Revolutionäre Arbeit: Pandurang Khankhoje und Tina Modotti
Mein Vater, der Agrarwissenschaftler und politische Revolutionär Pandurang Khankhoje, wurde 1886 als Sohn eines marathischen Vakil, der Petitionen am Gerichtshof verfasste, und als Enkel eines Revolutionärs, der beim indischen Aufstand von 1857 dabei war, im kolonialen Britisch-Indien geboren. Als Kind einer Brahmanenfamilie, die Bildung über alles schätzte, wurde Khankhoje von seinem Großvater und Mentor zu einer kritischen Haltung gegenüber der Ungleichheit und Gewalt der britischen Kolonialherrschaft erzogen. Die indische Hungersnot von 1896/97, die sowohl auf den ausgebliebenen Monsun als auch auf das von den Briten gesteuerte Versagen der Verwaltung zurückzuführen war, erschütterte Khankhoje so tief, dass er beschloss, revolutionäre und agrarwissenschaftliche Interessen zu verbinden und seine Karriere in den Dienst sozialer Gerechtigkeit zu stellen.
Als Student war Khankhoje ein glühender Bewunderer der Französischen Revolution und des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges. Doch auch in der Heimat hatte Khankhoje seine Helden. Der hinduistische Reformer Swami Dayanand und seine Arya-Samaj-Bewegung, die Reformen und soziale Veränderungen forderten, wurden zum Vorbild einer jungen Studentengruppe, die von Khankhoje angeführt wurde, der, gerade einmal siebzehn Jahre alt, dafür sorgte, dass die Polizei seine Eltern vor seinen „aufwieglerischen“ Aktivitäten warnte. Indiens Unabhängigkeit wurde zu Khankhojes Ziel, das ihn in viele Teile der Welt führen würde: Japan, USA, Türkei, Syrien, Persien, Deutschland und zuletzt Mexiko. Nach dem Schulabschluss führte die erste Reise Khankhoje allerdings zu seinem Guru, Lokmanya Tilak, einem der ersten indischen Denker, der die „Swaraj“, die vollständige Selbstbestimmung, ausrief: „Swaraj ist ein Geburtsrecht, das mir zusteht.“
Indien würde erst viele Jahre und zwei welterschütternde Kriege später seine Unabhängigkeit erlangen, die letztendlich Mahatma Gandhis gewaltfreiem Widerstand zu verdanken war. Trotzdem kann Freiheit vom Kolonialismus nicht in Tagen oder Monaten und vielleicht nicht einmal in Jahren erreicht werden. Es dauerte Jahrzehnte, den Widerstand zu verankern und die indische Bevölkerung mental vorzubereiten. Es begann mit dem Indischen Aufstand von 1857, als die Sepoys der Britischen Ostindien-Kompanie rebellierten. Er wird häufig als der Erste Unabhängigkeitskrieg bezeichnet: Viele Widerstandsbewegungen brachen in Indien aus, bevor die Kolonialherrschaft 1947 ihr Ende nahm. Auch der zum bewaffneten Kampf in Indien entschlossene Khankhoje war an einer dieser Bewegungen maßgeblich beteiligt: der Ghadar Partei.
Allerdings brach Khankhoje auf Anraten von Tilak zuerst nach Japan auf. Der kurz zuvor errungene Sieg der Kaiserlich Japanischen Marine über die Kaiserlich Russische Marine bei Port Arthur im Jahr 1904 und die damit verbundene Demütigung einer westlichen durch eine asiatische Macht hatte es in moderner Zeit noch nicht gegeben. Dort traf Khankhoje auf Ōkuma Shigenobu, den ehemaligen japanischen Premierminister und damaligen Vorsitzenden der Indo-Japanischen Stiftung, der ihm nicht mehr als Sympathie zusicherte. Mittellos traf Khankhoje die im Exil lebendenden chinesischen Revolutionäre von Sun Yat-sen, dem ersten Präsidenten und Gründungsvater der Volksrepublik China. Sie versprachen finanzielle Hilfe und Ausbildung in der Kriegskunst im Austausch für Englischunterricht. Schließlich kam es zu einem folgenreichen Zusammentreffen mit Dr. Sun persönlich, der Khankhojes revolutionäre Bestrebungen ermunterte. Er war es auch, der die Bedeutung der Landwirtschaft für die Entwicklung einer Nation betonte. Dieses Gespräch würde Khankhoje und den Verlauf seiner privaten und beruflichen Zukunft tiefgreifend prägen.
