Die Apatride-Gesellschaft des politischen Anderen:
Integrierter Weltkapitalismus und der Ithageneia-Zustand
Koordiniert von Max Jorge Hinderer Cruz, Nelli Kambouri und Margarita Tsomou
Auf Griechisch benutzt man häufig das Wort ιθαγενής (ithagenis), wenn man vom „Einheimischen“ spricht. Mit diesem Wort werden für gewöhnlich die Aborigines in Australien oder die indigenen Einwohner_innen der USA bezeichnet. Wenngleich die Vorstellung vom „griechischen Indigenen“ lächerlich oder paradox wirkt, so wird dasselbe Wort im bürokratischen Jargon doch auch für die griechischen Bürger und Bürgerinnen gebraucht: eine Griechin, die ithagenia (ιθαγένεια) genießt, ist eine Person, die der Nation – genos (γένος) – angehört und alle staatsbürgerlichen Rechte besitzt. Im Gegensatz dazu hat der Begriff „Staatsbürgerschaft“ (πολιτειότητα, ιδιότητα του πολίτη) die sprachliche Fantasie des gesetzgebenden und bürokratischen Apparats nicht sonderlich beflügelt. Das mag zufällig passiert sein, oder sich der Macht der Gewohnheit verdanken, aber im Sinne der Wortverwendung bleibt die Sache zweifellos paradox und besitzt das Potenzial, dazu anzuregen, nach dekolonialisierenden Praktiken zu fahnden, wenn es um Zugehörigkeit geht.
Griechenland, die Wiege des modernen Europa und das zeitgenössische Musterbeispiel für den verschuldeten „europäischen Süden“, ist heute ebenso das Zuhause der „griechischen Indigenen“ wie Durchgangspforte für afrikanische und arabische Migrant_innen sowie andere Ströme der ithagenis. Griechenland findet sich nun selbst in der neokolonialen Sackgasse von Kreditgeber_in vs. Schuldner_in wieder, im Dilemma aggressiver neoliberaler Reformpolitik und von außen auferlegter Sparprogramme, die an die Krisen in Afrika, Asien und Lateinamerika während der 1970er- und 1980er-Jahre erinnern. In diesen Krisen gingen Finanzrettungsaktionen einher mit gewaltsamer neokolonialer Prekarisierung von Arbeit, der Privatisierung sozialer und staatlicher Infrastrukturen und Zugeständnissen seitens der souveränen Regierungsmacht an kreditgebende zwischenstaatliche Körperschaften und ausländische Regierungen in Form von Strukturanpassungsprogrammen (SAP). Griechenland ist zum herausragenden Beispiel einer Kolonialisierung anderer Ordnung geworden, angebunden an die Mechanismen des „integralen Weltkapitalismus“ (Félix Guattari) und dessen Tendenz, die produktiven und sozialen Systeme nach seinen eigenen, sich stets verändernden Prinzipien neu zu gestalten. Er respektiert weder ein einzigartiges Kulturerbe oder etablierte Grenzverläufe noch grundlegende Narrative; er ist stets bereit, seine Ahnen aufzufressen, seine eigenen Eingeweide auszuschlachten und letzten Endes sich selbst zu belagern und zu kolonisieren.
Mit der Einführung und Etablierung des Begriffs der ithageneia als Zustand versucht die Apatride-Gesellschaft die eurozentrische Perspektive hinter sich zu lassen, indem sie eine Beobachtung der wechselnden Formen und Territorien gegenwärtiger und neuer Imperative der Kolonialisierung bei der Produktion globaler und lokaler Subjektivitäten möglich macht. Der Zustand der ithageneia ist neoliberaler Stand aller Dinge – nach der Globalisierung, nach der Finanzkrise des Jahres 2008, nach den jüngsten gewaltigen Wellen globaler Mobilmachung und migrantischer Mobilität. In diesem Sinne erkennen wir das Paradox des ithagenis (ιθαγενής) an, der zugleich das absolute „Andere“ wie das absolute „Selbst“ benennt, die beide offenbar die Zustandsbedingung im gegenwärtigen Kapitalismus konstituieren. In einem solchen Zustand der ithageneia kann der Status von Einzelindividuen, großen Gruppen von Menschen oder ganzen Bevölkerungen transformiert werden – vom „Selbst“ hin zum „Anderen“, vom „sicher“ hin zum „unsicher“, vom Souverän-Sein hin zum Abhängig- oder Verschuldet-Sein und umgekehrt. Folglich muss der ithageneia-Zustand als flexibler Mechanismus verstanden werden, der, gleich einem zweideutigen Bild oder einer Kippfigur, angewandt, verändert und allmählich an die Anforderungen des ökonomischen Imperativs des Neoliberalismus angepasst werden kann.
