Beau Dick erhielt den Namen „Walis Gwy Um“, was in der Sprache Kwank‘wala „großer, mächtiger Wal“ bedeutet. Seine Schnitzarbeiten schöpften aus dem Übernatürlichen, als sei alles, was er hervorbrachte, von Geist beseelt. Beau stammte aus einem kleinen Dzawada’enux-Dorf in einer Bucht an der kanadischen Nordwestküste, die auf Kwankw‘ala Gwa‘yi und auf Englisch Kingcome Inlet heißt. Gwa‘yi ist selbst heute noch weit abgelegen. Am einfachsten gelangt man mit dem Boot dorthin. Diese Abgeschiedenheit bedeutete auch, dass das Dorf in den Zeiten des Potlatsch-Verbots (1885–1951) für das Volk der Kwakwaka’wakw einen Ort der Zuflucht bot. Geschützt vor dem Blick der kolonialen Autoritäten konnten die Menschen hier die vielfältigen Zeremonien fortsetzen, die notwendig zur Einsetzung traditioneller Formen von Governance wie die Ernennung der Hereditary Chiefs, von denen Beau selbst einer war, gehörten. Genau in diesem Teil der Welt kam auch der Ethnologe Franz Boas zu dem Schluss, er sei bis an den äußersten Rand des europäischen Wissens vorgedrungen. Vermutlich aufgrund seiner Abgeschiedenheit blieb Gwa‘yi auch von der kolonialen Völkermordpolitik der Assimilation gegenüber der einheimischen Bevölkerung eher verschont als andere Gebiete. Infolgedessen war Beau von frühester Kindheit an eng mit den indigenen Traditionen vertraut.
Kunstschnitzerei und Zeremonie gehörten so für Beau von Anfang an zum Leben, und ebenso unbedingt verlangte es ihn danach, seinen eigenen Weg zu gehen. In Vancouver, wo er seine Ausbildung abschließen wollte, verweigerte er sich zur allgemeinen Empörung den strengen Kleidungsvorschriften der Akademie und bestand darauf, dass statt Hemd und Kragen auch ein T-Shirt gut genug war. Andere Studenten folgten bald seinem Beispiel, und nicht lange danach wurden die Vorschriften geändert. 2013, mehr als drei Jahrzehnte später, führte Beau mit 21 Gefährt_innen eine Protestbewegung an, die die ganze Nation aufrüttelte: Awalaskenis II war ein Marsch von der Westküste Kanadas bis zum Sitz der Siedlermacht, Parliament Hill in Ottawa. Dort brachen Beau und seine Gefährt_innen vor den Augen der Legislative traditionelle Kupferschilde, um die Vertragsbrüche, die zwangsweise Assimilation und die fortgesetzte Missachtung der Rechte einheimischer Völker anzuklagen. Die Bruchstücke wurden eingerollt und auf den Stufen des Parlaments zurückgelassen. (Das Kupferbrechen hat den Zweck, jemanden zu beschämen, kann aber auch ein Friedensangebot oder eine Gabe sein). Die kanadische Regierung übergab die Trümmer einem Museum in British Columbia.
Wie so viele andere Menschen lernte ich Beau über seine Masken kennen. An die allererste erinnere ich mich sehr genau: eine wuchtige Tsonoqua mit dem charakteristischen dunklen Gesicht, mit langem, strubbeligem Haar und roten, geschürzten Lippen. Als wir diese Maske 2013 als Teil der umfangreichen Gruppenausstellung Sakahàn: International Art an der National Gallery of Canada mit Werken von mehr als achtzig indigenen Künstler_innen aufnahmen, zog sie alle Blicke auf sich. Wie angewurzelt blieben die Leute vor ihr stehen. Tsonoqua ist die Kannibalin aus den Wäldern, die aber auch großen Reichtum bescheren kann. Für mich war sie lebendig. Im März 2016 fuhr ich mit meiner Kollegin, der documenta 14 Kuratorin Monika Szewczyk nach Vancouver und Alert Bay, um mit Beau zu sprechen. Sein Vorschlag für die documenta 14 war da schon sehr weit gediehen. Er interessierte sich für Überschneidungen zwischen dem politischen System der Kwakwaka’wakw und den Ursprüngen der Demokratie im antiken Griechenland sowie für die Frage, was eine Staatsbürgerschaft oder -angehörigkeit eigentlich bedeutet. Bekanntlich besaß Beau keinerlei offiziellen Personalausweis der kanadischen Regierung und wünschte auch keinen, weil er dieser das Recht absprach, ihm einen „Indianerstatus“ aufzuzwingen oder ihn als Kanadier zu vereinnahmen. Beau war sein Leben lang und bleibt ein Dzawada’enux. Bei unserem Besuch hatte das im Bezug auf seine Rolle in der Ausstellung längere Überlegungen zur Folge.
Beau wollte nach Athen reisen, um dort mit Menschen zu sprechen, die unter Zwang ihre Heimat verlassen hatten. In seinen Augen brachte der Verlust der eigenen Heimat Kultur, Sprache und Tradition in Gefahr. Denn dies war eine seiner größten Leistungen als Hereditary Chief und als Künstler: Er erfand die Tradition als Stätte des Experimentierens, Erneuerns, Sichwandelns neu. Wayne Alfred, auch ein angesehener Künstler, erzählte: „Wenn Beau sich erhob, erhoben sich viele von uns ebenso.“ Er sprach von der Dorfgemeinschaft Alert Bay, die zu Beaus zweiter Heimat wurde, aber auch von allen, deren Lebensweg sich mit dem von Beau kreuzte. Beau erhob sich, weil er furchtlos war. Seine Arbeit als Künstler, seine Rolle als Vater und seine Verantwortungen innerhalb der Gemeinschaft kannten keine Grenzen. Wie es seiner Natur entsprach, gab er sein Wissen, seine Fertigkeiten, Geschichten und Lieder immer und überall weiter und war jedem ein Mentor, der Zeit und Interesse daran hatte. Kurz vor seinem Tod am 27. März ergänzte er die Maskenserie für die documenta 14 in Athen um eine „Handlungsfigur“ nach seinem eigenen Bild – mit langen grauen Haaren, einem seiner typischen Hüte, perlmuttbesetztem Deckenumhang und einem Hamat’sa-Ring aus Lebensbaumholz um den Hals – und brachte sie auf der Rückseite seiner Orka-Maske an. Auch darin ganz er selbst, zog er bis zuletzt die Fäden. Einer der Präparatoren, die an der Installation von Beaus Werken mitarbeiteten, meinte, dies sei wohl der Ort, an dem Beau sich jetzt aufhalte: reitend auf dem Rücken eines Wals.
Das Team der documenta 14 möchte all jenen danken, die diese Zusammenarbeit mit Beau ermöglicht haben, darunter Linnea Dick und Geraldine Dick, Chief Robert Joseph, Alan Hunt, Cole Speck, LaTiesha Fazakas, Sarah Macaulay, Bernadette Phan, Kerri-Lynne Dick, Scott Watson, Lorna Brown, Pamela Bevan, Alexis Nolie, Annette Wooff, Wayne Alfred, Ryan Speck, Corey Bulpitt, David Sonny Hanuse, Darren Alfred, Arthor Hawkins, Joshua Watts, Jay Bellis, Greg Fitch, Doreen Fitch, Stephanie Joseph, Chelah Howard, Gaven Konschuh, Manuel Piña, Steven Loft, und vielen anderen, die im Kleinen wie im Großen mithalfen.
Gila’kasla
Gunalchéesh (Danke).