Damals waren Reisepässe unüblich. Menschen wiesen sich auf Reisen mit Erlaubnisscheinen/Zulassungsbescheinigungen und Seefahrtbüchern aus oder hatten eben nichts vorzuweisen. Auf der Flucht vor der Kolonialpolizei hatte Khankhoje Indien ohne Papiere verlassen. Nach und nach gab er seine sittenstrengen, brahmanischen Gewohnheiten auf, schrubbte Schiffsdecks als Hilfsarbeiter und fand Zuflucht bei den afrikanischen Arbeitern. Nach einem Jahr in Japan stieß Khankhoje auf eine Zeitungsanzeige, in der Hilfskräfte für den Wiederaufbau von San Francisco nach dem Erdbeben von 1906 gesucht wurden. Mit Hilfe seiner chinesischen Freunde befand er sich schon bald auf dem Weg in die Vereinigten Staaten, im Bauch eines Schiffes, das Arbeiter nach San Francisco transportierte. Dort angekommen wurde Khankhoje auf jeder Baustelle wegen seiner schwachen Konstitution abgelehnt. Er durchlebte die ganze Skala von Berufserfahrungen eines ungelernten Immigranten in den Vereinigten Staaten und arbeitete als Kellner, Reinigungs- und Spülkraft sowie als Krankenpfleger. Nachdem er genug Geld für die College-Gebühren zusammen hatte, schrieb er sich an der University of California, Berkeley im Studiengang Agrarwissenschaften ein. Doch schon nach einem Jahr in Berkeley trat Khankhoje der benachbarten Mount Tamalpais Militärakademie bei, weil er sie für geeigneter hielt, ihn auf seine angestrebte Führungsposition im bewaffneten Kampf gegen die Briten vorzubereiten. In seinen Ferien besuchte er gezielt indische Arbeitsimmigranten auf den nahegelegenen Farmen und bewegte sie dazu, sich seinen Reihen anzuschließen und seiner allmählich Gestalt annehmenden Idee zu folgen: der Gründung einer indischen Unabhängigkeits-Liga in den Vereinigten Staaten.
Der Beginn des 20. Jahrhunderts brachte große Veränderungen für die gesamte koloniale Welt mit sich. Der Imperialismus starb eines langsamen Todes. Im 19. Jahrhundert hatten viele lateinamerikanische Länder ihre Unabhängigkeit von Spanien erkämpft. Anfang des 20. Jahrhunderts kämpften die Iren für ihre Freiheit von der britischen Krone. Auch Mount Tamalpais wurde von einem pensionierten Offizier der Irischen Armee angeführt, der Khankhoje unterstützte. Als er schließlich im Jahr 1910 von Mount Tamalpais graduierte, befand sich die Mexikanische Revolution gerade auf ihrem Höhepunkt. Häufig fälschlicherweise selbst für einen Mexikaner gehalten, freundete sich Khankhoje mit vielen mexikanischen Revolutionären an, die ihm ein Offiziersanwärterkommilitone vorstellte. Mit der tatsächlichen Umgestaltung der Welt wandelte sich auch die Philosophie politischer Führungsgewalt grundlegend: Diktaturen wurden gestürzt, und Demokratien waren auf dem Vormarsch. Die kolonisierte Welt wurde unruhig. Aus Khankhojes Sicht musste die Organisation eines bewaffneten Kampfes für die indische Freiheit und Unabhängigkeit vom Kolonialismus jetzt beginnen.
