Die Wege, Routen und Parcours der Besucher_innen kreuzen und verflechten sich, wenn sie sich auf ihre Reise durch Athen und Kassel begeben. Bei einem Spaziergang mit einem Mitglied des Chors der documenta 14 können die Besucher_innen ihre eigenen Perspektiven einbringen, hinterfragen und miteinander ins Gespräch kommen, während sie die Ausstellung entdecken und enträtseln.
Historisch betrachtet setzte sich der Chor in der griechischen Tragödie aus Laien und Bürger_innen zusammen, die als Kommentator_innen, Gestaltwandler_innen und Empathieauslöser_innen zwischen dem Publikum und den Schauspielern agierten. Der Chor der documenta 14 wird indessen gemeinsam mit den Besucher_innen eine Vielzahl von Rollen einnehmen, die breitere Perspektiven in Bezug auf die soziopolitischen und geografischen Kontexte der documenta 14 aufzeigen werden. Auf diese Weise tragen die Besucher_innen zur Lebendigkeit der documenta 14 bei — indem sie Routen und Reaktionen der künstlerischen Arbeiten gemeinsam verhandeln. Der Chor der documenta 14 schafft eine Vielfalt von Stimmen, die in den Mythen, Geschichten und Debatten über die eigentliche Ausstellung hinaus nachhallen wird.
Spaziergang: EMST – Nationales Museum für Zeitgenössische Kunst
Die Architekten des National Museum of Contemporary Art in Athen (EMST), Takis Zenetos und Margaritis Apostolidis, haben ein flexibles Design vorgelegt, das auch für zukünftige Einsätze unter anders gelagerten Anforderungen verwendbar ist. Die ursprüngliche Funktion des Gebäudes als Brauerei für das Bier der Marke „Fix“, mit deren nun still stehenden Maschinen, wird nunmehr vom Chor der documenta 14 bespielt, einer Vielzahl von Stimmen und Körpern, die sich hier zum Zuhören und für den Dialog zusammenfinden, während die Kunstwerke der documenta 14 erfahren werden. Der Chor der documenta 14 schlägt Erkundungsmöglichkeiten vor und verwebt die Fäden, die die große Zahl der ausgestellten Künstler_innen verbinden.
Spaziergang: Hochschule der Bildenden Künste Athen (ASFA) – Pireos-Straße
Die Ausstellungshalle der Athens School of Fine Art (ASFA) liefert das passende Setting, um sich auf die Spur der Idee einer experimentellen Bildungsarbeit und Pädagogik zu begeben, die mit Begriffen wie „Offene Form“ oder „Offene Stadt“ verbunden ist. Den Garten als einen Ort des Lernens miteinbeziehend, nehmen die Spaziergänge mit dem Chor einen reflexiven Charakter an. Unter den von den Studierenden angefertigten Skulpturen, den Rosenbüschen, Granatapfel- und Feigenbäumen findet sich auch ein „Otto Baum“, benannt nach dem König von Griechenland, der selbigen aus Bayern mitbrachte.
Spaziergang: Athener Konservatorium (Odeion Athinon)
Die Spaziergänge erforschen die Beziehung zwischen Partitur, Stimme, Sound und Performance, wie sie sich in den Praktiken der Künstler_innen der documenta 14 finden. Die Spaziergänge konzentrieren sich auf zeitgenössische Künstler_innen, die sich für die Schnittfläche von Bewegung, Rhythmus, Musik und Performance interessieren. Dabei verwenden sie Partituren und Musikinstrumente, die in engem Zusammenhang mit dem Alltag und der gesellschaftlichen Wirklichkeit stehen. Wie lesen wir als Kollektive Partituren und wie interagieren wir angesichts der herrschenden Verdrängung und einer erbarmungslosen Unsicherheit? Wie vermag die menschliche Stimme die Herkunft eines Objekts und die Schwingungen seines Sounds auszudrücken?
