Im Zentrum von Mary Zygouris Erkundungen, Inszenierungen und Rekonfigurationen steht die Politik und Poetik des Archivs, in dessen kritischen Einschränkungen, Konflikten und Verschwiegenheiten sich die Künstlerin positioniert. Dabei führt sie uns vor Augen, wie „unbedeutende“ Geschichten auf der Suche nach Aufmerksamkeit die Archive durchgeistern. Für ihren Beitrag zur documenta 14 trägt die 1976 in Athen geborene Künstlerin Reste eines Archivs der griechischen Performancekünstlerin Maria Karavela zusammen, das 1996 durch einen Atelierbrand großteils vernichtet wurde.
Als Ausgangspunkt dient ihr Karavelas ikonische Performance Kokkinia vom 27. Juni 1979. In diesem Athener Arbeiterviertel fand im August 1944 die „Blocco (Razzia) von Kokkinia“ statt, bei der als Vergeltung für einen vom kommunistischen Widerstand geführten Aufstand Hunderte Menschen von deutschen Soldaten getötet und viele weitere in Konzentrationslager verbracht wurden. Fünf Jahre nach dem Sturz der Militärjunta präsentierte Karavela auf dem Platz Agiou Nikolaou ihren verbotenen Film Antistasi (Widerstand, 1977; beim Brand von 1996 vernichtet), der neben Szenen des Widerstands aus der Kriegszeit auch Aussagen kommunistischer Kämpfer zum griechischen Bürgerkrieg und zu ihren Erfahrungen im Exil zeigte. Die unterschiedlichen Zeitschichten der Performance verknüpften eine aktive Teilnahme der Öffentlichkeit mit den gefilmten Interviews und künstlerischen Formen des Bezeugens und Darstellens von politischem Verlust.
Zygouri antwortet auf diese dokumentarische Matrix (und bringt sie uns zu Gehör), angelehnt an Foucaults Begriff der „Geschichte der Gegenwart“: eine genealogische Erkundung, inspiriert von einer Frage der Gegenwart. Die Spukhaftigkeit des Ereignisses gestaltet den öffentlichen Raum um, eine kritische Performativität des politischen Gedächtnisses hält Einzug. Das Projekt umfasst eine Ausstellung im Mouseio tis Mantras tou Blokou Kokkinias (Museum der Razzia von Kokkinia), Informationsworkshops in örtlichen Schulen sowie eine öffentliche Performance mit der Gemeinde, ganz im Sinne einer Aufklärung durch „offene Arbeit“ (Mary Zygouri).
Zygouris Performance – geprägt von nicht erzählten Geschichten über Karavelas Marginalisierung und selbst gewähltes Exil – bewegt sich zwischen unterschiedlichen Ebenen des Zeugnisablegens: beharrliche Relikte eines vergessenen Archivs, im Wandel begriffene Formen der Dokumentation, Verlust, dissidente Erinnerungen. In diesem Zusammentragen von Erinnerungen, in all seiner leidenschaftlichen und verletzlichen Intensität, lebt die Frage politischer Subjektivität fort: Wem gehört der öffentliche Raum, wer soll Teil des Kollektivkörpers sein und dessen archiviertes Wissen für sich beanspruchen können, wenn das „kollektive Gedächtnis“ als gemeinsames, doch unterschiedlich verfügbares Gefühl der Zugehörigkeit zu verstehen ist?
Mary Zygouri öffnet diese Fragen für eine Neuinterpretation der Grenzen dessen, was (nicht) erzählt, bezeugt und erinnert werden kann. Ihre Suche nach Maria Karavelas Spuren in Kokkinia ruft in Erinnerung, was essenziell verloren ist.
— Athena Athanasiou