Am 12. Juli 2015 beschließt die EU das dritte Rettungspaket für Griechenland. Genau diesen Tag wählte Aristide Antonas, um die Berliner Zentrale der Tageszeitung Die Welt und das systematische Herablassen der Gerüste für die Reinigung ihrer gläsernen Hochhausfassade zu fotografieren. Nun, Städte sind immerzu damit beschäftigt, etwas zu verkörpern – ein Klischee etwa oder einen alten Witz, ein Zwinkern, ein Kompliment, eine Umarmung, ein Messer im Rücken.
Nur wenige wissen um diese Vorgänge, wie grotesk oder subtil sie auch sein mögen. Antonas’ Arbeit hingegen widmet sich fast ausschließlich ihrer behutsamen Orchestrierung. Geboren 1963 in Athen, gehört der Künstler zu jenen Stadtplanern, die keine Lösungen oder Masterpläne offerieren, sondern Protokolle – lose Handlungsanleitungen für Abfolgen, Abläufe oder Beziehungen, die sich über die Zeit im Raum entfalten.
Diese Protokolle ähneln Regiebüchern für das Theater und sind bewusst so verfasst, dass die Autorschaft zugunsten anderer in den Hintergrund tritt. Die besten Regiebücher bestehen nicht aus kategorischen Bühnenanweisungen, sondern aus einem Text, der Spuren oder Anhaltspunkte einer Handlung enthält, die der Schauspieler oder die Schauspielerin darbieten möchte. Diese Handlung soll der eigentliche Informationsträger sein und hat bisweilen sogar Vorrang vor dem Text. Antonas entwirft ein paar Details, entscheidende Dimensionen oder Situationen, die auf bestimmte Aktivitäten schließen lassen, und überlässt – wie ein kluger Dramatiker – die Aufführung des Stücks der Stadt.
In Städten kursieren auch weitaus unbarmherzigere Codes und Handlungsanleitungen. Manche schaffen entmündigende Schlupflöcher, die die Kontrolle des Raums privaten Mächten ausliefern. Andere bestehen aus bürokratischen Gepflogenheiten fantasieloser Behörden, die lähmenden Ausgleich und Konsens fälschlicherweise höher bewerten als produktive Ungleichheit und Dissens. Manche wiederum gleichen Schrotladungen, die vor Ort und in der Ferne detonieren. Viele der Leerstände in Athen, über die Antonas nachsinnt, sind Symptome dieser Codes und Dogmen.
Die Architekturkultur hat den Aktivismus dieser urbanen Protokolle zuweilen als allzu marginal oder kurzlebig betrachtet – als kraftlosen, kompensatorischen Akt der Ohnmächtigen. Doch was, wenn sich die in den Protokollen angeregten Dispositionen – wie auch die Disposition ihres Urhebers – gerade in ihrer Zurückhaltung als wirkmächtig erweisen? Die Elemente in Antonas’ Entwürfen sind häufig ephemer. Ihre unbestimmte Natur macht sie zugleich pragmatischer und politisch hellhöriger. Als Formen einer urbanen Praxis, die über die Zeit freigesetzt werden, sind sie potenziell länger in der Stadt präsent, wo sie auf den Moment ihres Einsatzes harren. Vielleicht aber ist der urbane Chor, der am schwersten auszumachen ist, schon immer widerstandsfähiger und konkreter gewesen.
— Keller Easterling