Koordiniert von Ayse Gülec, Initiative 6. April und Kassel postkolonial
Am 6. April 2006 wurde der 21-jährige Halit Yozgat im familienbetriebenen Internetcafé in der Holländischen Straße der Kasseler Nordstadt getötet. Halit war das neunte Opfer der rassistisch motivierten Mordserie des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Andreas Temme, damals Mitarbeiter des hessischen Landesamts für Verfassungsschutz, war zur Tatzeit anwesend, behauptete jedoch, er habe weder Schüsse gehört oder den durchdringenden Geruch von Schießpulver wahrgenommen noch Halits Körper beim Verlassen des Cafés hinter dem Empfangstresen gesehen.
Mit derselben Tatwaffe waren zuvor Enver Şimşek (2000 in Nürnberg), Abdurrahim Özüdoğru (2001 in Nürnberg), Süleyman Taşköprü (2001 in Hamburg), Habil Kılıç (2001in München), Mehmet Turgut (2004 in Rostock), İsmail Yaşar (2005 in Nürnberg), Theodoros Boulgarides (2005 in München) und Mehmet Kubaşık (2006 in Dortmund) erschossen worden. Ein Jahr später, im Jahr 2007, wurde die Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn vom NSU ermordet.
Die Ziele des NSU waren Orte des öffentlichen Zusammenlebens: Die Anschläge galten unabhängigen Besitzer_ innen kleiner Betriebe wie eines Blumenladens, eines Schlüsseldienstes, eines Internetcafés, einer Änderungsschneiderei, von Restaurants und Kiosken. Mit dem Nagelbombenattentat in der Kölner Keupstraße griff der NSU 2004 das Zentrum eines Stadtviertels an, das von Migration geprägt ist.
Die Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft konzentrierten sich anfangs ausschließlich auf die Familien der Opfer und ihr direktes Umfeld. Nur einen Monat nach dem Mord an Halit organisierte seine Familie mit anderen betroffenen Familien in Kassel und Dortmund Trauerdemonstrationen unter dem Motto „Kein 10. Opfer“. Rund 4.000 Menschen nahmen an der Demonstration in Kassel teil. Die Familien wussten zu diesem Zeitpunkt schon, dass die Mordserie explizit rassistisch motiviert war, und trugen dieses Wissen in die Öffentlichkeit.
Bis zur Selbstenttarnung des NSU im Jahr 2011 wurde der Protest der Betroffenen und ihrer Communities gesellschaftlich und medial nicht wahrgenommen und ignoriert. Auch während der noch laufenden juristischen und polizeilichen Untersuchungen berichteten die Familien wiederholt über Erfahrungen des silencing, des Zum-Schweigen- gebracht-Werdens. Der Begriff NSU-Komplex beschreibt ein Konglomerat aus rechtsextremem Terror sowie institutionellem und strukturellem Rassismus in der heutigen deutschen Gesellschaft.
Die Gesellschaft der Freund_innen von Halit, Teil des Parlaments der Körper, der Öffentlichen Programme der documenta 14, versteht Migration als unumkehrbaren Prozess und reiht sich ein in die kontinuierlichen Kämpfe für eine Gesellschaft der Vielen.
Die Gesellschaft der Freund_innen von Halit verbindet verschiedene Gruppen und Initiativen wie das Tribunal NSU Komplex au ösen, die Initiative 6. April oder Forensic Architecture und viele andere Aktivist_innen, Forscher_innen, Wissenschaftler_innen, Filmemacher_innen und Künstler_ innen. Diese Gesellschaft formt eine Allianz mit jenen, die sich einer Praxis aus antirassistischer und antifaschistischer Forschung und ebensolchem Aktivismus zwischen Kassel und Athen und darüber hinaus widmen.
Die Gesellschaft der Freund_innen von Halit tritt zu einer Reihe öffentlicher Tagungen im Parlament der Körper in der Rotunde des Fridericianums zusammen.
Außerdem präsentiert die Gesellschaft in der Neuen Galerie (Neue Hauptpost) eine Dokumentation ihrer Untersuchungen, Recherchen und Aktionen.
Alle Veranstaltungen der Gesellschaft der Freund_innen von Halit stehen dem Publikum offen, der Eintritt ist frei.