Dieter Roelstraete: Der documenta 14 war die Geschichte um die Sammlung Gurlitt ein beständiges kuratorisches Anliegen. Seit einiger Zeit nun hast du einen eigenständigen Kurs künstlerischer Forschung in Sachen Sammlung Gurlitt oder zum, wie man in Deutschland häufig sagt, „Schwabinger Kunstfund“ eingeschlagen. Und das hat zu einem Projekt unter einer ganzen Handvoll anderer für die documenta 14 geführt, die sich mit der Familiengeschichte eines Nazikunsthändlers und dessen privater Kunstsammlung beschäftigen. Forschung ist ein wesentlicher Bestandteil dessen, was du als Künstler tust. Vielleicht aber nicht notwendigerweise eine solche Art von Forschung, die dazu führt, dass man stundenlang Datenbanken „verlorener Kunstwerke“ durchstöbert. Was hat dich zu Beginn an dieser Geschichte interessiert?
David Schutter: Die New York Times berichtete im November 2013 über die Entdeckung der Sammlung Gurlitt. Der Artikel fesselte mich einerseits aufgrund der dürren Faktenlage, der diffusen Ermittlungssituation, und andererseits wegen der merkwürdigen Bilder, die dort heraufbeschworen wurden. Ein achtzig Jahre alter Mann lebt in einer kleinen Wohnung in München, die mit mehr als tausend Kunstwerken voll gestellt ist; es bestehen komplizierte Familienverbindungen zu den Nazis; es vergehen beinahe zwei Jahre zwischen diesem Bericht in der Times und der Beschlagnahme der Werke durch den Staatsanwalt in Augsburg (was mich unwillkürlich an das Augsburger Bekenntnis von 1530 denken ließ und mir eine aufschlussreiche Verbindung zu vergangenen Kriegsverbrechen und neuen Fragen der deutschen Reformation zu sein schien). Ganz besonders war ich vom offensichtlichen Wahn beeindruckt, der herrschen musste, wenn man in einem solchen Ausmaß mit Kunst lebt. Ein Matisse unterm Bett, ein Courbet im Schrank. Die Lost Art Internet Database lieferte ein vollständige Inventarliste der Arbeiten, die in der Münchner Wohnung gefunden wurden; ebenso verzeichnet sie den Bestand des anderen Kunstfunds aus Cornelius Gurlitts Haus in Salzburg und zusätzlich den spät aufgetauchten Monet in einem Koffer an einem dritten Ort. Ich durchsuchte diese Datenbank, um zwischen diesen Kunstfunden irgendeinen Sinn – in Ermangelung eines zutreffenderen Wortes – ausfindig zu machen, doch es fand sich nichts, was dem irgendwie nahe gekommen wäre. Richtig ist, dass ich für gewöhnlich meine Arbeit nicht auf solche Weise beginne, also indem ich auf Themen zuerst in Zeitungen und dann in Datenbanken stoße. Üblicherweise komme ich eher peripatetisch mit ihnen in Kontakt, im Zuge von Reisen, durch Zufall oder bei der erweiterten Arbeit an sich entwickelnden Projekten, die echte Kontaktstellen zu einem Museum oder einem Archiv besitzen. Dieses spezielle Exempel eines Lebens mit Kunst als Lebenshaltung jedoch, das blieb haften.
DR: Kannst du etwas mehr zur Psychologie des Sammelns sagen, das heißt – wenn du das überhaupt als „Sammeln“ bezeichnen würdest. Das ist zweifellos auch ein Vorbehalt, der im Zuge der Beschäftigung der documenta 14 mit dieser Angelegenheit aufkam; zum Großteil haben wir es ja überhaupt vermieden, von einer „Gurlitt-Sammlung“ zu sprechen und stattdessen den merkwürdigen Begriff „Kunstfund“ verwendet. Ich frage dies auch deshalb, weil mich interessiert, wie du als Künstler mit Kunst lebst. In welchem Maße ist die Art und Weise, mit der Cornelius Gurlitt „mit Kunst gelebt hat“, eher eine Quelle der Wiedererkennung oder des Zweifels für einen Künstler wie dich selbst gewesen, wo deine Arbeiten ja immer in erster Linie einen kontinuierlichen Dialog mit den Meistern der Vergangenheit suchen und aufrechterhalten. Aus deiner Diagnose des Fall Gurlitts höre ich sogar leise Sympathie heraus.