Nichtsdestotrotz hatte sich Khankhoje Dr. Suns Ratschläge zu Herzen genommen und machte sich erst einmal auf den Weg nach Oregon, wo er Seite an Seite mit indischen Arbeitern in einem Sägewerk schuftete. Und an den Sonntagen ermunterte er seine Kollegen, sich für die indische Selbstbestimmung einzusetzen. Die Indian Independence League wurde formal in Portland begründet. Sohan Singh Bakhna wurde zum Vorsitzenden der Organisation ernannt, Pandit Kashiram, der Geschäftsführer des Sägewerks, zum Schatzmeister berufen. Zum Ende des Jahres zählte man mehr als 400 Freiwillige. Während seiner Recherchen über eine Organisation von oppositionellen Sikh-Bauern in British Columbia begegnete Khankhoje später auch Lala Har Dayal, einem angesehenen indischen Intellektuellen, der damals an der Stanford University unterrichtete. Har Dayal hatte einen Propagandafeldzug initiiert und veröffentlichte eine Zeitung mit patriotischen Liedern und Artikeln in den verschiedenen Landessprachen Indiens. Aus dieser Keimzelle ging 1913 die Ghadar Partei hervor.
Während Har Dayal, ein brillanter Redner, auszog, um Waffen und Munition für die indischen Rebellen zu beschaffen, ging Khankhoje ein Bündnis mit den Deutschen ein, die heimlich einen Krieg vorbereiteten. Als Teil seines Engagements für die Ghadar-Bewegung begann er, eine militante Gruppe zu organisieren, die sich aus ehemaligen Armeeangehörigen zusammensetzte, und machte so Gebrauch von seinen gerade in Mount Tamalpais erworbenen militärischen Fachkenntnissen. Er trainierte seine Freiwilligen auf einem abgelegenen Bauernhof, der einem „Ghadriten“ gehörte. Ihre erklärte Absicht waren Überfälle auf indischen Polizeieinrichtungen und Angriffe auf Waffendepots, um so den Briten nach dem Vorbild der Mexikanischen Revolution durch eine Aneinanderreihung von militärischen Vorfällen Schwierigkeiten zu bereiten.
Kurz vor dem unheilvollen Krieg, der der Welt im Jahr 1914 bevorstand, waren die indischen Freiwilligen so weit, um in Indien Unruhe zu stiften. Es war eine Phase der Aktivität und der Massenmobilisierung. Als die indischen Freiwilligen nach Indien aufbrachen, wurde Har Dayal verhaftet und flüchtete in die Schweiz. Und als Khankhoje erfuhr, dass die Deutschen ein Treffen mit indischen Aktivisten in Konstantinopel planten, sprang er auf den nächsten Dampfer, um sich ihnen anzuschließen. Sein Plan war der Umsturz der indischen Truppen an der indisch-afghanischen Grenze. Die Deutschen planten zwar Expeditionen nach Afghanistan und in den Iran (sowie die Eröffnung einer dritten Front im Mittleren Osten), um die Ölversorgung zu kappen und die britischen Streitkräfte zu verwirren, doch Kaiser Wilhelm II. machte keine Anstalten, den Indern bei ihrem Unabhängigkeitskampf zu helfen; ihm ging es nur um Ablenkung. Schließlich schloss sich Khankhoje der von Wilhelm Wassmuss angeführten Expedition an. Der häufig für einen Perser gehaltene „deutsche Lawrence von Arabien“ führte die Gefechte gegen die Briten an. So bekämpfte Khankhoje die Briten und baute allmählich eine Armee aus Rekruten auf, die über das indische Belutschistan die Grenze nach Indien überqueren sollten. Doch während er gerade auf eine Schiffsladung voller Freiwilliger aus den Vereinigten Staaten und auf die Waffen wartete, die die Deutschen ihm zugesichert hatten, wurde Khankhoje verwundet. Er fand Zuflucht bei den Kaschgai-Stämmen, mit denen er Freundschaft geschlossen hatte und die ihn ein Jahr lang gesund pflegten.
