Die Würde genießt heute kein hohes Ansehen. Sie wird als normatives Konzept begriffen, schwierig einzuschätzen und noch schwieriger mit künstlerischen Praktiken in Übereinstimmung zu bringen, die sich von Normen und Regeln befreien wollen. Es handelt sich dabei auch um ein politisches Argument, das von reaktionären Gegner_innen künstlerischer Freiheit vorgebracht wurde. Und schließlich ist die Würde ein Ideal, das in einer Atmosphäre, in der das Postfaktische triumphiert, gegen den nihilistischen Strom geht.
Im Gegensatz zur Freiheit ist Würde nicht sexy. Das hängt vielleicht mit dem zusammen, was Marx und Engels böse im Kommunistischen Manifest behandelten, als sie die Bourgeoisie beschuldigten, aus der Würde einen reinen Tauschwert gemacht zu haben. Selbst Bob Dylan gelingt es nicht, das Banner der Würde wieder aufleuchten zu lassen. Das Lied, dem er den Titel Dignity gab, blieb relativ unbekannt. Und es endet auch mit Worten, die beinahe nach einer Herausforderung klingen: Someone showed me a picture and I just laughed / Dignity never been photographed.
Die Würde ist jedoch eine der Säulen, auf der – in Folge der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die die Nazis verübt hatten – unsere gemeinsame Welt aufgebaut wurde. Die Nazis hatten damit begonnen, ihre Opfer als bar jeder Würde vorzustellen, als Untermenschen. Die 1948 beschlossene Allgemeine Erklärung der Menschenrechte hebt mit dem folgenden Satz an: Da die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet... Würde ist deshalb nicht nur universal, sie untermauert zugleich Freiheit und Gerechtigkeit.
Wir haben keine andere Chance, als die Herausforderung der Würde anzunehmen – auch dann, wenn sie sich nicht fotografieren lässt. Wir haben keine andere Wahl, als uns auf den Kampf um die Repräsentation in der Welt einzulassen und während wir dies tun, müssen wir danach streben, den Anderen oder die Andere als seinen oder ihren Selbstzweck und nicht als Mittel zu betrachten.
Doch wie können wir dieser Herausforderung nachkommen, wenn die Bildschirme, die die Welt trennen und formatieren, einer Logik der Repräsentation folgen, die dem Marschtritt des Marktes gehorcht? Angesichts eines vom Markt produzierten Spektakels der Entwürdigung, das uns gedemütigte syrische Leichen im Namen der Verpflichtung, Mitgefühl auszulösen, zeigt: Wie bringt man ein würdiges Bild hervor?
Die Frage der Würde stellt sich seit dem ersten Erscheinen eines Syrers auf der Leinwand in einem Film der Brüder Lumière aus dem Jahr 1897, Assassinat de Kléber [Die Ermordung Klébers]. Die Szene zeigt General Kléber, eine glorreiche Figur der Französischen Revolution, wie er von einem bärtigen Fanatiker in den Rücken gestochen wird. Der Film wählte damit jedoch eine alternative Darstellung des Syrers, die von den historischen Fakten abwich. Der Syrer, der den Anführer des kolonialen Feldzugs in Ägypten und Syrien erstach, war ein bartloser Schriftsteller und er stach Kléber ins Herz.
Zwei Schemata von vorgefertigten alternativen Fakten können eine solche Darstellung erklären. Zum Einen gab es da die im Überfluss vorhandene Literatur, derer sich die Brüder Lumière bedienten, die den jungen muslimischen Schriftsteller als grundsätzlich feindselig präsentierten. Zum Zweiten wurden die sterblichen Überreste des jungen Schriftstellers von der französischen Armee zurück nach Paris gebracht und sein Skelett im dortigen Naturgeschichtlichen Museum als Exemplar eines Fanatikers ausgestellt.
