Auf dem Weg zurück von den Gemeinschaftsduschen blieb ich am Tor stehen, um die Szenerie auf mich einwirken zu lassen. Sie erinnerte an die Kinderzeichnung eines kleinen Dorfs: Strohhütten am Rande der Wüste. Über dem Toten Meer ging gerade die Sonne auf, und in Staunen versunken sann ich über die seltsame Situation nach. Ich war hierhergekommen, um an Angelo Plessas’ dritter „Eternal Internet Brother/Sisterhood“ teilzunehmen, die rund um einen halb verlassenen Campingplatz im Westjordanland stattfand, einer von Israelis und Palästinensern gleichermaßen beanspruchten Region. Am Abend zuvor hatte sich unsere zwanzigköpfige Gruppe am Feuer versammelt und „Manifesto“ gespielt, ein von Plessas vor Ort erdachtes Spiel: Nachdem er einen Absatz aus einem Buch über Kunstmanifeste vorgelesen hatte, mussten wir die dazugehörige Bewegung erraten. Schritt für Schritt fiel alle Überheblichkeit und Anmaßung von uns – allesamt erwachsen und der Kunstwelt zuzurechnen – ab. Kein Publikum beobachtete unseren Auftritt, und so fühlten wir uns wie in der Fantasieausgabe eines Kinderlagers, wenn auch an einem politisch brisanten Ort, dessen Realität sich nicht verleugnen ließ. War dies das Kunstwerk? Waren wir selbst das Kunstwerk?
Der Künstler, geboren 1974 in Athen, arbeitet im und rund um das Internet. Plessas registriert Domainnamen wie SymmetryOfChaos.com und erfindet Situationen für seine Figuren. Oder er reist mit Google Street View um den Globus, um passende Orte für seine Zusammenkünfte zu finden. Nach den jährlichen „Brother/Sisterhood“-Treffen (2012–) verwendet er deren Dokumentation, um ausgeklügelte und faszinierende Installationen zu inszenieren, die er selbst nicht als Skulpturen bezeichnet, sondern als „Werbestände“ für zukünftige Treffen. Keine Menschen bevölkern diese Installationen, sondern Videos der früheren Veranstaltungen, begleitet von YouTube-Ankündigungen des nächsten Projekts. Wir hören computergenerierte Stimmen mit Aussagen wie „uralte Mythologien können unseren aktuellen Zustand vernetzen“, „das Internet sollte nicht als Instrument, sondern als Struktur gegen Hierarchien und soziale Konventionen fehlgeleitet werden“, „wir werden zu Sklaven unserer Klicks und Likes“, „durch die mangelnde Versuchung des Unbekannten ist unsere Aufmerksamkeit das größte globale Handelsgut aller Zeiten“. Nicht selten verweist Plessas’ Werk auf soziale Experimente aus den Anfangstagen der Technologie, alternative Manifeste über das Dasein als Künstler und erfundene Anleitungen für „emotionale Schnittstellen“ und „neue soziale Horizonte“. In „Brother/Sisterhood“ ebenso wie im neuen Projekt „Experimental Education Protocol“ (2016–) scheinen Künstler_innen, Autor_innen und Denker_innen tatsächlich das Medium für Plessas’ Arbeit zu sein. Als Moderator und Coach, Schulhofaufsicht und Antreiber beobachtet und dokumentiert er ihre Arbeits- oder Darstellungsweisen.
Bei einem Spaziergang durch das Internet stoßen wir auf weitere seiner fantastischen sozialen Domains in Form von Websites, das erste Medium des Künstlers. In diesen virtuellen Zusammenkünften verändern abstrakte, talismanhafte Figuren ihre Identität per Mausklick, sie interagieren in sozialen und emotionalen Situationen, so wie auch wir bei „Brother/Sisterhood“. Ob online oder offline – Plessas’ Versammlungen sind als Experimente für eine Gesellschaft der Zukunft zu verstehen.
— Andreas Angelidakis