In der Zwischenzeit endete der von den Ghadar-Freiwilligen in Indien geführte abenteuerliche Krieg mit Strafprozessen und Hinrichtungen. Tausende indischer Soldaten waren für den Einsatz im Ersten Weltkrieg rekrutiert worden und die Loyalitäten verschoben sich. Alles kam zum Ende, aber erst als die britisch-indische Regierung eine Reihe von grausamen Repressalien durchgesetzt hatte. Vom Geheimdienst gejagt beschloss Khankhoje, sich der Hauptlinie der indischen Unabhängigkeitsbewegung anzuschließen, und reiste nach Paris, um Madame Bhikaji Cama zu treffen, eine parsische Patriotin, die ihn nach Deutschland weiterleitete. Virendranath Chattopadhyaya, der Bruder der renommierten indischen Dichterin Sarojini Naidu, auch liebevoll „Chatto“ genannt, befand sich in Berlin, wo er eine Gruppe Inder anführte, die für die Selbstbestimmung kämpften. Nun war Khankhoje wieder in seinem Element.
Nach der Russischen Revolution im Jahr 1917 und Lenins Gründung der Kommunistischen Internationalen, kurz Komintern, beschlossen die Inder, Lenin um Hilfe zu ersuchen. Der Delegation wurde zwar der Zutritt verweigert, doch Khankhoje erhielt eine exklusive Audienz; der russische Führer wollte sich über die Notlage der indischen Bauern informieren. Lenin und Khankhoje unterhielten sich ausführlich. Es stellte sich heraus, dass die Russen eher in die persische Demokratiebewegung investierten. Auch wenn Khankhoje Lenins Idealen und Prinzipien tief verbunden blieb, war ihm bewusst, dass Indien für den Kommunismus nicht bereit war.
Nach Ende des Ersten Weltkriegs musste sich Khankhoje vor dem Britischen Geheimdienst fürchten. Die Gefahr der Auslieferung war allgegenwärtig. Mexiko wurde zur einzigen Alternative, und mit den mexikanischen Revolutionären im Hinterkopf, die ihn so beeindruckt hatten, setzte er Segel. Wir wissen nicht viel über die Probleme und Wirren, mit denen er sich bei seiner Ankunft in Mexiko um das Jahr 1924 herumschlagen musste, allerdings sind Briefe an seinen Vater überliefert, aus denen zu entnehmen ist, dass er fast verhungert wäre und Gemüse in Xochimilco, einem berühmten Touristenort in der Nähe von Mexiko City, anbaute. Khankhoje fand sich mit dem Gedanken ab, dass eine Rückkehr nach Indien nicht möglich war und dass er jetzt ein neues Leben aufbauen musste. Er versuchte seine alten Revolutionskameraden aus den Tagen des mexikanischen Aufstandes ausfindig zu machen; einer von ihnen, Ramón P. de Negri war zwischenzeitlich Landwirtschaftsminister, ein anderer, Luis Monzón, Senator geworden. Nach einiger Zeit wurde Khankhoje schließlich zum Professor an der Nationalen Landwirtschaftsschule in Chapingo berufen. Er hatte amerikanische Referenzen, war aber des Spanischen nicht mächtig. Doch der Linguist aus Leidenschaft brauchte nicht lange, bis er auf Pidgin-Spanisch unterrichten konnte.