DS: Wie du selbst auch, würde ich das, was man in Gurlitts Wohnung gefunden hat, keine Sammlung nennen. Die Werke hat er vielmehr von seinem Vater, Hildebrand Gurlitt, geerbt, der einer der vier Kunsthändler gewesen ist, der für die Nazis Kunsthandelsgeschäfte abgewickelt hat, um Geld in deren Kassen zu spülen. Was man also in der Münchner Wohnung gefunden hat, waren zum Großteil Reste von Hildebrands Projekt. Die Kunstwerke, die man fand, waren nach keinerlei übergreifenden ästhetischen Gesichtspunkten zusammengestellt worden, sie waren durch keine gemeinsame Sujets oder historische Themen miteinander verbunden, noch besaßen sie gewisse gemeinsame Kriterien, nach denen sie von einem Sammler ausgewählt oder beurteilt worden wären. Es sind schlicht Reste von Hildebrands Unternehmung der Hortung von Valuta. Cornelius Gurlitt und diese Lagerbestände landeten letztendlich in derselben Wohnung. Das ist dann ein Leben mit Kunst als Zustand. Er war Aufseher von Kunst, die wiederum ihn gefangen hielt. In dieser Hinsicht erkenne ich einen rudimentären Zusammenhang. Eingeschränkte Freiheit, oder möglicherweise genauer gesagt: Freiheit durch Bindung. Während langer Archivforschung oder während Studien in Museen lebe ich mit vormodernen Kunstwerken und das wiederholt sich, wenn ich diese historischen Werke im Atelier mit denselben Materialien und in denselben Größenordnungen wie ihre Quellen neu ausführe. Es gab Zeiten, da habe ich jahrelang ein einziges Bild studiert und im Gegenzug ein Gemälde geschaffen. Dennoch wäre ich, selbst wenn sich der Fall Gurlitt mit meiner Praxis auf gewisse Weise überschneiden sollte, vorsichtig, aus diesen Beziehungen eine romantische Charakterskizze zu entwerfen. Es handelt sich um einen äußerst komplizierten Fall. Daher kann ich, unter Berücksichtigung der Inhalte der Kunstfunde, sagen, dass ich mit der Zeit dazu kam, bestimmte Abschnitte dieses Falls mit großem Interesse zu betrachten.
DR: Kannst du etwas näher erläutern, worauf du dich konzentriert hast? Auf welche Abschnitte sozusagen? (Mir gefällt an dieser Stelle die Anspielung auf den Schnitt, die Inzision oder den Ausschnitt.) Und wie bist du damit umgegangen, deine Forschungsarbeit in ein Kunstwerk zu übersetzen?
DS: Eine Inzision, oder ein Schnitt, der vertikal ein Archiv entkernt, kann in höherem Maße außerordentliche oder verborgene Inhalte des von diesem Archiv versammelten Materials enthüllen. Ich habe durch den Gurlitt-Fund geschnitten und eine Sektion isoliert, die reich an Zeichnungen von Max Liebermann (1847–1935) war. Wie du weißt, wurde die erste Arbeit aus dem Gurlitt-Kunstfund als Beutekunst ausgewiesen und Liebermanns Gemälde Zwei Reiter am Strand aus dem Jahr 1901 wurde restituiert. Und in Liebermann sah ich den perfekten Materialkern. Seine Zeichnungen im Kunstfund sind Skizzen des bürgerlichen Alltagslebens in Deutschland. Auf kleine Papierblätter hingestrichelt finden sich Straßenszenen, Kneipen, Theateraufführungen, Bootsfahrten und Ausflüge aufs Land. Angesichts dieser normativen Bilder wurde mir so etwas Ähnliches wie ihre Perversion im Kontext Gurlitt bewusst. Ich habe alle Zeichnungen dieser Liebermann-Ausschneidung genau studiert und mich mit ihren Bildinhalten und Techniken vertraut gemacht. Ich unternahm im Herbst und Winter des letzten Jahres auch einige Forschungsreisen nach Berlin, um zahlreiche der Liebermannschen Zeichnungen mit eigenen Augen im Original sehen zu können. Indem ich über einige Monate hinweg ihre Ausführung studierte, wurde ich mit der Strichführung des Künstlers und mit seinem Metier immer vertrauter. Diese Erfahrungen und dieses Quellenmaterial habe ich für eine Gruppe von Zeichnungen benutzt, die im Rahmen der documenta 14 gezeigt werden. Es wäre interessant zu hören, was du – als Kurator – darüber denkst, dass Liebermann, eine historische Figur, die im Deutschland des 19., 20. und jetzt 21. Jahrhundert gefangen ist, in einigen entscheidenden Fragestellungen des ganzen documenta Projekts herumspukt. Kannst du dazu etwas sagen?