Mit seiner Ausstellung im Museum seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts wurde dieses Skelett zum ersten sinnlich-sensorischen Referenten für ganze Generationen von Intellektuellen, Journalist_innen und Künstler_innen (einschließlich der Brüder Lumière), der auch das Bild des modernen Syrers bestimmen sollte. Ende des 20. Jahrhunderts wurde aufgeräumt, das Skelett ins Lager geschafft und durch ein politisch korrekteres Medienbild ersetzt. Doch es kümmerten sich keine Intellektuellen, Journalist_innen und Künstler_innen darum, den ursprünglichen sinnlich-sensorischen Referenten herauszufordern.
Dieser Herausforderung stellten sich schließlich die Syrer_innen, die im Frühling des Jahres 2011 Massendemonstrationen abhielten und dabei KARAMAH (Würde) riefen. Sogar hier lassen die Fakten nur wenig Spielraum für Zweifel, da der Aufstand der syrischen Gesellschaft gegen den syrischen Staat durch soziodemografische Daten belegt ist, die dem Modell universaler Demokratie vorzuziehen sind (vgl. Die unaufhaltsame Revolution: Wie die Werte der Moderne die islamische Welt verändern von Emmanuel Todd und Youssef Courbage, 2008).
Unterdessen zeigten die Bildschirme der Welt Leichen, denen man jede Würde genommen hatte, sprachen nur von Religionen und Sekten, von Geopolitik und Tausendundeine Nacht. Sie zeigten Bilder, die man niemals gemacht hätte – und schon gar nicht gesendet –, wenn auf ihnen Europäer_innen oder Amerikaner_innen zu sehen gewesen wären. Zur Erinnerung: Bilder von Opfern terroristischer Anschläge in Europa und den USA werden im Namen der Menschenwürde niemals veröffentlicht, gemäß den Grundsatzerklärungen und -prinzipien journalistischer Ethik, die ebenso für die herkömmlichen Medien wie für YouTube gelten.
Wie erklärt man sich ein solches Spektakel der Entwürdigung, das dieser Ethik zuwiderläuft? Es ist die Wirtschaft, Dummkopf! Sagt Osama al-Habali, der als Bürger und Journalist mit internationalen Medien zusammengearbeitet hat, um das mediale Blackout, das vom Baschar al-Assad-Regime zu Beginn des Aufstandes verordnet wurde, zu umgehen. Das ist seine Aussage, aufgenommen Ende 2011. Er war der erste, der alles verriet, als er das Anliegen der Würde im Rahmen der Machtbeziehungen zwischen Autor_in und Produzent_in situierte.
Wie es sich trifft, ist der Autor ein Bürger, der seine eigenen Leute filmt, um sie zu verteidigen. Der Produzent gehört einem Medienunternehmen an, das derlei Bilder ausbeutet, um aus finanziellem Interesse das größtmögliche Publikum zu erreichen. Die Autorin ist seinen oder ihren Leuten gegenüber verantwortlich, mit denen er oder sie ein gemeinsames Schicksal teilt. Die Produzentin ist niemandem außer dem Markt Rechenschaft schuldig.
Gewiss waren die Machtverhältnisse zwischen Autor und Produzent in Syrien immer schon ungerecht verteilt, zumindest seit der Zeit des Films der Brüder Lumière. Doch die syrische Revolution stellte diese Machtbeziehung zwischen Autorin und Produzentin scheinbar in Frage. Zumindest hofft man das, wenn eine neue Generation unabhängiger Aktivist_innen und Künstler_innen die Bühne betritt. Sie nahmen aktiv an der Repräsentation der syrischen Gesellschaft teil, die bis zu diesem Zeitpunkt vom syrischen Staat oder der Medien- und Kulturindustrie monopolisiert worden war.1
Die Generation von Bildproduzent_innen, zu denen Osama al-Habali gehört, nutzte das Internet im Geiste des do it yourself, um Darstellungen ihrer Gesellschaft zu produzieren und zu senden, die ihren eigenen Ansprüchen gerecht wurden. Eine Darstellung, die die Gesellschaft gegen den Staat verteidigte und dabei gleichzeitig der ganzen Welt ein anderes Bild der Syrer_innen bot, die bislang nur durch die Linse von Geopolitik, Religion und Exotismus betrachtet wurden. Bald schon begann der syrische Staat alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, um seine Hegemonie zu wahren. Und die Medien- und Kulturindustrie tat alles in ihrer Macht stehende, um ihre Monopolstellung, angefangen bei den Satelliten-Fernsehkanälen, zu sichern.
