Während eines Treffens der Eurogruppe sollen mehrere europäische Finanzminister ihrem griechischen Kollegen Euclid Tsakalotos angeblich erklärt haben, dass er mit seinen Einwänden gegen die Bedingungen des IWF zwar recht habe, sie am Ende aber wahrscheinlich doch akzeptieren müsse. Ihr Argument sei gewesen, dass der IWF sich unbedingt weiter an der Hilfe für Griechenland beteiligen müsse, weil die Öffentlichkeit in den betreffenden Ländern dies fordere, und das sei insbesondere in einem Wahljahr von großer Bedeutung. Tsakalotos soll erwidert haben: „Bei uns wird ebenso gewählt, und auch wir haben eine Öffentlichkeit. Sind wir vielleicht kein europäisches Land?“ Der Finanzminister eines europäischen Landes stellt in einer Besprechung einer hochrangigen europäischen Institution die Frage, ob sein Land überhaupt europäisch ist …
Wir wissen nicht sicher, ob dieser Wortwechsel so stattgefunden hat. Aber darauf kommt es auch nicht an. Wesentlich ist, dass er, ob real oder erfunden, die widersprüchliche Verfassung Griechenlands als eines Landes innerhalb/außerhalb Europas auf den Punkt bringt.
Griechenland, ein (nicht) europäisches Land. Ein Land in einem konstitutionellen Ausnahmezustand. Ein Land, in dem die Kategorien „innerhalb Europas“ und „außerhalb Europas“ ineinanderfallen und auseinandertreiben, sich verflechten und einander widersprechen. Ein Zwischenreich, wo nichts an seinem europäischen Platz und zugleich doch alles europäisch ist.
Griechenland ist Mitglied der Europäischen Union, doch alle Regeln, die in solchen Ländern gelten, sind aufgrund des Memorandums außer Kraft gesetzt.
Griechenland hat den Euro, aber seine Euros sind (infolge der Kapitalsverkehrsbeschränkungen) nicht dieselben wie anderswo in der Eurozone.
Griechenlands Finanzminister hat in der Eurogruppe formell den gleichen Stellenwert wie seine Amtskollegen, tatsächlich aber weniger Rechte als die anderen, weil sein Land einer unbestimmten „Grauzone“ angehört.
In diesem Griechenland gilt laut Kommissionspräsident Juncker zwar der europäische Acquis an Arbeitnehmerrechten, doch er kann aufgrund des Memorandums und der Unmöglichkeit, es zu widerrufen, nicht in die nationale Gesetzgebung übernommen werden.
Griechenland ist für Flüchtlinge zugleich erste Anlaufstelle und die Mauer, die sie aus Europa fernhalten soll, es ist zugleich europäischer und nicht europäischer Boden.
Es ist ein Land, in dem Menschen- und Völkerrecht zwar gelten, aber eine Lücke in ihrer Anwendung auf Flüchtlinge besteht.
Griechenlands politische Elite beruft sich in ihrem Entschluss, „Teil Europas zu bleiben, was auch geschieht“, auf ein „Vertrauen in die europäische Orientierung“ – und bekundet gerade dadurch, dass das Ziel dieser Orientierung für sie ein äußeres, erst noch anzustrebendes ist. Dieser innere Widerspruch ist vielsagend: Damit Griechenland Teil Europas bleiben kann, muss es sich irgendwo hinbewegen, wo Europa ist.
Zugleich ist der „Fall Griechenland“ nicht zu trennen vom „Fall Europa“. Griechenland ist eine Ausnahme mit der wesentlichen Funktion, eine neue Norm zu definieren: ein verstetigtes „Drinnen“, das zugleich ein „Draußen“ ist.
Das Studio 14 ist eine Forschungsgruppe, die zur documenta 14 gehört. Sie knüpft an den „Fall Griechenland“ Fragen, die Europa, seine Memoranden und seine Flüchtlinge, seine Märkte und Austritte insgesamt betreffen. In der Verbindung von Kunst, Theorie und Politik will das Studio 14 recherchieren, reflektieren, diskutieren und am Ende Wissen hervorbringen – Wissen über das, was sich uns „von oben aufzwingt“ oder „von unten aufkommt“, über neue hybride Sprachen und Identitäten sowie neue Gemeinschaften von Widerstand und Kreativität. Zu finden sind wir im Konservatorium.
www.documenta14.de/de/notes-and-works/16271/studio-14
Yannis Almpanis ist Journalist und Blogger. Er studierte Französische Literatur in Athen und Politische Philosophie in Paris und ist aktiv im Bereich radikaler Politik.