Für die Dauer der documenta 14 stellen neun Radiosender in Griechenland, Kamerun, Kolumbien, dem Libanon, Brasilien, Indonesien, den USA und Deutschland eine weltweite Kunstausstellung im Radio zusammen. Zu empfangen ist das Radioprogramm auf UKW 90,4 MHz in Kassel sowie weltweit über die Webseite der documenta 14 und über Kurzwelle 15560 kHz. Neben ihrem Programm in den jeweiligen Landessprachen senden die Radiostationen täglich mehrere Stunden sowohl eigens für die documenta 14 produzierte Werke als auch neu erschlossene Archivmaterialien und Aufnahmen aus den Öffentlichen Programmen der documenta 14. Begleitet wird Every Time A Ear di Soun von Live-Auftritten, in denen es um Themen wie die Phänomenologie des Klanglichen, Klang als Medium historischer Narration, Frantz Fanons Vorstellung vom Radio als Mittel des Widerstands und Rudolf Arnheims Begriff vom Weltbild des Radios geht.… Mehr
Ausgangspunkt des Projekts, dessen Titel der Dub Poetry des jamaikanischen Dichters Mutabaruka entlehnt ist, ist die den meisten westlichen Kulturen gemeinsame Priorisierung visueller Kultur gegenüber gehörtem Wissen. Insbesondere die griechische Philosophie reduziert Erfahrung vornehmlich auf das Visuelle und baut ihre Epistemologie der Historiografie auf dem Sehen mit eigenen Augen (autopsia) auf; das eigene Anschauen gilt dabei als Hauptwissensquelle. In Kulturen mit einer sogenannten mündlichen Tradition nehmen die durch Erzählungen tradierte/n Geschichte/n je nach Belieben die Form von identifizierbaren oder nicht-identifizierbaren sprachlichen Äußerungen, gesprochener Sprache, Ton und Musik an. Sonorität ist hier von fundamentaler Bedeutung; sie operiert außerhalb einer Logik des Visuellen und Schriftlichen, geht über diese hinaus und kann durch sie weder erfasst noch gänzlich verstanden werden. Wer Hörerfahrungen teilt, teilt auch Geschichte/n, und dies nicht nur von Mund zu Ohr: Durch die physischen Eigenschaften von Schallwellen werden diese Geschichten vollständig vom Körper wahrgenommen, in ihm kodiert und von einer Generation an die nächste weitergegeben. Denn während das Visuelle im Allgemeinen mimetisch ist, ist das Klangvolle, wie Jean-Luc Nancy gezeigt hat, tendenziell der „Methexis“ zuzuordnen; es hat also mit Teilhabe, mit Weitergabe oder mit Ansteckung zu tun. Gerade diese Fähigkeit von Klangphänomenen, partizipatorische Momente zu initiieren und Raum für Austausch zu schaffen, sowie ihre Fähigkeit andere anzustecken macht sie zu einem so besonders geeigneten Medium für die Weitergabe von Geschichte/n jenseits von Worten. Every Time A Ear di Soun fragt außerdem, inwieweit Oralität und Embodiment durch auditive Phänomene als Mittel des Wissensaustauschs und als archivierendes Gedächtnis in beziehungsweise auf einem sich bewegenden, verletzlichen Körper verstanden werden können, der zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Raum existiert. Das Projekt untersucht, wie Ton physische und psychische Räume schafft, ihnen Platz bietet und wie durch ihn eine Synchronizität zwischen Körpern, Orten, Räumen und Geschichten entsteht und herrscht. Zugleich versucht es, alternativen Erzählungen Raum zu geben, um nicht nur „eine ungeschriebene und verachtete Geschichte zu erlösen, sondern um das europäische Weltverständnis schachmatt zu setzen. Denn wenn wir von Geschichte sprechen, sprechen wir bis zu dieser Stunde ausschließlich davon, wie Europa die Welt sah und sieht“, wie James Baldwin es ausdrückt („Of the Sorrow Songs: The Cross of Redemption“, 1979).
In afrikanischen Kulturen und Kulturen der afrikanischen Diaspora fungiert der Körper laut Esiaba Irobi „als somatogenes Instrument und als Ort verschiedenster Diskurse, der die von der Geschichte in ihn eingepressten Epistemologien von Glauben und Macht wie auf Vinyl aufgenommene Musik aufsaugt und abspielt“ („The Philosophy of the Sea: History, Economics and Reason in the Caribbean Basin“, 2006). Die Analogie mit Musik auf Vinyl ist keineswegs zufällig, da der Ausdruck auditiver Phänomene nicht nur im Gedächtnis, sondern auch im Körper verschlüsselt wird; durch wiederholte Ausführungen des „Alltäglichen“, in Tanz und anderen Ritualen wird die Vergangenheit der Gegenwart vermittelt und in die Zukunft katapultiert. Der Übergang und die Querverbindungen zwischen stimmlichen Äußerungen, gesprochener Sprache, Tönen, Musik und Performativität – und einer leibhaftigen Erfahrung im Raum und an einem Ort – ist der kuratorische Knotenpunkt, auf den sich Every Time A Ear di Soun fokussiert.
Während das Programm in acht Fällen von bestehenden Radiosendern aus gesendet wird, wird der deutsche Radiosender eigens in Berlin eingerichtet: SAVVY Funk. Sein Programm wird von Künstler_innen der documenta 14 gestaltet und sendet rund um die Uhr Nachrichten, Wetterberichte und andere Rubriken wie Unpacking Sonic Migrations (Entpacken Akustischer Migrationen), Listen to the Other – disEmbodied Voices – Hybridized Techno (Dem Anderen zuhören – entkörperte Stimmen – hybridisierter Techno), Saout Africa(s), Piratensender etc. Bei der Vorbereitung und Durchführung arbeiten die Teilnehmer_innen zusammen mit Studierenden des Lehrstuhls für Experimentelles Radio der Bauhaus-Universität Weimar unter der Leitung von Prof. Nathalie Singer und Martin Hirsch. Prof. Singer und ihr Team sind auch an einem Lese- und Hörraum beteiligt, der im SAVVY Contemporary in Berlin eingerichtet wird. Besucher_innen können hier live das Entstehen von Radio verfolgen und sich mit ihm auseinandersetzen.
Every Time A Ear di Soun ist ein Gemeinschaftsprojekt der documenta 14 und von Deutschlandfunk Kultur.
Kurator: Bonaventure Soh Bejeng Ndikung
Ko-Kurator: Marcus Gammel
Team: Tina Klatte, Max Netter, Elena Agudio