Lala Rukh
Einführung von Natasha Ginwala
Eine Tuschezeichnung mit dem Titel Hieroglyphics I: Koi ashiq kisi mehbooba se (1995) offenbart die Geheimsprache von Lala Rukh als eine Konstellation aus kalligrafischen Formen, Minimalismus und symbolischer Schrift. Den Titel ihrer Zeichnung entleiht die Künstlerin Faiz Ahmad Faiz’ Gedicht über eine Begegnung zwischen Liebendem und Geliebter und spricht in Anlehnung daran in gleichem Maße von Sehnsucht und Entfremdung. Ich möchte diese Zeichnung in Erinnerung an Roland Barthes’ Fragmente einer Sprache der Liebe (1988) als „Bild“ lesen. Barthes schreibt: „[W]ir lieben zunächst ein Bild. […] und von allen Objektzusammenstellungen ist es das Bild, das sich offenbar am besten dazu eignet, ‚zum ersten Mal‘ wahrgenommen zu werden: ein Vorhang zerreißt: was noch nie zuvor gesehen worden ist, wird als Ganzes entdeckt und deshalb mit den Augen verschlungen: […] das Bild heiligt das Objekt, das ich lieben werde.“1 Die Vorstellung des Bildes beinhaltet eine mündliche Äußerung und die Absicht der Umsetzung. Die Zeit des Liebhabers, so führt Barthes weiter aus, wird für eine Weile ausgesetzt, ist beschäftigt mit der Aufgabe des Wartens.
In Lalas Zeichnung erzeugt diese Verschriftung eines Bildes turbulente Wirbel jenseits des plötzlichen Begreifens. Man muss warten, bis ihr Sinn sich löst, und dazu Überlegungen über das Schreiben als Projektionsfläche anstellen – als Ort, an dem Verlangen und Erinnerung ineinanderfließen und bisweilen kollidieren können.2 Das Bild stellt sich in der Zeichnung als eine Abfolge dar, die die sich ansammelnden Elemente peu à peu gegenwärtig werden lässt: der Mondschein und die Meeresoberfläche als kollektiver Anblick. In Hieroglyphics III: Roshniyon ka Shahar (2005) zeichnet ihr qalam [Schreibrohr] die hellen silbernen Tupfen und gesprenkelten Schatten, lichtbrechende Gipfel und die blendende, gleichwohl schwer zu fassende Lichtkrümmung und verwandelt zugleich den Horizont einer Metropole. Die Landschaft Karachis wird hier durch ihr dichtes, leuchtendes Muster betrachtet – Zeichnen als Kartografie.
Lala erlernte Kalligrafie von einem Meister, als sie Leiterin des Masterprogramms in Bildender Kunst am National College of Arts in Lahore war; während sie also einerseits eine Künstlergeneration ausbildete, ließ sie sich andererseits auf ein neues Paradigma der Unterweisung und des Lernens ein. Die komplexe Kunst der Kalligrafie verlangt ein sorgfältiges Üben, bei dem die Künstlerin das Schreiben mit ihren Instrumenten geradezu wie eine Musikerin exerziert. Der Begriff aus der Hindustani-Musik für das stetige Perfektionieren des eigenen Könnens durch konsequentes Üben lautet Riyaaz. Wenn ich Lalas über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren entstandene Serie „Hieroglyphics“ betrachte, stelle ich mir ihr Riyaaz wie das langsame Ansammeln eines von ihr selbst erfundenen verschlüsselten Alphabets vor.
Der Vater der Künstlerin, Hayat Ahmad Khan, rief 1959 mit einigen Freunden die All Pakistan Music Conference ins Leben, bei der er berühmte und weniger bekannte Musiker aus unterschiedlichsten Schulen und Stilen zusammenbrachte. Dieses Forum, das in einem Amphitheater im historischen Lawrence-Gardens-Park von Lahore (Bagh-e-Jinnah) stattfand und bis in die Nacht hinein kostenlose öffentliche Konzerte bot, ist seitdem ein Hort der Musikszene; er begründet ihre Pluralität und entwickelt Klangkulturen in der Stadt.3 Lala war nicht nur an der Organisation dieser Konzerte beteiligt, sondern sie archiviert bis heute ihr Vermächtnis.
