Im Frühling 2011 erhoben die Syrer sich gegen eine überkommene Diktatur. Schüler_innen schrieben an die Mauern: Der Kaiser ist nackt. Mit dem Ruf nach Würde und Freiheit stürmten junge Leute die Straße und die sozialen Netzwerke. Bürger_innen aller Schichten träumten davon, in Harmonie mit der Welt zu leben. Überall in der syrischen Gesellschaft war das Verlangen nach dem universellen demokratischen Ideal zu spüren, befördert durch den demografischen Wandel, der zeitgleich in der syrischen Gesellschaft stattfand. Wir sprechen hier von einer gewöhnlichen Gesellschaft: mit den Hirngespinsten des Regimes und dem angekündigten „Kampf der Kulturen” hatten diese Menschen nichts zu tun.
Wir wissen, wie die Geschichte weiterging. Nachdem Baschar al-Assad die Medien zum Schweigen gebracht hatte, ließ er die Armee auf seine aufsässigen Mitbürger_innen los, die er kurzerhand als »Mikroben« bezeichnete. Er setzte die inhaftierten Dschihadisten auf freien Fuß, die heute die wichtigsten Rebellenmilizen kontrollieren und daran arbeiten, die säkularen Anhänger der Revolution auszurotten. Ohne Unterlass hat Assad Dörfer und Städte angegriffen, mit Panzern, Flugzeugen, Raketen, Fassbomben, chemischen Waffen. Und tat sein Bestes, um zu verhindern, dass die Gesellschaft sich von dem Regime befreit, das der alte Assad nach einem Staatsstreich 1970 errichtet hatte.
Wie kommt es also, dass das in den Medien gezeichnete Bild der syrischen Gesellschaft nicht deren Realität widerspiegelt, sondern vielmehr die Märchen des Regimes und die Schauergeschichten derer, die fest an den Kampf der Kulturen glauben? Warum darf der mutmaßliche Kriegsverbrecher Baschar al-Assad immer im Kostüm des Gentlemans auftreten – und sich damit als Alternative anbieten zu den Flüchtlingsmassen und Dschihadistenhorden, auf die die syrische Gesellschaft sonst reduziert wird?
Diese Fragen beschäftigen uns: Wir sind syrische Filmemacher_innen, die sich der Revolution verpflichtet wissen. Aber diese Fragen gehen die Bürger_innen in aller Welt etwas an. Ein Regime hat sich darangemacht, seine Gesellschaft systematisch zu zerstören, unmittelbar vor den Augen der Medien, die die Bilder des Verbrechens fast schon live übertragen. Der Herrscher dieses Regimes verbreitet seine Ansichten über die Bildschirme in der ganzen Welt – seinen Hunderttausenden von Opfern dagegen wird dieses Recht verweigert.
Anders ausgedrückt: Die Bildschirme, die das öffentliche und private Leben bestimmen, geben seit Jahren die Ansichten eines Verbrecherstaats wieder. Das Böse wird hier banalisiert, nicht im Namen einer rassistischen Ideologie wie im „Dritten Reich”, sondern im Namen abgeschmackter Anteilnahme, die inzwischen eine Art Universalreligion geworden ist.
Um zu vermeiden, dass die armen Syrer_innen in aller Stille sterben, hielt man es für eine gute Idee, ihre geschundenen, der Würde beraubten Körper zur Schau zu stellen. Das Fernsehen zeigt die Bilder, die die Opfer und Henker auf YouTube posten – die Opfer, weil sie um Hilfe rufen, die Henker, weil sie Angst und Schrecken verbreiten wollen. Weil die Aussicht auf enorme Zuschauerzahlen besteht, investierte die Medienindustrie sogleich in die Produktion dieser sensationellen Bilder. Filmemacher, die den Vorteil haben, sowohl Einheimische zu sein, als auch für wenig Geld die Quoten in die Höhe treiben zu können, wurden als Subunternehmer eingesetzt. So konnte ein europäischer Sender den Dokumentarfilm Syria Self-Portrait produzieren: Er reduziert die syrische Gesellschaft auf die ihrer Würde beraubten Körper in YouTube-Videos.
Niemand scheint sich daran zu stören, dass so die Menschenwürde und das Selbstbestimmungsrecht der Syrer_innen gleich zweifach angegriffen werden. Keine Kommission und kein Beirat hat sich bislang zu der schamlosen Darstellung getöteter Syrer_innen geäußert – undenkbar, wären die Opfer aus Amerika, Frankreich oder Belgien.
Das bedeutet: Entweder gilt die Anerkennung der angeborenen Würde nicht mehr für alle Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen, was zur Folge haben müsste, dass man die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte entsprechend korrigiert. Oder die Gemeinschaft der Menschen erkennt nicht, dass die für ihre Abbildung verantwortliche Medienindustrie sie an einen Abgrund gezerrt hat.
Für uns, die wir bereits in den Abgrund gefallen sind, ist es schwierig zu beurteilen, welche der beiden Vermutungen richtig ist. Deshalb appellieren wir an die Bürger dieser Welt: Es ist an der Zeit, die Waffen der Kunst, des Kinos, des Journalismus zu ergreifen, um die Gesellschaft zu schützen und ihr zu erlauben, ihr eigenes Bild zu zeichnen – ohne Einflussnahme der Staatsgewalt. Das Kräfteverhältnis muss sich dergestalt verschieben, dass es ein Recht am eigenen Bild gibt, basierend auf dem Grundsatz der Menschenwürde und der Selbstbestimmung. Die Medien dürfen nicht länger die Darstellung einer menschlichen Gemeinschaft ausnutzen zugunsten eines Staates oder von Anzeigekunden der Haushaltsgeräteindustrie.
Dieser Text erscheint auch in den Zeitungen Die Zeit, Dagens Nyheter und Libération.