Dinge tendieren – manchmal – dazu, persönlich zu werden. Meine Bekanntschaft mit Ross Birrell verdanke ich Gustav Metzger, dessen Walter Benjamin gewidmete Ausstellung In Memoriam ich 2006 in der Kunsthalle Basel organisierte. Wir baten den Künstler, als Begleitveranstaltung zur Ausstellung einen Film zu wählen, der im angrenzenden Kino präsentiert werden sollte. Metzger erklärte, er habe erst unlängst bei der Eröffnung einer Ausstellung von John Latham seine schottischen Künstlerfreunde Ross Birrell und David Harding (ebenfalls mit Latham befreundet) getroffen. Die beiden stellten zu diesem Zeitpunkt gerade ihr neues Filmprojekt über Benjamin fertig. Ohne weitere Umstände lud ich Harding und Birrell ein, ihr Werk in Basel vorzustellen. Port Bou: 18 Fragments for Walter Benjamin (2006) besteht aus mehreren miteinander verknüpften Erzählungen, darunter Birrells Wanderung über die Pyrenäen. Diese folgt der Route, die Benjamin 1940 auf seiner Flucht vor den Nazis nahm und die ihn ins spanische Dorf Portbou führte, wo er sich am 26. September desselben Jahres das Leben nahm. Während Birrell (geboren 1969) das Gebirge überquert, sehen wir David Harding (geboren 1937), der in einem Café auf dem zentralen Platz von Portbou auf ihn wartet, dabei an einem Getränk nippt und sich Notizen macht – ein visuelles Echo des „alten Benjamin“ nach den Erinnerungen von Lisa Fittko, die dem Schriftsteller auf der letzten hoffnungsvollen Passage seines Lebens Geleit gab. Nach der glücklichen Wiedervereinigung der beiden Künstler spazieren diese durch das Dorf bis zu einem 1994 vom israelischen Bildhauer Dani Karavan errichteten Monument, das Benjamin gewidmet ist: Passagen besteht aus einem Tunnel und einer Treppenflucht, die von der Felswand steil in die Tiefe führt und erst unmittelbar über dem brodelnden Meer innehält.
18 Fragments ist charakteristisch für die performative und tagebuchartige, subjektive und fragmentarische Arbeitsweise von Ross Birrell, in der unterschiedliche Narrative miteinander verwoben werden – mit einigen losen Enden. „Das Fragment ist der Eingriff des Todes ins Werk. Indem er es zerstört, nimmt er den Makel des Scheins von ihm“, schreibt Theodor W. Adorno, ein Freund Benjamins, in seiner Ästhetischen Theorie. In Birrells laufendem Projekt „Envoy“ nimmt kritisches Denken die Form einer Geste an: Ein – in der Regel historisch gewichtiges – Buch wird in ein Gewässer oder in eine Schlucht geworfen, zuletzt etwa Utopia von Thomas Morus, das am 11. März 2016 in Piräus seinen Weg ins Mittelmeer fand. Ein Foto hält dabei das Buch auf dem Scheitelpunkt seines kurzen Flugs ebenso fest wie den Werfer, der auf sicherem Boden steht. Jedes Projekt (vom lateinischen proicere, „vorwärtswerfen“) ist ein Wurf, so wie es auch immer einen Abgrund gibt, der sich vor uns auftut.
— Adam Szymczyk