Die Ciudad Abierta (Offene Stadt) ist Kommune, pädagogisches Experiment und praxisnahes Architekturlabor in einem. Sie wurde von einer Gruppe umherziehender Künstler_innen und Dichter_innen auf einem verlassenen, windumtosten Landstrich aus Gras und Sand am Rande des Pazifischen Ozeans gegründet, etwa dreißig Kilometer nördlich der chilenischen Hafenstadt Valparaiso. Bezeichnenderweise waren anfangs nahezu keine „professionellen“ Architekt_innen in das Projekt involviert.
Zwei Zeitpunkte, zwei Ereignisse spielen in der Entstehung der Ciudad Abierta eine herausragende Rolle. Erstens eine Reise oder travesía quer durch den südamerikanischen Kontinent, unternommen 1965 von einer Gruppe Studierender und Lehrender unter der Führung des argentinischen Poeten Godofredo Iommi. Als Wegweiser diente der Gruppe eine auf den Kopf gestellte Karte des Südkegels, die von der berühmten Zeichnung América invertida des uruguayischen Avantgarde-Malers Joaquín Torres García aus dem Jahr 1943 inspiriert ist. Sie symbolisierte den weithin vernehmbaren Ruf nach einer radikalen Neugestaltung bestehender geopolitischer Orientierungen, der damals durch die südliche Hemisphäre hallte. Zweitens die Veröffentlichung des Gründungsgedichts des Kollektivs im Jahr 1967 unter dem Titel Amereida – ein Neologismus aus dem Wort „Amerika“ und Vergils Aeneis (spanisch Eneida). Diese meridionale Odyssee endet mit der kryptischen Bemerkung „der Weg ist nicht der Weg“ – ein Satz, der die zentrale Bedeutung, die der Improvisation als Fundament des Lebens und Bauens in späteren Jahren zugemessen wurde, vorwegnimmt.
Tatsächlich sind viele Besucher_innen heute verblüfft vom provisorischen, ephemeren Charakter vieler Bauprojekte in der Ciudad Abierta oder auch vom Eindruck der Vergänglichkeit, den eine Durchquerung der Stadt hinterlässt. Nun sind zweifellos alle baulichen Aktivitäten an der Küste des Südpazifiks den Naturgewalten ausgesetzt, doch liegt darin unweigerlich auch eine Erinnerung an die lange Geschichte von Migration und Nomadentum, die diesen besonderen Teil der Welt – weitab von etablierten Machtzentren des kulturellen Mainstreaming – geprägt hat.
Das wachsende Interesse der letzten Jahre am einfachen, ländlich-idyllischen Utopismus der Offenen Stadt galt vor allem den historischen Leistungen des Kollektivs – dem Vermächtnis der Ciudad Abierta. Die documenta 14 mit ihren beiden Standbeinen hingegen erlaubt einen ausgewogeneren Blick auf das Projekt: In Athen veranschaulicht die Gruppe ihre beispielhafte Geschichte anhand zahlreicher Archivmaterialien im eigenen Ausstellungsdesign. Das Kollektiv als lebender Organismus und Experimentierplattform für zukünftige Generationen von Architekt_innen, Dichter_innen und Stadtplaner_innen wiederum präsentiert sich in Kassel und demonstriert eindrucksvoll die wiederkehrende Relevanz seiner improvisierten, umweltverträglichen Form des Bauens.
— Dieter Roelstraete