Nach den öffentlichen Protesten im März 2011 stellte der größte Fernsehsender Kontakt zu unabhängigen Autor_innen her, die spontan Bilder des Aufstands und der Unterdrückung durch das Regime filmten und ins Internet hochluden. Die Fernsehkanäle ließen diese Bilder zirkulieren und boten an, derlei Zeugnisse in den Massenmedien zu senden. Sie lobten den Mut der Autor_innen. Bald darauf boten Fernsehstationen an, den Aktivist_innen Bilder abzukaufen. Dann wurden neue Bilder in Auftrag gegeben, wobei nun die eigenen Regeln bezüglich Bildinhalt und Blickachse zu beachten waren. Die Autor_innen produzierten nun nicht mehr Bilder als Antwort auf die Bedürfnisse ihrer Gesellschaft. Vielmehr kamen sie nun den Bedürfnissen des Marktes nach, dessen goldene Regel schon seit langem lautet: Wenn Blut fließt, steigt die Nachfrage.
Die jungen Autor_innen, die eigene Bilder für ihre eigene Gesellschaft machten, um ihren eigenen Bedürfnissen nachzukommen, wurden zu Subunternehmer_innen der Medien- und Kulturindustrie, die das Spektakel der Entwürdigung produzierten. Diese Autor_innen boten der Industrie ein Alibi, um das Spektakel der Entwürdigung zu rechtfertigen. Sie stellten eine neue informatorische Ordnung her, die wir den Krieg von innen her genannt haben. Es handelt sich dabei um eine neue informatorische Ordnung, die die Macht hat, Syrien auf ein Videospiel des Krieges zu reduzieren (vgl. GoBro) und Rebell_innen in Clowns verwandelt (vgl. Here and Elsewhere).
Wir versichern nachdrücklich, dass es den Bildern von Syrer_innen sogar noch mehr an Würde mangelt, weil die Produktionsbedingungen die Produzent_innen auf Kosten der Autor_innen begünstigt. Mit anderen Worten: Die Würde bleibt solange kompromittiert, solange Syrer_innen nicht zu Produzent_innen ihrer eigenen Bilder werden. Wenn also syrische Bildermacher_innen die Würde ihrer Mitbürger_innen wieder herstellen wollen, dann müssen sie sich die Produktionsmittel für ihre eigenen Bilder wieder aneignen.
Doch dies ist kein Fazit. Das ist bloß eine Einführung in einen Kampf, den unser Kollektiv Seite an Seite mit den Bildermacher_innen der Welt aufnehmen will. Dabei treten wir in die Fußstapfen unseres antifaschistischen Vorgängers, des Verfassers von Der Autor als Produzent. Weil der Markt die Tricks des „Aktivismus“ und der „neuen Objektivität“ wiederentdeckt hat, auf die sich Walter Benjamin in seiner Ansprache am Institut zum Studium des Faschismus in Paris bezogen hatte. Die Finte des Marktes hat sich als so erfolgreich erwiesen, dass ihr die Überzeugung gelungen ist, dass eine Ästhetik der Entwürdigung die syrische Würde sogar noch unterstütze – zweifellos haben das Baschar al-Assad, ISIS und die Partisan_innen des Postfaktischen mit Vergnügen gehört. Daher: Selbst wenn sich die Würde nicht fotografieren lässt, ist es jetzt an der Zeit, sie zu verteidigen; indem man die Fundamente für eine Produktionsweise legt, die auf dem Menschenrecht eines würdigen Bildes basiert.
Dies ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, der zuerst in einem Seminar am Royal Institute of Art, Stockholm, im Januar 2017 gehalten wurde.