Spaziergang 1: Fridericianum
Die Ausstellung im Fridericianum zeigt erstmals die Sammlung des Nationalen Museums für Zeitgenössische Kunst, Athen (EMST). Das EMST ist eine der zentralen Spielstätten der documenta 14 in Athen. Dessen junge Sammlung (aufgebaut seit 2000) umfasst rund 1.100 Werke griechischer und internationaler Künstler_innen von den 1960er Jahren bis in die Gegenwart. Die Präsentation der Werke stellt die Sammlung des EMST der Geschichte des Fridericianum gegenüber – Geburtsort der documenta und erstes öffentliches Museum in Kontinentaleuropa. Sie teilen neue Geschichten, während sie die vorherrschenden Geschichten infrage stellen. Es entsteht ein Kommentar zur komplexen Geschichte des heutigen Griechenlands und eine neue Interpretation des traditionellen Herzstücks der documenta.
Spaziergang 2: documenta Halle zum Friedrichsplatz
Bei ihrer Eröffnung 1992 anlässlich der documenta 9 verglich der damalige künstlerische Direktor Jan Hoet die documenta Halle mit der Akropolis, um den Stolz der Kasseler Bürger_innen über diesen jüngsten Neuzugang zu ihrer Stadt anzuregen. Heute, 25 Jahre später, steht der documenta Halle der Parthenon der Bücher von Marta Minujín gegenüber, ein Monument gegen Zensur und für die Freiheit der Gedanken. In der documenta Halle befindet sich eine Gruppe von Werken, die sich mit Konzepten von Partitur und Notation einerseits und der tatsächlichen Aufführung andererseits beschäftigen. In diesem Spaziergang nimmt der Chor die Linienführung in der Architektur zum Anlass, auf die Bewegungen des Körpers, auf das Gehen selbst, auf Rhythmus und Stimme einzugehen.
Spaziergang 3: Neue Neue Galerie zur Gottschalk-Halle
Die Neue Hauptpost, von der documenta 14 in Neue Neue Galerie umbenannt, wurde 1975 in ihrer brutalistische Architektur als Hauptpost und Briefzentrum von Kassel eröffnet. Viele der hier ausstellenden Künstler_innen arbeiten mit der Achse zwischen Kassel und Athen als Start- und Ankunftspunkte. Ihre Werke befassen sich mit der Arbeit von Verteilung und Verbreitung – per Post, zu Pferd, durch Körper oder Rituale.
Der Spaziergang führt von der Neuen Neuen Galerie weiter zur Gottschalk-Halle, die zu einer der zwei ältesten und prominentesten Industriedynastien der Stadt gehört: Henschel & Sohn und Gottschalk & Co. Während einige der hier gezeigten Arbeiten auf die Geschichte der Gottschalk-Halle Bezug nehmen, stellen hier auch Künstler_innen aus, die sich mit Themen wie Vertreibung und Migration auseinandersetzen.
Spaziergang 4: Von der Neuen Galerie zur Schönen Aussicht
Fragen von Nationalstaat und Zugehörigkeit, aber auch von Zerstreuung und Verlust bestimmen den Ton der gesamten Neuen Galerie, die als Erinnerungsort der documenta 14 fungiert. An diesem Ort wird das Vermächtnis Arnold Bodes, des Gründers der documenta, heraufbeschworen und diskutiert.
Die Geschichte des Gurlitt-Nachlasses dient als eines der wichtigsten Ordnungsprinzipien der Neuen Galerie. Sie stellt Fragen nach der Kunstproduktion unter totalitärer Kontrolle sowie der Beziehung des Museums zur Geschichte kolonialer Eroberung. Im Zentrum stehen Themen wie Plünderung, Besitz und Enteignung sowie die Verstrickung von Kunst, Politik und Wirtschaft.
Gegenüber der Neuen Galerie prägen Erinnerungen an gewaltsame Konflikte die Präsentation von Arbeiten im Palais Bellevue. Es entsteht ein markanter Kontrast zur idyllischen Landschaft der Umgebung an der ‚Schönen Aussicht’.