In ihren eigenen Arbeiten bedient sie sich bisweilen der intuitiven Sogwirkung einer Klanggrammatik; man möchte geradezu ein Ohr an das Bild halten, während dieses das perkussive System des taal und die Klangverläufe in Piktogramme übersetzt. Taktschläge und melodische Strukturen drücken sich in unerwarteten symbolischen Gefällen oder Tonleitern aus. Betrachten wir etwa das auf Kohlepapier entstandene Hieroglyphics V: Qat-jhaptaal (2008), zu dem Lala bemerkt: „Hier betrachte ich sowohl das qat als auch das taal, die Grundeinheit der Kalligrafie und die Grundeinheit rhythmischer Muster.“ Durch das motorische Lernen ornamentaler Handschrift wendet sie eine Sprache grafischer Partituren an; gleichwohl sind die Zeichen ein konzeptuelles Porträt und bilden eine „Ähnlichkeit“, die möglicherweise nie eindeutig gelesen werden kann.
Notationssysteme finden auch in Teile der Landschaft Eingang. Lalas Arbeiten berufen sich auf den menschlichen Körper und die sich verschiebenden Grenzen der Erde; sie verquicken Ausdehnung und Beschränkung, Stillstand und Bewegung. Nightscape II (2011) ist eine optische Herausforderung, die sich zum Nachthimmel – einem Terrain, auf dem sie ungehindert umherstreifen kann – als Verbündeten und zur Dunkelheit als einem zu entziffernden Lexikon bekennt. Beim Anblick einer dreidimensionalen Landkarte von dunkler Materie im Universum empfand ich in den grafischen Linien, die ein Flimmern andeuten und dann fast nichts werden, eine Verwandtschaft mit der „Nightscapes“-Serie.
Während sich Lalas künstlerische Praxis in strenger Abgeschiedenheit entwickelt, ist die Künstlerin sich des radikalen Potenzials der Kollektivität durchaus bewusst, da sie als Mitglied des Women’s Action Forum (WAF) – einer der wichtigsten Plattformen für Frauenrechte und feministische Strömungen im Global South – als Aktivistin engagiert. Sie organisiert nicht nur Protestkundgebungen, öffentliche Treffen und Workshops, sondern definiert auch die grafische Sprache der pakistanischen Frauenbewegung, wie sie allen voran die WAF und andere Organisationen seit den 1980er Jahren umsetzen.
