Am 14. Januar 2015 traf Irena Haiduk an der Harvard University mit ihrem serbischen Landsmann Srđa Popović zusammen. Der ehemalige Anführer der Studentenbewegung Otpor!, die im Jahr 2000 Slobodan Miloševićs Absetzung herbeiführte, leitet heute das 2003 gegründete Beratungsunternehmen Canvas (Zentrum für angewandte gewaltlose Aktion und Strategien). Die 1982 in Belgrad geborene Künstlerin begleitete den Berater von der Harvard Kennedy School of Government, wo Popović Vorlesungen hält, zum Carpenter Center, wo sich die Kunstabteilung der Universität befindet. In ihrem Gespräch kristallisierte sich sukzessive eine Übereinstimmung zwischen Beraten und (westlicher) Kunst heraus. Das Interview wurde aufgezeichnet, transkribiert, redigiert und mit zwei Sprecherinnen erneut aufgenommen, um den (osteuropäischen) Akzent der beiden Gesprächspartner zu kaschieren. Das daraus resultierende – in einem dunklen Raum zu hörende – Audiostück bildet den Kern von Seductive Exacting Realism (SER) (2015). Und wie jeder echte Realismus hat auch dieses Kunstwerk die Realität geformt. Danach wusste Haiduk: Wenn sie ein Unternehmen gründen würde, dann in den USA, wo Menschen Unternehmen sind.
Etwa neun Monate später erblickte Yugoexport das Licht der Welt: blind, blockfrei und den selbstverwalteten Fabriken und experimentellen Klubs des ehemaligen Jugoslawien nachempfunden. Yugoexport ist gesund und munter und wächst unaufhörlich. Im Zuge dieser Gründung nehmen auch frühere Arbeiten Haiduks neue Dimensionen an. Zwei dieser Werke bilden den Rahmen für die Präsentation von Yugoexport bei der documenta 14: Nine Hour Delay startet in Athen und macht sich auf nach Kassel, wo das zuvor bereits erwähnte SER zu sehen ist. Nine Hour Delay (datiert auf 2012–2058) zögert das Verschwinden Jugoslawiens hinaus: Es lässt die jugoslawische Fabrik Borovo in Vukovar (heute kroatisch) schwarze Borosana-Schuhe in ausreichender Zahl produzieren, um das weibliche Personal beider Ausstellungsorte damit auszustatten. Das Schuhmodell – es unterstützt das Fußgewölbe optimal und wurde von den Arbeiterinnen des Betriebs in neun Jahren entwickelt, um ein bequemes Stehen bei der Arbeit über neun Stunden hinweg zu ermöglichen – symbolisiert das Gründungsmotto von Yugoexport: „Wie man sich richtig mit Dingen umgibt.“
Die Geschichte dieses mündlichen Unternehmens folgt der Via Militaris, einer antiken Militär- und Handelsroute, deren Anfänge auf das Jahr 33 n. Chr. zurückgehen und die von Konstantinopel über Thrakien, Dakien und Makedonien bis nach Singidunum, die antike Vorläuferstadt des heutigen Belgrad, führte. Unterwegs entstehen, dank verbliebener jugoslawischer Infrastruktur und mithilfe von Talenten aus einer Zeit, als es noch keine Nationen gab, Objekte für eine ganze Armee schöner Frauen. Selbstsicherheit und Komfort zeichnen ihre Bewegungen aus. Die Städte, die sie durchqueren, verwandeln sich in Laufstege und Fließbänder. In Marmor geätzte und mit Siri’scher Deutlichkeit gesprochene Worte weisen den Weg. Immer vorwärts, hin zur antiken Definition von Heroismus – als Entsprechung von Wort und Tat.
— Monika Szewczyk