Nach dem Krieg war Mexiko auf intellektueller und politischer Ebene in Bewegung. Jahre der Kolonialherrschaft, ein kurzes Intermezzo unter Habsburger Kontrolle durch Kaiser Maximilian und die dreißig Jahre Diktatur von Porfirio Díaz hatten ihr Ende in einer grausamen und gewaltsamen Revolution gefunden. Mexiko befand sich in einer Phase der Transformation. Der von Emiliano Zapata getragene Geist der Agrarrevolution herrschte auch über seinen Tod hinaus. Der mexikanische Bauer, Soldat und Industriearbeiter sowie die Unterdrückung der Massen durch die Reichen und Einflussreichen wurden zu den zentralen Themen der neuen mexikanischen Kunst, die in den Wandmalereien von Künstlern wie David Alfaro Siqueiros, José Clemente Orozco und Diego Rivera beispielhaft wurden. Der neue Bildungsminister, José Vasconcelos, auch der „Mexikanische Adler“ genannt, war ein Intellektueller mit einer Vorliebe für östliche Philosophie und Yoga. Er förderte die Volkskunst, ließ Schulen bauen und bekämpfte Analphabetismus. Er beauftragte Rivera, die Wände im Ausbildungsministerium und in der ehemaligen Kapelle der National School of Agriculture in Chapingo neu zu gestalten. Rivera, der berühmteste Wandmaler seiner Zeit, war nach einem Jahrzehnt in Europa in sein Land zurückgekehrt und prägte, auf seine ganz eigene Art, eine neue Richtung der mexikanischen Malerei. Er verschmolz spanische Einflüsse und die Kunst der mexikanischen Indigenen, um die antike Tradition aztekischer Wanddekoration wieder zum Leben zu erwecken.
Während die mexikanische Kunst und liberale Politik förmlich explodierte, geriet Khankhoje in den Strudel einer weiteren Revolution. Betrübt über das Scheitern seines Versuchs, die indische Unabhängigkeit auf den Weg zu bringen, projizierte er sein Verlangen nach Selbstbestimmung auf die mexikanische Bevölkerung. Während er in Mexiko mit den Bauern zusammenarbeitete, erkannte Khankhoje deren Bedarf, neue Techniken und wissenschaftliche Methoden zu erlernen, um die Erträge und die Qualität der Ernte zu verbessern. Er arbeitete an der Entwicklung neuer Sorten von ertragsstärkerem Mais und untersuchte Weizensorten auf ihre Ertragsstärke und Widerstandskraft gegen Dürre und Krankheiten. Pflanzengenetik wurde zum Gegenstand seiner revolutionären Bestrebungen.
Bei dieser Arbeit traf er dann auch zum ersten Mal auf die Italienerin Tina Modotti, Fotografin, politische Aktivistin, Schauspielerin und Modell. Sie war mit ihrem amerikanischen Partner und Fotografielehrer Edward Weston nach Mexiko gereist. Anfänglich machte sie Porträts von Frauen der Gesellschaft; viel gerühmt sind ihre späteren Stillleben von minimalistischen Calla-Lilien, Zuckerrohrbüscheln und schattenspendenden Palmen, doch am prominentesten sind ihre Bilder von mexikanischen und indigenen Arbeitern und Bauern. Ihre Arbeit brachte sie zunehmend mit dem Alltagsleben, der Politik und Armut der mexikanischen Bauern in Verbindung. Indessen regte Westons berühmte Serie von Kunstaktfotos von Modotti den Wandmaler Rivera dazu an, sie zum Modell seines großartigen Aktes Germination (1925) zu machen; das Tafelbild wurde Teil eines größeren Wandgemäldes in der Nationalen Landwirtschaftsschule in Chapingo.
Eben in diesem Schmelztiegel von neuen Ideen zur Kunst, Wissenschaft und Revolution begegneten sich Khankhoje, Rivera und Modotti zum ersten Mal. Khankhoje leistete Rivera Gesellschaft, während er malte, und sie sprachen über Kommunismus, sein Zusammentreffen mit Lenin und seine Vorstellungen von besseren Anbaumethoden, um den mexikanischen Bauern bei der Steigerung ihrer Erträge zu helfen. All diese Überlegungen führten schließlich im Jahr 1929 zu Khankhojes Gründung der Escuelas Libres de Agricultura, der Freien Landwirtschaftsschulen, die allmählich auf insgesamt 33 Ableger von freien Schulen in mehreren mexikanischen Bundesstaaten anwuchsen. Rivera wurde zum leidenschaftlichen Schirmherr der Unternehmung. Das Konzept der Schulen bestand darin, die Anbaumethoden durch Schulung der Bauern zu verbessern und auf der Grundlage der unterschiedlichen regionalen Bedingungen neue Anbautechniken einzuführen: zum Beispiel Kaffeeplantagen in Veracruz und Mais in der Nähe von Texcoco. Khankhojes Experimente mit Getreide zählen zu den grundlegenden Beiträgen zur Forschung und Untersuchung von optimierten Getreidesorten. Diese Forschungsergebnisse gingen viele Jahre später in die von Norman Borlaug initiierte Grüne Revolution ein. Und im Gegenzug profitierte Indien immens von der Grünen Revolution. Somit ging Khankhojes ursprünglicher Traum doch noch in Erfüllung: die ausreichende Nahrungsversorgung für die Menschen in Indien.
