliche Mechanismen zu entwickeln, die die Zerstörung des Planeten stoppen – Ökozid-Gesetze. Das ist die Arbeit einer mit der Erde und durch sie gedachten politischen Geologie. Die zu entwickelnden Methoden und Aktionen müssen die Besitzlosen und das Mehr-als-Menschliche der Erde in ihrem Widerstand über die aus Ressourcen, ökologischen und globalen Zusammenhängen, aus der Tiefe der Ozeane und den Mineralien erwachsenden Grenzen hinweg unterstützen. Eine derartige Unruhe rückt den rechtlichen Rahmen in den Vordergrund. Aber die Foren haben ihren Ort jenseits des Gesetzes, in sozialen Bewegungen, Klassenzimmern und Kulturproduktionen.
Umweltkolonialismus
Gauri Gill, Ruined Rainbow 5 (1999–), aus der Serie „Notes from the Desert“, archivarischer Pigmentdruck, 40,6 × 61 cm
Gewalt gegen die Umwelt kann über die Umweltgeschichte verstanden werden, die in groben Zügen einen dialektischen Rechenschaftsbericht über die Menschheit in der Natur und die Natur in der Menschheit abgibt. Sie umfasst eine Geschichte der Externalisierung der Natur – vom Mineralischen zum Vegetabilischen, von Silber zu Zucker –, die eine Fetischisierung und Kommerzialisierung der Umwelt gestattete, welche den mit der Kolonialisierung konfrontierten Völkern fremd war und deren Wissensformen sie auslöschte. Auf der anderen Seite der dialektischen Feedbackschleife betrachtet diese Umweltgeschichte die Natur als ein Agens, das auf die Menschheitsgeschichte wirkt wie das menschliche Handeln auf Naturphänomene. Auf der Suche nach einer gegen die Abstraktion der Natur gerichteten Synthese haben Umwelthistoriker eine ökologische Perspektive vorgelegt, die die materielle Präsenz der Natur in geosozialen Formierungen zur Geltung bringt. Menschliche Gesellschaften entfalten sich in der Natur und umhüllen sie zugleich.
Meine Arbeit für diesen Essay bezieht ihre Inspiration insbesondere aus jenen Umweltgeschichtsschreibungen, die geltend machen, dass ungleiche Entwicklung und ökologischer Niedergang im Globalen Süden Nebenwirkungen einer Gewalt sind, die versucht hat, die Natur zu beherrschen. Territoriale Umgestaltungen wie etwa Einfriedungen von Wäldern, die kommunales Land in Kolonial- und später in Staatsbesitz umwandelten, stellten vorsätzliche, gewaltsame Mittel der Unterjochung dar. Indem die Umwelthistoriker Naturnarrative in einen Bezug zur Nekropolitik setzten und ins Zentrum ihres Diskurses rückten, vermochten sie eine Epistemologie abzustecken, die sich von einer gesellschaftspolitischen postkolonialen Geschichtsschreibung unterscheidet. Die Umweltgeschichte bezieht ihre Inspiration aus der Methodik der Geschichtsschreibung, zum Beispiel indem sie das Konzept der longue durée übernimmt, um langfristige sozialökologische Veränderungen zu untersuchen, aber auch die populären Ökologiebewegungen der späten 1960er und 1970er Jahre trugen zu ihrer Ausformung bei. Indem sie die Antagonismen zwischen Reich und Arm, Landbesitzern und Landlosen, dem Nationalstaat und den indigenen Völkern zur Sprache bringt, problematisiert sie die Vergangenheit aus einer ökologischen und ethischen Perspektive.
An dieser Stelle ist eine kurze Betrachtung der Geografie des Hungers erforderlich, denn der Hunger ist eine Form der Umweltgewalt, die historisch gesehen Klima, Boden und Wirtschaft, Imperium und Kapitalismus auf einen Nenner bringt. Zahlreiche Umwelthistoriker haben die Verbrechen des British Empire aufgezeichnet. Mit Die Geburt der Dritten Welt (2000) bietet etwa Mike Davis ein Zauberbuch kolonialer ökologischer Gewalt, in der das Klima überall auf der Welt als Waffe gegen ganze Bevölkerungen eingesetzt wird. Davis erzählt erschütternde Geschichten über Hungerkatastrophen, die, hervorgegangen aus dem Zusammenspiel von imperialer Arroganz und Dürreperioden im Gefolge von El Niño, im späten 19. Jahrhundert in China, Indien und Brasilien und anderswo auf der Erde viele Millionen Menschen das Leben kostete. Jenseits „monokausaler Erklärungsmodelle“, die entweder die Natur oder die Kultur als jeweils einzige Ursache betrachten, begreift eine dialektische Lesart der Umweltgeschichte globale Klimazyklen als Kraftverstärker kolonialer Ausbeutungspraktiken wie Landnahmen, Getreidediebstahl und verbrecherischer Unterlassung humanitärer Hilfe in Hungerperioden.