DR: Naja, Liebermann ist selbstverständlich eine ziemlich einzigartige und emblematische Figur — der Hauptvertreter des Impressionismus in Deutschland, die Verkörperung der gesellschaftlichen Erfolgsgeschichte deutsch-jüdischer Assimilation, dessen Amtszeit als Präsident der Akademie der Künste in Berlin durch die Machtergreifung Hitlers gekappt wurde (1933 trat er aus der Akademie aus und starb 1935 im Alter von 86 Jahren) und dessen Gemälde immer wieder durch die gierig-promiskuitiven Hände Hildebrand Gurlitts wanderten. Zu einem frühen Zeitpunkt waren wir besonders an einem Gemälde Liebermanns mit dem Titel Zwei Reiter am Strand interessiert, eine Variante des Themas, das man auf einem Bild in der ständigen Sammlung der Neuen Galerie in Kassel sehen kann, wo man auch deine Arbeiten ausstellen wird. Es war also so etwas wie eine Überraschung herauszufinden, dass Liebermann während seines langen Lebens mehr als vierzig solcher „Reiter am Strand“ gemalt hat. Man stößt hier folglich, wenn man so will, auf ein Element der Massenproduktion, und ich denke, das ist eine interessante Sache. Doch schlussendlich führt uns Liebermann immer wieder zurück zum Drama Deutschlands im 20. Jahrhundert. Einer der Aspekte seiner Person, die uns in diesem speziellen Zusammenhang immer wieder fasziniert, ist die ausgesprochen bourgeoise Aufladung seines Werkes: die Gestalt des deutschen Bildungsbürgertums, aus dem heraus zum Teil auch die documenta zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstand.
DS: Genau diese Aufladung in Liebermanns Werk war es, die für mich zur erweiterten Reflexionsquelle und schließlich zum Ausgangspunkt für die Frage, wo wir jetzt stehen, wurde. Wie du sagtest, war die Bühne des Wiederaufbaus und des offenen Dialogs, die bei der ersten documenta 1955 eingeführt wurde, ein Kind des deutschen Bildungsbürgertums. Das fasst auf gewisse Weise zusammen, warum ich der Ansicht war, dass der Schnitt aus dem Gurlitt-Kunstfund und in Folge die Zeichnungen Liebermanns eine Art Naturgeschichte tiefgreifender Zwischenräume zwischen den vergangenen drei Jahrhunderten darstellte. Oder vielleicht sollte ich sagen, dass ich aufgrund dieser Zeichnungen Liebermann als den Repräsentanten eines Deutschlands begriff, das derzeit, und auch historisch betrachtet, in der Mitte steht. Das gilt sogar hinsichtlich des Materials, für die Wahl seiner Werkzeuge — Bleistift und schwarze Kreide auf gelbbraunem, elfenbeinfarbigem oder (wie es die Zollbeamten bei den seltsamen Beschreibungen seiner Zeichnungen zu nennen beliebten) „chamoisfarbenem“ Papier. Liebermann legt einen Geschmack für akademisch-bürgerliche Materialien an den Tag, die eine behutsam-bedächtige Träumerei sowohl der Moderne wie auch der anerkannten Konventionen vergangener Zeitalter bezeugt. Seine feinfühligen, raschen und sparsamen Zeichnungen auf getöntem Papier bekunden eine Hingabe für die Mitte, von woher Leben und Form hervortreten und sich zurückziehen können. Ich fange an mir vorzustellen, was das für das Bewusstsein eines Künstlers bedeutet, der die Bedingungen einer solchen Position akzeptiert. Auf gewisse Weise sieht Liebermann die Dinge kommen und gehen.
