Im August 2008 kehrte der 1953 in Bamako, Mali, geborene Künstler Manthia Diawara in seine Heimatstadt zurück, um Opernproben eines ausschließlich afrikanischen Ensembles auf einer eigens für den Anlass errichteten Bühne am Ufer des Niger zu filmen. Bintou Were, a Sahel Opera beruht auf einem Libretto des tschadischen Dichters und Dramatikers Koulsy Lamko und war ein Traum von Prinz Claus der Niederlande, dessen karitative Stiftung das Projekt ermöglichte. Diawaras Kameramann fängt die dramatisch beleuchteten, ritualisierten Szenen mit Dorfältesten und Proletarier_innen ein – unter Letzteren auch die schwangere Bintou Were selbst. Sie muss sich gegen Freier zur Wehr setzen, die ebenso wie ihr Vergewaltiger die Situation zu ihrem Vorteil nutzen wollen, indem sie die Vaterschaft beanspruchen. Indes wittert auch ein Schlepper seine Chance und lockt die Verzweifelten mit der Flucht in den Norden. Außerdem wird mit einem Blick hinter die Kulissen die Hauptstadt Mali gezeigt, wie sie heute ist: ein Ausflug auf den Markt für Textilwaren, ein Gespräch mit dem Librettisten, eine Brücke über den Niger.
Im Verlauf des Films nähert man sich der Opernwelt ausgehend von einer Tradition der gesungenen Weisheiten und Gefühle, die seit Jahrhunderten die Kultur Westafrikas prägt. Zwar gilt die Oper oft als Inbegriff der europäischen Kunstform – mit dem wagnerschen Gesamtkunstwerk als einer der wichtigsten und zugleich am meisten umstrittenen Positionen innerhalb dieser Gattung. Doch Diawaras Betrachtungen der Oper folgen nicht so sehr ihrer Expansion oder Totalität, sondern eher ihrer Bewegung oder Migration. Was passiert, wenn sie von Europa südwärts nach Afrika wandert, während umgekehrt so viele Menschen von diesem Kontinent auf der Suche nach einem besseren Leben Richtung Norden wandern?
Als ich den Film, den Diawara bei der documenta 14 erstaufführt, zum ersten Mal sah, war ich beeindruckt, wie viel Zeit in der Oper dem Trauern und der Reflexion gewidmet ist, und noch mehr von der besonderen Sicht dieses weltlichsten aller Filmessayisten, der dazu auffordert, mitzufiebern – den Worten seines engen Freundes, des Dichters und Philosophen Édouard Glissant aus Martinique, folgend. Beim Spaziergang an der Küste von Lesbos stellt er seine Fragen im Angesicht des Meeres und seiner Mythen, vor dem Hintergrund massenmedialer Bilder einer Massenmigration, die das Heldentum der Einzelnen hinter großen Zahlen und anderen Abstraktionen verschleiern. Er lädt herausragende Kritiker_innen wie Fatou Diome, Nicole Lapierre, Richard Sennett und Alexander Kluge ein, bei der Artikulation der feinsinnigen Empfindungen zu helfen – Sinn zu stiften. Bintou Were, a Sahel Opera wird zur Weltoper: tragisch gemäß der Tradition des Genres, aber nicht im Sinne einer Ausweglosigkeit. Könnten wir sagen, dass sie unterwegs ist auf der Suche nach einem besseren Tod?
— Monika Szewczyk