Während der Großen Hungersnot von 1876–1978 in Indien zum Beispiel, die etwa sechs Millionen Menschen den Tod brachte, stand das logistische Wunderwerk eines ausgedehnten Eisenbahnnetzes in Britisch-Indien in krassem Kontrast zu den Hunderttausenden Indern, die buchstäblich entlang jener Eisenbahnlinien starben, deren Zweck einzig darin bestand, Getreide und andere cash crops abzutransportieren und der Weltwirtschaft zuzuführen. Dem Hunger, der aufgrund Getreidemangels in der Folge häufiger Missernten und ausbleibenden Regens auftrat, nicht entgegenzuwirken, kam einem an den Armen und Besitzlosen ausgeübten Genozid gleich. „Millionen starben nicht außerhalb des ‚modernen Weltsystems‘, sondern im Zuge des Prozesses, der sie zwang, sich den ökonomischen und politischen Strukturen anzupassen“, und bis zur Jahrhundertwende waren große Bevölkerungsgruppen an anderen, völlig unterschiedlichen Orten wie China und Brasilien auf ähnliche Weise in die Armut getrieben worden. Davis’ Arbeit ist so überzeugend, weil er, statt mit einer rein ökonomischen Darlegung oder einer bloß humanitären Kritik aufzuwarten, Umweltbedingungen und politische Ökonomie zusammendenkt.
Historische Berichte von Hungersnöten kreuzen sich mit dem neu aufkommenden, eng verwandten interdisziplinären Bereich der politischen Ökologie, der sich mit ökologischen Ungleichheiten, Konflikten und den daraus resultierenden ökologischen Ungerechtigkeiten beschäftigt. Dieser fächerübergreifende Ansatz, der mit politischen Begriffen Umweltveränderungen beschreibt, definiert die politische Ökologie als Bereich, in dem der Versuch gemacht wird, ökologische Phänomene in Begriffen der sozialen Gerechtigkeit zu erklären. Félix Guattari schneidet den Begriff der „politischen Ökologie“ sogar in dem Sinne zu, dass die Ökologie das Politische bedingt, wenn er für eine Ökologie eintritt, die „die Gesamtheit der Subjektivität und der Machtgebilde des Kapitalismus in Frage [stellt], welch letztere keineswegs die Gewißheit haben, den Sieg davonzutragen wie im letzten Jahrzehnt.“ Eine so geartete Ökologie, die sich damit befasst, wie wir auf der Erde überleben können – welche Lebensweisen dafür nötig sind –, besitzt sowohl eine mentale als auch eine globale Dimension. Als solche versucht sie jedoch nicht, der Ökologie ein Gepräge zu geben, das einzig mit der Umwelt zu tun hat – das ist ein Anliegen, das mit dem Bild einer kleinen naturliebenden Minderheit konnotiert ist. Ökologie als Begriff, der von griechisch oikos abgeleitet ist und so viel wie Haus, Habitat, Milieu bedeutet, verschmilzt Umweltbelange mit menschlicher Subjektivität und sozialen Beziehungen, um zu einer pragmatischen Befreiung, zu einer Ökosophie, zu gelangen. Guattari ebnet den Weg zur Entwicklung eines von mir so bezeichneten „ökopolitischen Bewusstseins“, das auf eine Ökologik der Selbstbestimmung ausgerichtet ist.
Guattari fordert, sich „transversal“ durch die drei Ökologien Psyche, Sozius und Umwelt zu schlagen und zwar gegen eine Diskreditierung des Denkens und die Langeweile „repetitiver Sackgassen“. Er plädiert dafür, dass wir uns „resingularisieren“. Diese Demokratisierung des Denkens ist in der Lage, neue Formen des Engagements auszubilden und neue Wege des Zusammenlebens anzubieten. Im transversalen Denken kann die Natur nicht von der Kultur getrennt werden. Dieser Ansatz sieht sich selbstverständlich von territorialen Konflikten und geopolitischen Manövern aufs Heftigste infrage gestellt. Als Beispiel möge das Tun der globalen politischen Klasse dienen, die die ökologische Krise durch eine ökonomische Brille betrachtet und, statt sich das Ende des Kapitalismus vorzustellen, damit zufrieden ist, Emissionshandel zu treiben.