In der Zwischenzeit entfaltete Modotti ihr politisches Bewusstsein und wurde zur Revolutionärin: sie trat der Mexikanischen Kommunistischen Partei bei und begann sich in ihrer fotografischen Arbeit, die in politischen Zeitschriften, etwa im El Machete, publiziert wurde, auf soziale Themen zu konzentrieren. (Ihre Einzelausstellung in der Nationalbibliothek im Jahr 1929 wurde als „Die Erste Revolutionäre Fotoausstellung in Mexiko“ beworben.) Ihr Fokus galt weiterhin dem Leben der mexikanischen Indigenen. In den offiziellen Rechtsdokumenten der Freien Landwirtschaftsschulen wird Modotti als Hausfotografin aufgeführt, die alle Aktivitäten dokumentierte. Sie begleitete Khankhoje auf seinen Streifzügen ins bäuerliche Hinterland von Mexiko und fing schon bald an, herausragende Fotos für seinen Monografien, darunter Maiz Granada “Zea Mays Digitata”, su origen, evolución y cultivo (1936), zu machen. Das Buch verfolgt die Ursprünge des Maises vom einfachen Teosinte-Gras bis zum Maiskolben und stellte eine anspruchsvolle wissenschaftliche Abhandlung über Pflanzengenetik dar, illustriert mit Fotos von Modotti. Ihr Scharfblick und ihre modernistischen Kompositionen in nüchternem Schwarz-Weiß füllten die sonst eher schwerfällige wissenschaftliche Dokumentation mit Licht, Leben und Allegorie. Die Fotografie einer neuen Maissorte (ca. 1928) zeigt eine Ähre aus mehrkörnigem Mais, die sich wie ein Granatapfel öffnet. In einer einzigen großartigen Studie haucht Modotti diesem Maiskolben Leben ein, erzählt eine Geschichte, die Nahrung verspricht.
Khankojes Bestreben, den Ertrag von Pflanzen zu steigern, um die globale Ernährungssituation verbessern, berührte Modotti zutiefst. Noch bevor die Moderne Einzug hielt, dokumentierte sie eine bereits vom Aussterben bedrohte Spezies in den mexikanischen Provinzen: den kleinen Landwirt oder Bauern, der seinen Acker bestellt, um die Familie zu ernähren. Neben diesen pastoralen Arbeiten existieren aber auch Fotos von Khankhoje in seinem Labor. Ein Foto, das mit dem Pathos eines flämischen Malers der Frührenaissance komponiert ist, zeigt Khankhojes Arbeitstisch, auf dem ein paar Maissorten ausliegen; ein durchs Fenster einfallender Sonnenstrahl stellt Khankhojes ungebrochenen Fokus auf das Thema ins Rampenlicht. Das Porträt rückt den emotionalen Effekt von Nahrung, Armut und sozialer Gerechtigkeit in den Vordergrund. Es gibt noch viele andere Fotos: etwa die geometrische Anordnung vom Mais im Labor, Rivera in einem heitereren Moment, sitzend, oder Khankoje, der eine Maisähre wie die Fackel der Freiheitsstatue in die Luft streckt. Jedes Bild ist vor der Kulisse dieses geheimnisvollen goldenen Korns aufgenommen, und ganz gleich ob die ertragsstarken dürrebeständigen Weizensorten oder die verbesserten Anbaumethoden von Süßkartoffeln im fotografischen Fokus stehen, immer bekommt das unverarbeitete Nahrungsmittel für die Massen die Bedeutung, die ihm zusteht. Rivera blieb weder von Khankojes noch von Modottis Arbeit unbeeindruckt oder