Auf einem zu Beginn ihrer künstlerischen Laufbahn entstandenen Poster mit dem Titel Masaawi Haqooq (1983/84), mit dem sie Gleichberechtigung einforderte, ist eine gefesselte, verschleierte Frau zu sehen, die an die frauenfeindlichen Gesetze und die Islamisierung während des Militärregimes von General Zia-ul-Haq erinnert. Ein späteres Poster richtet den Blick auf Verbrechen gegen Frauen und montiert Zeitungsberichte zu einer Collage, um das Ausmaß der Gewalt gegen Frauen in allen Generationen und Gesellschaftsschichten anzuprangern. In einem brillanten Kalender für das Jahr 1985 bedient sich Lala der Fotocollagetechnik: Eine Gruppe von Demonstrantinnen ist hier auf das Raster projiziert, als bahnten sich die Frauen einen gemeinsamen Weg, als seien sie verbunden durch eine Zeit des Zusammenseins, die an Solidarität sowie die kleinen alltäglichen Dinge des Kampfes erinnert. Die WAF orientierte sich außerdem an führenden Feministinnen wie der marokkanischen Soziologin Fatima Mernissi, deren Überlegungen zur Gender-Dynamik, zum Schleier und zur „Erzeugung falscher Hadithen“4 großen Einfluss auf die Bewegung hatten. Ein weiteres Protestposter, das mit einer Tschadorverbrennung eine zwar kontroverse, aber unbedingt rebellische Handlung zeigt, ruft Mernissis Schriften zum Schleier in Erinnerung. Wie Lala erklärt, fand diese Verbrennung „während einer Demonstration statt, die den Mord an zwei Schwestern in Karachi – den sogenannten Fall der Masoom-Schwestern – verurteilte. Das Poster entstand für die erste muslimische Frauenkonferenz einer kleinen Organisation namens Simorgh Women’s Resource and Publication Centre [in Lahore].“
Bei einem kürzlich stattgefundenen Gespräch in ihrer Wohnung in Lahore berichtete Lala, wie ihr Hinterhof in eine Siebdruck-Werkstatt für die Verbreitung von Materialien des WAF verwandelt wurde und daneben als Treffpunkt für Aktivistinnengruppen und Schulungsveranstaltungen diente. Später entwickelte sie ein Lehrbuch für den Siebdruck mit dem Titel In Our Own Backyard, das auf Englisch und Urdu erschien, und bereiste den gesamten indischen Subkontinent, um diese Drucktechnik als selbstorganisiertes Medium zur Verbreitung radikaler Ideen und Kampagnen unter Führung von Aktivist_innengruppen, Arbeiter_inneninitiativen und Graswurzelgruppen zur Stärkung von Frauen zu vermitteln.5
Der erste Teil der „Mirror Image“-Serie entstand 1997, nachdem Lala aufgefordert worden war, auf die Zerstörung der Babri-Moschee durch extremistische Hindus am 6. Dezember 1992 in Nordindien zu reagieren. Der Vorfall löste Massenunruhen in Indien und Pakistan aus und führte zu Vergeltungsschlägen in Form von Tempelschändungen in Lahore jenseits der Grenze. Die Künstlerin erlebte diese Vorfälle eskalierender Feindseligkeiten mit und beschloss, Zeitungsbilder von bedrohten heiligen Stätten in Ayodhya und Lahore paarweise anzuordnen. Sie schwärzte dann die Details und verwandelte das Bildmaterial in abstrakte Studien auf Millimeterpapier, indem sie die nicht auszumachenden Ränder struktureller Gewalt durch bewusstes Auslöschen grafisch darstellte. Wenn Terror mit der beschleunigten Verbreitung von Bildern und einer abstumpfenden Ikonophilie verknüpft ist, liefert dieser Modus der Subtraktion vielleicht ein fantasievolles Instrument, um an Anstand und Gerechtigkeit zu appellieren. „Mirror Image“ hallt als Kommentar zum unverständlichen Wesen der Aggression von Gemeinschaften und der Wellen von Nationalismus wider, die die Beziehungen in Südasien und der gesamten heutigen Welt bis heute prägen.
– Natasha Ginwala
Aus dem Englischen von Claudia Kotte
1 Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, übers. v. Hans-Horst Henschen, Frankfurt: Suhrkamp 1988, S. 133.
2 Mariah Lookman, Interview mit Lala Rukh in Sharjah Biennial 12: The Past, the Present, the Possible, Ausst. Kat. Sharjah Art Foundation, Sharjah 2015.
3 E-Mail-Korrespondenz mit der Autorin, Mai 2016.
4 Fatema Mernissi, Der politische Harem: Mohammed und die Frauen, übers. v. Veronika Kabis-Alamba, Freiburg: Herder 1998, S. 17.
5 Dieser Abschnitt ist ein Auszug aus meinem Aufsatz „Lala: Lines of Agency“, in: Marg, 68, 1, September 2016. Er erscheint hier mit Genehmigung der Herausgeber.