Eine eher unerwartete Quelle einer transversalen Perspektive ist das Fragment einer Geschichte der Zukunft, ein Roman aus dem Jahre 1896 und das einzige fiktionale Werk des französischen Soziologen und Kriminologen Gabriel Tarde. Das Buch beschreibt, wie nach einem katastrophalen weltweiten Krieg die Erde in den Griff einer monokulturellen Globalisierung gerät. Alle sprechen die gleiche Sprache, eine Version des Griechischen. Wissenschaft und Technik haben nie gesehene Fortschritte gemacht, sodass die Wissenschaftler kaum mehr etwas zu entdecken oder zu verbessern haben. Seit einiger Zeit jedoch warnen sie davor, dass die Hitze der Sonne nachlässt – Warnungen, die von Politiker_innen wie Bürger_innen weitgehend ignoriert werden. In einer eschatologischen Wende werden die Voraussagen wahr: Die Sonne, ein Quell nie versiegender Energie, verdüstert sich zu einem matten Glühen, und alles Leben ist vom Aussterben bedroht.
Als die Oberfläche des Planeten immer schneller abkühlt und unbewohnbar wird, begibt sich eine Gruppe von Überlebenden in den Untergrund und beginnt ein neues, tellurisches Leben. In einer radikalen Neuausrichtung, die die menschliche und die Naturgeschichte zu einer Einheit verschmilzt, gelangt Tarde zu der Vision, dass die Menschen in enger Affinität zu Mineralien und Gestein leben. Die beiden Wissenschaften, die für die Ausformung dieser Existenz maßgeblich sind, stehen für die Verbindung von Materie und Geist – es sind Chemie und Psychologie.
Unsere Chemiker, die wohl durch die Liebe inspiriert und in der Natur der chemischen Wahlverwandtschaften besser unterrichtet waren, bahnten sich einen Weg in das Innenleben der Moleküle, deren Wünsche, Ideen und eine unter dem trügerischen Anschein von Konformität verborgene individuelle Physiognomie sie uns enthüllten. So entwarfen sie also für uns die Psychologie des Atoms, während uns unsere Psychologen die Atomtheorie des Selbst erklärten.
Die Menschheit kann nur überleben, wenn sie sich radikal wandelt, wenn sie neue geosoziale Formierungen schafft. Zwischen Tardes Ära, dem Ende des 19. Jahrhunderts, das vom Aufstieg der Naturwissenschaften und des Nationalstaats geprägt war, und der gegenwärtigen Globalisierung können Parallelen gezogen werden. Heute hat uns die neoliberale Globalisierung zwischen den beiden Polen des sogenannten Fortschritts – Technowissenschaft und liberaler Staat – in eine Katastrophe geführt, eine Katastrophe, die nicht als singuläres gewaltiges eschatologisches Ereignis eintritt, sondern graduell erfolgt. Sie entfaltet sich bereits an den Fronten der ökologischen Gewalt und des Klimawandels im Globalen Süden. Laut Guattari werden wir „ohne eine Veränderung der Mentalitäten, ohne das Vorantreiben einer neuen Kunst, in Gesellschaft zu leben“, nicht in der Lage sein, Lösungen für die ökologische Krise zu ersinnen.
Politische Geologie
Gauri Gill und Rajesh Chaitya Vangad, Factory and River (2014), aus der Serie „Fields of Sight“, Tinte auf archivarischem Pigmentdruck, 40,6 × 61 cm
Peter Sloterdijk, Luftbeben. An den Quellen des Terrors, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 7 f.
Gregory Bateson, Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische und epistemologische Perspektiven, übers. v. Hans Günter Holl, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, S. 620.
Anja Kanngieser, „Geopolitics and the Anthropocene: Five Propositions for Sound“, in: GeoHumanities, 1, 2015, S. 3.
Hannah Arendt, Macht und Gewalt, München: Piper 1970.
Siehe Will Steffen u. a., „The Anthropocene: From Global Change to Planetary Stewardship“, in: Ambio, 40, 7, November 2011, S. 739–761; „The Anthropocene: Are Humans Now Overwhelming the Great Forces of Nature?“, in: Ambio, 36, 8, Dezember 2007, S. 614–621; Jan Zalasiewicz u. a., „The Anthropocene: A New Epoch of Geological Time?“, in: Philosophical Transactions of the Royal Society A 369, 1938, März 2011, S. 837.
Donna Haraway, „Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective“, in: Feminist Studies, 14, 3, Herbst 1988, S. 582.