Der ithageneia-Zustand ist die Universalisierung des griechischen Subjekts, das sich im Spiegel betrachtet und erkennt, wie das, was einst die Wiege der europäischen Kultur gewesen ist, nun zum Hinterhof ihrer Finanzwirtschaft wurde. In einem Moment ausgerechnet, da das Selbst sehr wohl zum Anderen hätte werden können, entweder schlagartig oder aber langsam, unmerklich und in einem verzögerten Vorgang. Gleichzeitig ist der Zustand der ithageneia auch ein Ruf nach neuen Formen der Wissensproduktion, neuen Formen der „indigenen“ und dekolonialisierten Epistemologien, neuen Allianzen und neuen Sensibilitäten, ein Ruf nach der Grundlegung neuer existenzieller Territorien und nach der Konstruktion neuer Perspektiven. Die Apatride-Gesellschaft hat es sich zum Ziel gesetzt, einer Debatte ein Forum zu bieten, die sich damit auseinandersetzt, wie politische Andersheit (wozu Migration, Prekariat, Enteignung und Staatenlosigkeit ebenso gehören wie politische, ethnische und sexuelle Minorität) heute in Besetzungen, Widerstand und Aktionen von Bürgerrechtsbewegungen zum Ausdruck kommen kann.
Max Jorge Hinderer Cruz ist bolivianisch-deutscher Schriftsteller, Herausgeber und Philosoph. Zu seinen Forschungsgebieten zählen materialistische Ästhetik, koloniale Ökonomie und die Geschichte der lateinamerikanischen Kunst. Seit 2014 ist er Gründungsmitglied des Seminário Público Micropolíticas in São Paulo und Mitkoordinator des P.A.C.A. (Program for Autonomous Cultural Action). Von 2008 bis 2011 war er Ko-Kurator des Ausstellungs- und Publikationsprojekts Principio Potosí / The Potosí Principle / Das Potosí-Prinzip, das im Museo Reina Sofía in Madrid, im Haus der Kulturen der Welt in Berlin und im Museo Nacional de Arte in La Paz gezeigt wurde. Er ist Verfasser des Buches Hélio Oiticica and Neville D’Almeida: Block-Experiments in Cosmococa – Program in Progress (2013) sowie Mitherausgeber zahlreicher Sammelbände, darunter Kunst und Ideologiekritik nach ’89 / Art and the Critique of Ideology After ’89 (2014). Hinderer Cruz lebt und arbeitet in São Paulo.
Nelli Kambouri ist Gender-Wissenschaftlerin und arbeitet seit 2005 am Center for Gender Studies im Institut für Sozialpolitik der Panteion Universität in Athen. Sie lehrt zu den Themenfeldern Gender, Arbeit und Sozialpolitik und führt Forschungsarbeiten zu Gender und Logistik durch. Vor kurzem hat sie ein Forschungsprojekt zu den Themenfeldern Gender, Wissenschaft und Technik an der Foundation for Research and Technology – Hellas (FORTH) auf Kreta abgeschlossen. Ihre Forschungsarbeiten, Lehrtätigkeiten und Veröffentlichungen konzentrieren sich auf die Verbindungen zwischen Gendertheorie, Migration, Prekariat und sozialen Bewegungen. Zurzeit liegt ihr Hauptaugenmerk darauf, die „Krise“ in Griechenland aus der Perspektive der Theorie des Postkolonialismus und der Dekolonisationsbewegungen zu befragen. Kambouri lebt und arbeitet in Athen.
Margarita Tsomou ist griechische Autorin, Verlegerin, Dramaturgin und Kuratorin. Sie gibt das pop-feministische Missy Magazine heraus und schreibt für deutsche Zeitungen und das Radio. Ihre künstlerischen und kuratorischen Projekte wurden an verschiedenen Theatern realisiert. Dazu gehören das Hebbel am Ufer Berlin, das Maxim Gorki Theater und die Volksbühne in Berlin, Kampnagel in Hamburg sowie das Onassis Cultural Center in Athen. Derzeit stellt sie ihr Buch zum Thema „Representation of the Many“ fertig, das sich im Kontext der griechischen „Indignados-Bewegung“ und der Besetzung des Syntagma-Platzes 2011 in Athen bewegt. Sie gehört dem Verlagskollektiv b_books in Berlin und der künstlerischen Aktivistinnengruppe Schwabinggrad Ballett in Hamburg an. Tsomou lebt und arbeitet in Berlin und auf der griechischen Insel Skiathos.