DR: Ich bin total überrascht, dass du dich an die Worte erinnern kannst, mit denen die Zollbehörden Liebermanns Papierwahl beschrieben haben … In dir muss ein Detektiv stecken! Doch dein Werk kreist schließlich um die Geduld, die stille Kunst der Betrachtung und Beobachtung und die äußerst diffizile Aufmerksamkeit für Details — besonders dann, wenn es sich um scheinbar „oberflächliche“ handelt. Und ich klammere meine Verwendung des Begriffs der Oberfläche aus offensichtlichen Gründen an dieser Stelle aus. In jedem Fall nehme ich an, dass du nicht irgendein altes Papier für diese Zeichnungen verwendest, richtig?
DS: In der Tat verwende ich nicht irgendein altes Papier, sondern ein speziell altes. Als ich Liebermanns Zeichnungen im Kupferstichkabinett in Berlin anschaute, sah ich einige Papiere, die in ihrer Farbe, Tönung und Oberflächenbeschaffenheit dem chamoisfarbenen Papier der Liebermann-Zeichnungen von Gurlitt sehr nahe kamen. Die Arbeiten in Berlin sind überwiegend im Format eines Skizzenblocks gehalten, ähnlich dem Format derer von Gurlitt. Ich stieß dann auf eines von Liebermanns Skizzenbüchern, das noch vollständig intakt war, und ausgehend von diesen Zeichnungen und der Papierqualität begann ich anzunehmen, dass dieses Skizzenbuch aus genau jenem chamoisfarbenen Papier bestand, das im Inventarverzeichnis der Zollbehörde verzeichnet ist. Vielleicht hat Gurlitt ein Album zerlegt oder ein Skizzenbuch auseinandergenommen, um an die Zeichnungen zu kommen. Derzeit ist darüber nichts bekannt, aber ich ging davon aus, dass alle chamoisfarbenen Papiere des Kunstfundes eine gemeinsame materielle Basis und Herkunft haben. Zweifellos war der Grund ihrer Zusammenführung ihre Alltagssujets des Bildungsbürgertums. Ich habe das Papier gemeinsam mit einem Meister der Papiermacherkunst, Gangolf Ulbricht, analysiert. Er erklärte mir die Materialgeschichte und die Produktionsmethoden dieses Papiers und gemeinsam zogen wir Proben aus Papierherstellungsbüchern des 19. Jahrhunderts, um herauszufinden, wie Liebermanns Skizzenbuchpapier hergestellt worden war und woraus es bestand. Unter Verwendung von Zellulose aus dem 19. Jahrhundert schuf Ulbricht in seinem Atelier dieses Papier neu – oder besser noch: er reanimierte es – und daraus entstand ein Papier, das in materieller Hinsicht exakt einem des 19. Jahrhunderts entspricht. Meine Zeichnungen für die documenta 14 Ausstellung sind alle auf diesen sehr speziellen Grund gesetzt und ich führte sie mit Liebermanns schwarzer Kreide und Bleistift aus. Das ist es, was ich als den Wert der Oberflächeninformation betrachte: sie kann sich zu einer forensischen Untersuchung ausweiten und sich in außerordentliche Aspekte des Sehens überantworten.
DR: Es ist faszinierend, Spuren einer noch unschuldigeren Vision der Kunst aus dem 19. Jahrhundert bei der documenta 14 Ausstellung auftauchen zu sehen — buchstäblich durch einen Papierbeweis. Ganz im Sinne Benjamins. Ich freue mich darauf, deine Arbeiten in der Neuen Galerie in enger Nachbarschaft und im Dialog nicht nur mit Max Liebermann und den diversen Schatten, die die Gurlitt-Sammlung wirft, zu sehen, sondern auch mit den anderen Künstler_innen der documenta 14, die sich von der Geschichte der Familie Gurlitt haben absorbieren lassen. Danke David!