Achille Mbembe, „Decolonizing Knowledge and the Question of the Archive“, Wits Institute for Social and Economic Research. Online: http://wiser.wits.ac.za/system/files/Achille%20Mbembe%20-%20Decolonizing%20Knowledge%20and%20the%20Question%20of%20the%20Archive.pdf.
Es gibt die Forderung, die Epoche stattdessen „Kapitalozän“ zu nennen. Siehe Jason Moore, Capitalism in the Web of Life: Ecology and the Accumulation of Capital, New York: Verso 2015, und Anthropocene or Capitalocene: Nature, History, and the Crisis of Capitalism?, Oakland: PM Press 2016. Das Konzept des Kapitalozäns klingt auch in Anna Tsings Begriff „Verwertungsakkumulation“ an, wonach der Kapitalismus Wert aus Dingen produziert, die er nicht selbst herstellen kann, seien es Kohle, Wale oder menschliche Arbeit. Tsings Argument ließe sich kritisieren, indem wir mit Bataille sagen, dass alles Leben, und mit Sicherheit das menschliche Leben, von der Sonnenenergie abhängt, also immer von außen gespeist wird, und uns als Gabe und nicht in Form eines Tauschhandels überlassen ist. Siehe Tsing, The Mushroom at the End of the World: On the Possibility of Life in Capitalist Ruins, Princeton: Princeton University Press 2015; und Georges Bataille, Der verfemte Teil, in: Das theoretische Werk I: Die Aufhebung der Ökonomie, übers. v. Traugott König und Heinz Abosch, München: Rogner & Bernhard 1975.
Madhav Gadgil und Ramachandra Guha, This Fissured Land: An Ecological History of India, Berkeley: University of California Press 1993.
Anil Agarwal und Sunita Narain, Globale Erwärmung in einer ungleichen Welt. Ein Fall von Öko-Kolonialismus, übers. v. Birgitt Krumböck und Elisabeth Kreuz, Herrsching: Durga Press 1992.
Im Französischen bedeutet das Wort droit sowohl Recht als auch Gesetz.
Edward Said, Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht, übers. v. Hans-Horst Henschen, Frankfurt am Main: S. Fischer 1994, S. 41.
Bill McKibben, Das Ende der Natur. Die globale Umweltkrise bedroht unser Überleben, übers. v. Udo Rennert, München: Piper 1992, S. 58.
Félix Guattari, Die drei Ökologien, übers. v. Alec A. Schaerer, Wien: Passagen Verlag 2016.
Forensic Architecture (Hrsg.), Forensis: The Architecture of Public Truth, Berlin: Sternberg Press 2014.
Siehe z. B. Jason W. Moores Geschichte des Kapitalismus und seine Beziehung zur Natur, Capitalism in the Web of Life: Ecology and the Accumulation of Capital, New York: Verso 2015.
In seiner klassischen Schrift Uneven Development: Nature, Capital, and the Production of Space hält Neil Smith die ungleiche Entwicklung für einen Widerspruch, der gleichwohl den Kapitalismus antreibt, und zwar aus einer Logik rührend, die einerseits der Frage folgt, „wie Kapital fortgesetzt so in eine konstruierte Umwelt investiert werden kann, dass es Mehrwert produziert“ und andererseits der Frage, „wie aus einer konstruierten Umwelt stetig Kapital abgezogen und in die Lage versetzt werden kann, sich zu verlagern, um in den Vorteil höherer Profitraten zu gelangen“. Siehe Smith, Uneven Development: Nature, Capital, and the Production of Space, Cambridge, MA: Basil Blackwell 1990, S. 6.
Siehe Sugata Bose, A Hundred Horizons: The Indian Ocean in the Age of Global Empire, Cambridge, MA: Harvard University Press 2009; Rohan D’Souza, „Water in British India: The Making of a ‘Colonial Hydrology’“, in: History Compass, 4, 4, 2006, S. 621–628; Gadgil und Guha, This Fissured Land; Iftekhar Iqbal, The Bengal Delta: Ecology, State and Social Change 1840–1943, Houndmills: Palgrave Macmillan 2010.
Mike Davis, Die Geburt der Dritten Welt. Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter, übers. v. Ingrid Scherf, Berlin: Assoziation A 2004, S. 18.
El Niño, auch El Niño Southern Oscillation (ENSO), verursacht aufgrund von veränderten Zirkulationen der Luftmassen und wechselnder Temperaturen der Ozeane periodische Schwankungen in den tropischen Wettersystemen, die weltweite Auswirkungen haben.
Eduardo Viveiros de Castro, „Images of Nature and Society in Amazonian Ethnology“, in: Annual Review of Anthropology, 25, Oktober 1996, S. 179–200.
