Während eines Besuchs im September 2015 in Lahore fanden wir uns bei Lala zusammen; die Tür zu ihrem Hinterhofgarten stand offen und ein sanfter Luftzug strich durch den Raum. Schnell fand ich heraus, dass der Garten in eine Siebdruckerei verwandelt worden war, in welcher die Mitglieder des Women’s Action Forum Lahore und andere feministische Organisationen die Strategien für den visuellen Ausdruck ihres Protests entwarfen. Sie hatten gemeinsam Drucktechniken erlernt, um ihrem Ruf-Antwort-Prinzip grafisch Gestalt verleihen zu können und so der brutalen Zensur und den frauenfeindlichen Gesetzen, die im Militärregime von Zia-ul-Haq eingeführt worden waren, Widerstand zu leisten. Diese Workshops zur Herstellung von Plakaten und Transparenten sowie das Schmieden von Bündnissen führte Lala durch ganz Südasien, darunter auch in meine Heimatstadt Ahmedabad, wo sie mit Arbeiterinnen von der Self Employed Women’s Association (SEWA), einer Gewerkschaft und NGO, zusammenarbeitete. Ein stabiles Netzwerk südasiatischer Aktivist_innen wurde auf diese Weise für ihre persönliche Politik zum zentralen Faktor.
Lala kämpfte darum, ihre Rollen als Künstlerin, Erzieherin und Aktivistin in Übereinstimmung zu bringen und sie verbrachte ihr Leben zu gleichen Teilen zurückgezogen wie der Gemeinschaftsarbeit gewidmet. Dieses Zusammenspiel war wesentlicher Bestandteil all ihrer Unternehmungen. Ich erinnere mich, dass Lala stets dann, wenn bei einer Musikaufführung eine Stimme oder Phrase besura war (also misstönend oder „verstimmt“ klang) sofort und mit Missvergnügen darauf hinwies. Und tatsächlich blieb ihre künstlerische Reise zur minimalistischen kalligrafischen Sprache im wesentlichen der hindustanischen Musik und dem hindustanischen Tanz verpflichtet. Versucht man über die Jahrzehnte hinweg eine Horizontlinie zu ziehen, dann lässt sich in ihrer Praxis eine fachkundige Verkörperung von Musikalität ausmachen. In ihren Hieroglyphics – Zeichnungen, die zu erweiterten Umkreisungen von Rhythmus- und Lebensbeobachtungen wurden – wird die Taktzahl in die unendlich kleinen Linien- und Kurvenformen gegossen, die dann auf unwahrscheinliche Weise für die Bewegung der Musik stehen, für die Jagd nach dem Licht und die unaufhörlichen Veränderungen der Umgebung. Als Zeugnisse einer kodierten Verschriftlichung, die sich der konzeptuellen Interpretation gegenüber offen hält, bleiben sie nichtsdestotrotz unbegreiflich. Lala sagte selbst über ihre Hieroglyphics I: Koi ashiq kisi mehbooba se (1995), dass sie in diesem verletzlichen Gefilde als „private Liebesbriefe“ entworfen wurden.
Lala Rukh, Subh-e-Umeed, 2008, sound, 9:47 min., courtesy the collection of Hetal Pawani and Grey Noise, Dubai
Während einer Ortsbegehung in Kassel bekannte sie, so als ob sie damit ein Geheimnis preisgeben würde, dass sie seit Langem den Wunsch hege, die ausgearbeitete Sequenz einer Notenschrift als Harmoniefolge zu gestalten, die das Pulsieren eines komplexen Rhythmusschemas (taal) einzufangen vermöchte. Für eine solche Übung entschloss sie sich, ihre Arbeit auf Rupak taal basieren zu lassen, also auf einem Zyklus von sieben Taktschlägen für die Tabla, der zu einer gezeichneten, 88-teiligen Partitur umgeschrieben wurde. Die Notenseiten wurden hierfür in grafische Maßeinheiten unterteilt, die es erlaubten, das Tempo in Sekunden anzugeben. Ein derartig genaues Hören und Anschreiben von visuellen Taktschlägen mittels mathematischer Präzision entstand im Einklang von Schlaginstrument und ihrem Qalam (Kalligrafiestift). Das so entstandene Werk Rupak (2016) ist das dynamische Zusammenfließen von voluminösen, grauen und leeren Takten, die eine feinkörnige Unendlichkeit auf der Bildfläche ergeben.
Neben ihrer Arbeit für die documenta 14 war Lala damit beschäftigt, eine Publikation zusammenzustellen, welche die historische Abstammungslinie des Women’s Action Forum nachzeichnen und dieses Kollektiv innerhalb der feministischen Strömungen der letzte Jahrzehnte verorten sollte. Ihre Plakate, Kalenderdrucke und Handbücher für den Siebdruck, die zurzeit in der documenta Halle in Kassel gezeigt werden, sollten nicht als nostalgische Dokumente einer Bewegung, die es einmal gegeben hat, verstanden werden, sondern vielmehr daran erinnern, dass diese Kämpfe immer noch brodeln, herausfordern und wachrütteln, weshalb wir hartnäckig weitermachen müssen.
Was sich in dieser Lebenspraxis offenlegt ist das Gefühl für Zeit, die als pochendes Pulsieren – andauernd und asymmetrisch – erscheint und nicht als glattes Kontinuum. Lalas künstlerische Handlungen waren trotzige Methoden der Zeitbewahrung und wir sehen, wie die Formgebung der Zeitlichkeit unterschiedliche Gestalt annimmt: der Verlauf des Mondlichts, eine ansteigende Welle, das Nachzeichnen des Sandes an einer Küste, der kollektive Widerhall bei Protestkundgebungen, die deutlichen Konturen eines Körpers. Die stille Entschlossenheit, die in Lalas Werk deutlich wird, besitzt keine utopischen Konturen; stattdessen wird man sich bewusst, dass sie ein ausgearbeitetes Bild dieser grundsätzlichen Frage von Freiheit und Gefangenschaft zu Tage fördert.
Als sie über ihr letztes Werk aus der Reihe Mirror Image sprach, in dem Grafitmarkierungen auf Kohlepapier als Landschaften vieldimensionaler Dunkelheit agieren, bemerkte sie sachlich und nüchtern: „An diesem Punkt meines Lebens besitze ich den Mut zu verschwinden.“
—Natasha Ginwala
Die Autorin und das Team der documenta 14 danken Qasim Ahmed, Saira Ansari, Umer Butt, Sunny Justin, Attiya tur Rehman Nasira, Hetal Pawani, Agha Rahman und Saleh Samee.