Als der aus Pennsylvania stammende Maler Stanley Whitney in den frühen 1990er Jahren die Mittelmeerregionen bereiste, lösten seine Erfahrungen mit der antiken Architektur, insbesondere in Ägypten und Italien, einige kompositorische Fragen aus. Hier, in den schweren Mauern, fand er das archaische Material – und gewissermaßen auch ein Urbild des modernen Rasters –, das seinem tiefen und zugleich unmittelbaren Gespür für Farbe entsprach. Er begann mit Leinwänden unterschiedlicher Dimensionen zu arbeiten, stets quadratisch, stets eingedenk der Tatsache, dass „der Raum in der Farbe liegt“.
Sowohl Schriftgelehrte als auch Maurer finden hier Platz. Der Maler solidarisiert sich mit beiden, seine Bewegung über die Leinwand verläuft stets von links oben nach rechts unten, setzt große ausdrucksstarke Farbblöcke aneinander. Wie Gustave Courbet in seinem Bild L’Atelier du peintre. Allégorie réelle déterminant une phase de sept années de ma vie artistique et morale (1855), das exakt hundert Jahre vor der ersten documenta entstand, sucht auch Whitney nach einem Platz für die Malerei, der eine bunte Schar aktiviert und eine immer breitere Öffentlichkeit einbezieht. Diese uralte, einsame und konzentrierte Vorgehensweise kann die Komplexität gelebter Erfahrung völlig absorbieren. Whitney, der 1946 geboren wurde, verwirklicht dies in seinem Atelier, ohne auf allegorische Figuren und genreübergreifende Kompositionen zurückzugreifen, auch wenn er diese zweifellos in sich aufgesogen hat. Mit stiller Beharrlichkeit und Unbeirrtheit lässt er avantgardistische Techniken der Verweigerung und des Widerspruchs hinter sich und folgt seinem eigenen Rhythmus. Seine selbst gewählte Aufgabe – in jedes Bild so viel Farbe wie möglich zu packen – ist somit einfacher, vielleicht aber auch radikaler.
Was könnte das bedeuten? Wenn Whitneys Farben ein Geist innewohnt, so beschränken sich seine Arbeiten nicht auf eine Entschlüsselung durch den rationalen Verstand. Vielmehr geht es um Lyrik. Die Titel seiner Arbeiten verraten ein umfassendes historisches Bewusstsein und eine sich immer weiter entfaltende Philosophie des Fühlens. Sie reihen Worte aneinander, die leicht von der Zunge gehen und doch an der Seele haften bleiben. Zu jenen, die ich nicht vergessen kann, zählen James Brown Sacrifice to Apollo (2008), The Last of the Bohemians (2008), Elephant Memory (2014) sowie Radical Times (2016). Doch die Vorstellung, die sie jeweils hervorrufen, verändert sich auf geheimnisvolle Weise, wenn ich sie ansehe. Jedes Bild ist lebendig, und jede Farbe darin verfügt über eine eigene Persönlichkeit: ein aus der Vielfalt geborenes Individuum, das andere anlockt. Wo ein Geist ist, ist auch ein Körper. Eines der Werke erinnert an eine prägnante Zeile, die in Robert Hunters Übersetzung von Rainer Maria Rilkes Sonette an Orpheus zweimal wiederholt wird und die titelgebend für eine 2015 im Studio Museum in Harlem abgehaltene Überblicksausstellung von Whitneys Arbeiten war: Dance the Orange.
— Monika Szewczyk