Davis, Die Geburt der Dritten Welt, S. 18.
Ebd.
Siehe Amartya Sen, Poverty and Famines: An Essay on Entitlement and Deprivation, Oxford: Clarendon Press 1982, und Alex de Waal, Famine Crimes: Politics and the Disaster Relief Industry in Africa, Oxford: James Currey 1997.
Siehe z. B. Michael Watts’ klassische Untersuchung der Nahrungsmittelkrise der 1970er Jahre im Sahel: Silent Violence: Food, Famine, and Peasantry in Northern Nigeria, Berkeley: University of California Press 1983.
Tim Forsyth, „Political Ecology and the Epistemology of Social Justice“, in: Geoforum, 39, 2, Mai 2008, S. 756–764.
Guattari, Die drei Ökologien, S. 51.
Es ist bezeichnend, dass Guattari, als er 1989 Die drei Ökologien schreibt, niemand anderen als Donald Trump, der damals nur ein Projektentwickler war, herauspickt und mit einer monströsen Alge vergleicht, die Quartiere New Yorks oder Atlantic Citys „instandsetzt“, die Mieten hochtreibt und mittellose Familien vertreibt, welche „verdammt sind, ‚homeless‘ zu werden, was etwa den toten Fischen in der Umwelt-Ökologie entspricht“ (S. 36). Guattaris ethisch-ästhetisches Narrativ von Trump, der mutierten Alge, nimmt voraus, wie 2016 eben jener Trump die Fernsehbildschirme in den USA so mit seiner Präsenz sättigt, dass er für die Präsidentschaft kandidieren kann.
Siehe Félix Guattari, Chaosmose, übers. v. Thomas Wäckerle, Wien: Turia + Kant 2014, S. 14.
Gabriel Tarde, Underground Man, London: Duckworth & Co. 1905, S. 168–169. Deutsch: Fragment einer Geschichte der Zukunft, übers. v. Horst Brühmann, Konstanz: University Press 2015.
Guattari, Chaosmose, S. 32.
Nigel Clark, Inhuman Nature: Sociable Life on a Dynamic Planet, London: SAGE 2011, S. 6.
Michel Serres, Biogea, Minneapolis: Univocal Publishing 2012, S. 29 (Originaltitel: Biogée, Brest: Éditions dialogues 2010).
Ebd.
Clark, Inhuman Nature, S. 219.
In Philosophie, Geografie und Anthropologie, in der Wissenschafts- und Technikforschung bis hin zur zeitgenössischen Kunst besteht ein neuerliches Interesse am Materialismus. Jane Bennett z. B. hat gefordert, den Dingen eine pulsierende Materialität zuzuerkennen – die Dinge seien von einer „Vitalität“ erfüllt, die es ihnen erlaube, „als Quasi-Agenten oder -Kräfte mit ganz eigenen Trajektorien, Neigungen oder Tendenzen zu agieren“. Siehe Bennett, Vibrant Matter: A Political Ecology of Things, Durham, NC: Duke University Press 2010, S. viii. Der Anthropologe Martin Holbraad bemerkt, dass die Emanzipation der Dinge im Einklang mit postkolonialistischen Theorien steht; der Titel seines Essays „Can the Thing Speak?“ spielt auf Gayatri Chakravorty Spivaks einflussreichen Essay über die Politik des Schweigens an, auf jene ideologischen Schranken, mit denen die von der politischen Repräsentation Ausgeschlossenen in einem kapitalistischen System, das durch Ausschließung funktioniert, konfrontiert sind. Siehe Holbraad, „Can the Thing Speak?“, in: Working Papers, 7, OAC Press 2011. Online: http://openanthcoop.net/press/2011/01/12/can-the-thing-speak.
So wie der Bhola-Zyklon von 1970, der die nationale Befreiung im folgenden Jahr auslöste. Siehe Nabil Ahmed, „The Toxic House“, in: Forensis, S. 614–633.
Gilles Deleuze und Félix Guattari, Anti-Oedipus: Kapitalismus und Schizophrenie, übers. v. Bernd Schwibs, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 177.
Boaventura de Sousa Santos, João Arriscado Nunes, Maria Paula Meneses, „Introduction: Opening Up the Canon of Knowledge and Recognition of Difference“, in: Sousa Santos (Hrsg.), Another Knowledge is Possible: Beyond Northern Epistemologies, London: Verso 2007, S. ixx–lxii, hier S. xxviii.
Sanjay Kabir Bavikatte, Stewarding the Earth: Rethinking Property and the Emergence of Biocultural Rights, Oxford: Oxford University Press 2014.