unbeeinflusst. Mit nahezu biblischen Untertönen machte er Khankhoje zum Mittelpunkt eines allegorischen Wandbildes für das Bildungsministerium mit dem Titel El pan nuestro (Unser Brot, 1923–1928). Es zeigt Khankhoje, wie er, am Kopfende eines Esstisches sitzend, Brot an scheinbar die gesamte Menschheit verteilt. Viel später nahm Rivera Khankhojes agrarwissenschaftliche Studien in seinem Fresko Man at the Crossroads (1932–1934) für das Rockefeller Center in New York auf. Das Gemälde zeigte Khankhojes Pflanzenexperimente in einem kleinen Detail am unteren Bildrand. (Bekanntermaßen ließen die Rockefellers das Fresko wegen einer Lenin-Darstellung vor der endgültigen Fertigstellung zerstören.)
In der Folge einer Serie von politischen Morden und Attentatsversuchen wurde Modotti 1930 von den antikommunistischen Behörden aus Mexiko ausgewiesen und nach Europa ausgeliefert, wo sie nach Moskau floh, um für die Internationale Arbeiterhilfe und die Komintern zu arbeiten. Nachdem sie sich dem Kampf im Spanischen Bürgerkrieg angeschlossen hatte, befand sich Modotti nach dessen Ende wieder in Mexiko, wo sie unter ungeklärten Umständen im Jahr 1942 verstarb. Ihr Grab in Panteón de Dolores in Mexiko City, trägt eine Inschrift von Pablo Neruda: „So rein dein sanfter Name, rein dein brüchiges Leben / Bienen, Schatten, Feuer, Schnee, Schweigen und Schaum / aus Stahl, Draht und Blütenstaub gebaut / um dein festes / dein zartes Wesen zu bilden.“
Modottis gesamtes Fotoarchiv über Khankhoje, seine botanische Forschung und agrarwissenschaftliche Arbeit blieb in seinem Besitz in Mexiko, wo er sich schließlich niederließ und eine Familie gründete. Khankhoje verließ Mexiko nur einmal, 1955, um nach Indiens Erlangung der Unabhängigkeit endgültig dorthin zurückzukehren. Allerdings machte sich bald Enttäuschung breit. Er lehnte jegliche finanzielle Unterstützung ab und wollte das Geld stattdessen landwirtschaftlichen Initiativen zuführen, die die Regierung nicht bereit war zu fördern. Er zog sich aus der Öffentlichkeit zurück, las ausführlich die Vedas und indische Philosophie und weigerte sich, in die Politik zu gehen. Schließlich verstarb Khankhoje im Jahr 1967, im Alter von einundachtzig Jahren, in Nagpur. In Indien wird er wegen seiner revolutionären Arbeit und seines Beitrags zur Ghadar-Bewegung im Gedächtnis bleiben.
Khankhojes Exil in Mexiko, sein Leben und sein Werk dort wären ohne Modottis brillante Fotos wahrscheinlich in Vergessenheit geraten. Als moderne Frau, die ganz in ihrer Zeit lebte und ihr gleichzeitig voraus war, erhob Modotti Khankhojes agrarwissenschaftliche und botanische Forschung geradezu zu einer Kunstform. Ihre modernistischen Fotos dokumentieren eine einzigartige Ära, eine Epoche der Kunst und Revolution, der Solidarität und der sozialen Bestrebungen, die für immer in der eigenartigen Schönheit, präzisen Ernsthaftigkeit und dem tiefen sozialen Bewusstsein ihrer Bilder eingekapselt bleibt.
Aus dem Englischen von Christine Richter-Nilsson und Bo Magnus Nilsson